Verfassung und Realverfassung
Sonntag, 27. März 2022 - Meinungsforschungsinstitute erforschen Meinungen - wie der Name schon sagt. So wird regelmäßig die "Sonntagsfrage" gestellt: "Wenn Sie den Bundeskanzler / die Bundeskanzlerin direkt wählen könnten, wem würden Sie am ehesten Ihre Stimme geben?" Dazu veröffentlicht der "Kurier" heute das Ergebnis der jüngsten OGM-Umfrage: Karl Nehammer 28%, Pamela Rendi-Wagner 22%, Herbert Kickl 14%, Werner Kogler 9%, Beate Meinl-Reisinger 9%.
Abgesehen davon, dass die österreichische Verfassung die direkte Wahl des/der Bundeskanzler/in durch das Volk nicht vorsieht, ist auch die indirekte Wahl des/der Bundeskanzler/in nicht vorgesehen.
Da Meinungsforschungsinstitute aber laufend die völlig irrelevante Meinung zu einer nicht möglichen politischen Wahl "erforschen", hat sich bei der Mehrheit des Volkes die irrige Meinung festgesetzt, dass nach einer Nationalratswahl die stärkste Partei den "Anspruch" auf das Amt des Bundeskanzlers erheben könne und nur Mitglieder etablierter Parteien überhaupt Kanzler/in werden könnten.
Diese Meinung ist zwar im Volk weit verbreitet, weil in der Regel die stärkste Partei nach der Wahl des Nationalrats den Anspruch erhebt, den Bundeskanzler zu benennen, und weil in der Regel alle bisherigen Bundespräsidenten diesen Anspruch widerspruchslos zur Kenntnis genommen haben. Tatsache ist, dass diese Usancen der österreichischen Realverfassung entsprechen, im Bundesverfassungsgesetz (BVG) jedoch keine Grundlage finden. Dort heißt es in Artikel 70:
(1) Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt. Zur Entlassung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung ist ein Vorschlag nicht erforderlich; die Entlassung einzelner Mitglieder der Bundesregierung erfolgt auf Vorschlag des Bundeskanzlers. Die Gegenzeichnung erfolgt, wenn es sich um die Ernennung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung handelt, durch den neubestellten Bundeskanzler; die Entlassung bedarf keiner Gegenzeichnung.
(2) Die Mitglieder der Bundesregierung müssen nicht dem Nationalrat angehören, aber zum Nationalrat wählbar sein.
Das sagt unserer Verfassung. Und so funktioniert unsere Demokratie / die Realverfassung: potenzielle Bundeskanzler/innen werden von Meinungsforschern a priori nur unter den Führern der Parlamentsparteien verortet. Die Medien reportieren die Ergebnisse der einschlägigen Institute kritiklos. Die Parlamentsparteien - selbst wenn sie noch so klein sind - werden umgehend Teil dieser Politik des Ominösen und bei den Menschen festigt sich die Meinung zur fixen Idee, dass diese Politik des Ominösen die wahre Demokratie sei.
Tatsache ist, dass bei der Nationalratswahl die Legislative gewählt wird, nicht die Exekutive. Nochmals zur Erinnerung: Nationalrat = Parlament = Legislative. Regierung = Exekutive (laut B-VG Artikel 19: "Die obersten Organe der Vollziehung sind der Bundespräsident, die Bundesminister und Staatssekretäre sowie die Mitglieder der Landesregierungen.")
Tatsache ist, dass der Bundespräsident den Bundeskanzler und die Regierung ernennt. Die Ernennung der "Expertenregierung" nach dem Misstrauensantrag gegen Koalition von Kurz und Strache war das einzige Beispiel in der Geschichte der zweiten Republik, das zeigt, wie es anders gehen könnte als diese nach allein Wahlen so üblich ist - dass Parteiführer der NATIONALRATS-Wahlen den "Kanzleranspruch" stellen.
Randbemerkung: angesichts der endlosen Zahl an Kompetenz-Artikeln in unserer Verfassung ist es kurios, dass die Modalitäten der Regierungsbildung im BVG nicht genau geregelt sind. Mehr als das, der Begriff "Regierungsbildung" kommt im BVG überhaupt nicht vor. Ein Beispiel dafür, warum unser Kandidat 2022 eine fundamentale Reform unserer Verfassung fordert. Details siehe "Baustelle Parlament. Warum die österreichische Verfassung für das 21. Jahrhundert nicht geeignet ist")