Lorenz Konrad: Die Rückseite des Spiegels

Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, 1973

Wer miterlebt hat, wie sich Wissenschafter vor den Karren der Politiker, Politiker vor den Karren der Pharmakonzerne, Pharmakonzerne vor den Karren der WHO, und die WHO vor den Karren selbstermächtigter Milliardäre (so genannter Philanthropen) spannen ließen, wer miterlebt hat, wie die Macht des Geldes die WHO, die Pharmakonzerne, die Politiker und nicht zuletzt (fast alle) Wissenschafter gleichgeschaltet und viele von ihnen korrumpiert hat, der kann 100 Jahre nach Oswald Spenglers Monumentalwerk nur konstatiert: "Der Untergang des Abendlandes" hat bereits stattgefunden. Der muss, 50 Jahre nach Konrad Lorenz, zur banalen Erkenntnis gelangen: "Die Rückseite des Spiegels" ist schwarz.

Konrad Lorenz 44 77

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"Gewiß, die Lage der Menschheit ist heute gefährlicher, als sie jemals war. Potentiell aber ist unsere Kultur durch die von ihrer Naturwissenschaft geleisteten Reflexion in die Lage versetzt, dem Untergange zu entgehen, dem bisher alle Hochkulturen zum Opfer gefallen sind. Zum erstenmal in der Weltgeschichte ist das so." (304) Es wäre zynisch zu behaupten, die Aussage "die Lage der Menschheit ist heute gefährlicher, als sie jemals war", sei seit 1973 Jahr für Jahr richtiger geworden. Es wäre herablassend, aufgrund dieser Schlussworte dem Naturwisschafter Lorenz Naivität oder gar eine Fehleinschätzung zu unterstellen. Nicht nur, dass es einfach ist - with the wisdom of hindsight - gescheiter als ein Nobelpreisträger zu sein. Es ist auch unredlich, das Resümee eines 300 Seiten umfassenden Grundlagenwerkes, der "Naturgeschichte menschlichen Erkennens", zu beurteilen, ohne vorab die vielen Voraussetzungen und Erkenntnisse von Konrad Lorenz zu würdigen.

Dem optimistischen Schlusswort gehen durchaus pessimistische Prolegomena voraus: "Der fortschreitende Verfall unserer Kultur ist so offensichtlich pathologischer Natur, trägt so offensichtlich die Merkmale einer Erkrankung des menschlichen Geistes, daß sich daraus die kategorische Forderung ergibt, Kultur und Geist mit der Fragestellung der medizinischen Wissenschaft zu untersuchen. [...] Die meisten unter den Geisteskrankheiten und Störungen, die den Weiterbestand unserer Kultur in Frage stellen, betreffen das ethische und das moralische Verhalten des Menschen. "(32)

"Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Wahrheit schließlich siegen wird, die bange Frage ist aber, ob dies noch rechtzeitig geschehen wird." (33)

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Eine redliche Kritik der Abhandlung von Konrad Lorenz muss berücksichtigen, was der Nobelpreisträger in der "Rückseite des Spiegels" über das "Schwingen der kollektiven Meinungsbildung" geschrieben hat. Dieses führe dazu, "daß recht verschiedene Menschen mit erheblicher Stärke der Motivation nach Argumenten für und wider die neue Lehre suchen, so daß auch ihre einstweiligen Gegner dazu beitragen, eine solide Basis für sie zu schaffen und ihren Geltungsbereich genau zu bestimmen. Das Pendeln der Meinungen zwischen Für und Wider wirkt als Absuchmechanismus (scanning-mechanism), und der Punkt, an dem sich die kollektive Meinung schließlich stabilisiert, ist der Wahrheit näher, als ihr der Entdecker selbst im ersten Rausche seines Erfolges gekommen war." (301)

Nach "Logik der Forschung" (von Karl Popper, erschienen 1935) und vielen anderen Erkenntnissen von Wissenschaftstheoretikern seiner Zeit, ist es kein Zeichen der Ahnungslosigkeit, sondern ein Zeichen der Redlichkeit, dass für Lorenz Methoden der politischen Propaganda im Bereich der Wissenschaften undenkbar waren. Egal ob er Verifikation oder Falsifikation als wissenschaftliche Methode bevorzugt - das "Pendeln der Meinungen zwischen Für und Wider" spiegelt sein Verständnis von Wissenschaft und bringt die undogmatische Haltung eines an Erfahrung reichen, sowie für Ideen und Kritik offenen Forschers zum Ausdruck!

Paul Feyerabends "Wider den Methodenzwang" und seine Unterscheidung zwischen Methoden der Forschung und Methoden (Machtmittel) zur Durchsetzung von wissenschaftlichen Theorien und Meinungen, ist erst 1975, zwei Jahre nach "Die Rückseite des Spiegels" erschienen. (ethos.at will dazu beitragen, dass das Hauptwerk von Paul Feyerabend und das Hauptwerk von Konrad Lorenz nicht in Vergessenheit geraten.)

"Grundpfeiler der wissenschaftlichen Methode ist das Postulat der Objektivität der Natur", zitiert Konrad Lorenz einleitend das Buch "Zufall und Notwendigkeit" von Jacques Monod. Mit den Begriffen Monods ist das Weltbild von Lorenz, das er selbst als "hypothetischen Realismus" bezeichnet, vollständig beschrieben: Sowohl das Objekt der Erkenntnis, als auch das zu erkennende Subjekt sind Teil der objektiv, real existierenden Natur. Die Methode der Objektivation (wissenschaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit = Realität) folgt den gleichen evolutionären Prinzipien folgt wie die Instinkte der niedrigsten Lebewesen, nämlich: Zufall und Notwendigkeit.

Die Schlüsselbegriffe der "Naturgeschichte des Erkennens" sind Evolution und Arterhaltung, Zufall und Notwendigkeit, stammesgeschichtliches (instinktives) und kulturgeschichtliches (gelerntes) Verhalten, die in das Bekenntnis münden: "So habe ich wie gesagt die Notwendigkeit der 'Erkenntnistheorie als Apparatekunde' früh erkannt, zumal es in der Verhaltensforschung noch notwendiger als in andere Zweigen der Biologie ist, die Leistungsbeschränkungen des eigenen Wahrnehmungsapparates zu kennen." (31f)

Nach Darwin müssen, nach Lorenz dürfen wir voraussetzen: die Evolution dient der Arterhaltung, der Mechanismus der Arterhaltung ist die Selektion, Prinzipien der Selektion sind Zufall und Notwendigkeit (beide gleichzeitig, nicht entweder oder!). Die Evolution wirkt von den niedrigsten bis zu den höchsten Lebewesen, vom Pantoffeltierchen bis zum Menschen, mit dem immer gleichen Mechanismus auf Basis der immer gleichen Prinzipien. Die Erkenntnis des Pantoffeltierchens, dass es einem Gegenstand (Widerstand) links oder rechts ausweichen kann, unterscheidet sich von der Erkenntnis eines Menschen, dass er als Lenker eines Autos links oder rechts abbiegen kann, nur graduell, nicht prinzipiell. Beide Lebewesen verfügen über einen Wahrnehmungsapparat bzw. Erkenntnisapparat.

Die wachsende Komplexität der Wahrnehmungsapparate von Pantoffeltierchen, Insekten, Tieren und Menschen bezeugt allerdings nicht nur quantitative Unterschiede (etwa in der Anzahl der Nervenzellen und ihrer Synopsen), sondern auch qualitative Unterschiede (aber eben keine prinzipiellen Unterschiede). Wenn Konrad Lorenz zwischen niederen und höheren Lebewesen unterscheidet, so meint er explizit qualitative Unterschiede. Die qualitative Weiterentwicklung im Rahmen der Evolution erklärt Lorenz mit dem Begriff der "Fulguration".

Lorenz verweist auf die Unzulänglichkeit des Vokabulars: "Wörter Entwicklung, Development, Evolution [...] versagen geradezu kläglich, wenn man versucht, dem Wesen des organischen Schöpfungsvorganges gerecht zu werden, das eben darin besteht, daß immer wieder etwas völlig Neues in Existenz tritt, etwas das vorher einfach nicht da war. [...] Theistische Philosophen und Mystiker des Mittelalters haben für den Akt einer Neuschöpfung den Ausdruck 'Fulguratio', Blitzstrahl, geprägt. Sie wollten damit zweifellos die unmittelbare Einwirkung von oben, von Gott her, zum Ausdruck bringen." (47f)

Lorenz meint, durch einen "etymologischen Zufall" trifft dieser Terminus "den Vorgang des In-Existenz-Tretens von etwas vorher nicht Dagewesenem viel besser als alle die vorerwähnten Ausdrücke. Der Donnerkeil des Zeus ist für uns Naturforscher ein elektrischer Funke wie jeder andere, und wenn wir an einer unerwarteten Stelle eines Systems einen Funken aufblitzen sehen, so ist das erste, woran wir denken, ein Kurzschluß, eine neue Verbindung." (49) Weiters erklärt Lorenz, dass neue Systemeigenschaften, nicht bloß die Summe der Eigenschaften der Untersysteme seien, sondern etwas qualitativ völlig Neues, und bestätigt damit den Satz der Gestaltpsychologen: "Das ganze ist mehr als die Summe seiner Teile".

"Kybernetik und Systemtheorie haben die plötzliche Entstehung neuer Systemeigenschaften und neuer Funktionen von dem Odium befreit, Wunder zu sein. Es ist durchaus nichts Übernatürliches, wenn eine lineare Ursachenkette sich zu einem Kreise schließt und wenn damit ein System in Existenz tritt, das sich in seinen Funktionseigenschaften keineswegs nur graduell, sondern grundsätzlich von denen aller vorherigen unterscheidet. Eine 'Fulguratio' dieser Art kann im wahrsten Sinne des Wortes epochemachend wirken, wenn sie in der Stammesgeschichte als historisch einmaliges Ereignis auftritt." (50)

Lorenz, der sein Buch zurückhaltend als "Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens" bezeichnet (also nicht "die" Naturgeschichte als "endgültige" wissenschaftliche Wahrheit betrachtet), relativiert vier Seiten später:

"Obwohl wir, wie immer wieder betont werden muß, als Naturforscher nicht an Wunder, das heißt an Durchbrechungen der allgegenwärtigen Naturgesetze glauben, sind wir uns doch völlig darüber im klaren, daß es uns nie gelingen kann, die Entstehung des höheren lebendigen Wesens aus seinen niedrigeren Vorfahren restlos zu erklären. Das höhere Lebewesen ist, wie vor allem Michael Polanyi betont hat, nicht auf seine einfacheren Vorfahren 'reduzierbar', und noch weniger kann das lebende System auf anorganische Materie und die in ihr sich abspielenden Vorgänge 'reduziert' werden. Dasselbe gilt aber ganz ebenso für die vom Menschen gemachten Maschinen, die eben deshalb eine gute Illustration für das Wesen der hier gemeinten Nicht-Reduzierbarkeit abgeben." (54)

Von Menschen gemachte Maschinen als lineare Fortsetzung der Evolution zu betrachten, wirft die Frage auf, ob einer der besten Kenner der organischen Welt ein mechanistisches Weltbild vertritt und ob ein mechanistisches Weltbild mit den Prinzipien der Evolution vereinbar ist. (Definition "mechanistisches Weltbild" siehe de-academic.com)

Es ist naheliegend, aber nicht eindeutig, dass Lorenz ein mechanistisches Weltbild vertritt. Würde man Weltbilder auf die primitiven Gegensätze Mechanizismus vs Vitalismus (zugespitzt Kreationismus), Monismus vs Dualismus, Materialismus vs Idealismus reduzieren, so würde man Lorenz nicht Unrecht tun, seine Weltanschauung als mechanistisch-materialistischen Monismus zu bezeichnen.

Sein Bekenntnis zum "hypothetischen Realismus" ist dazu kein Widerspruch. Im Widerspruch zu einem dogmatischen Materialismus steht die Erklärung, es könne nicht "das lebende System auf anorganische Materie und die in ihr sich abspielenden Vorgänge 'reduziert' werden", d.h. die Materie, oder philosophisch überhöht "das Materielle" kann nicht allein die Ursache für das sein, was den Menschen vom Tier unterscheidet: Geist, (Ich-)Bewusstsein, Vernunft, Wille und nicht zuletzt Schöpfungskraft (nicht nur in Musik, Literatur und Kunst, sondern auch in den Wissenschaften) sind einzigartige Eigenschaften des Menschen, deren Entstehen laut Lorenz immer besser, aber niemals "restlos zu erklären" ist.

Immerhin verwendet Lorenz den Begriff "Schöpfung" mehrere Male, spricht sogar vom "Schöpfungswunder" im Zusammenhang mit dem Erlernen der Sprache: "Dieses Schöpfungswunder erfüllt den Verständigen mit Ehrfurcht und mit Rührung, sooft er Gelegenheit hat, es an einem Menschenkinde zu beobachten." (288)

Auch die folgende Formulierung verweist auf eine offene Denkungsart von Konrad Lorenz, der idealistische, ja sogar religiöse Vorstellungen in seine Betrachtungen einbezieht: "Ich hoffe auch dem der Biologie und der Stammesgeschichte nicht wohlgesonnenen Anthropologen philosophischer Prägung zeigen zu können, wie einzigartig sich die spezifisch menschlichen Eigenschaften und Leistungen des Menschen gerade dann darstellen, wenn man sie mit den Augen des Naturforschers als Erzeugnis eines natürlichen Schöpfungsvorganges betrachtet. Diesem Ziel dient dieses Buch." (15)

Intensiv beschäftigt sich Lorenz mit Nicolai Hartmanns Lehre von den Schichten des realen Seins: "In der realen Welt, in der wir leben, sagt Nicolai Hartmann, finden wir Schichten vor, deren jede besondere Seinskategorien oder Gruppen von Seinskategorien hat, durch deren Besitz oder Nichtbesitz sie sich von anderen absetzt. [...] Seinszusammenhänge greifen nun immer in einseitiger Weise über die Einschnitte hinweg, durch die sich die vier großen Schichten des realen Seins - das Anorganische, das Organische, das Seelische und das Geistige - voneinander absetzen. Die Seinsprinzipien und Naturgesetze, die im Anorganischen gelten, obwalten uneingeschränkt auch in den höheren Schichten. Hartmann schreibt: 'So erhebt sich die organische Natur über der anorganischen. Sie schwebt nicht frei für sich, sondern setzt die Verhältnisse und Gesetzlichkeiten des Materiellen voraus; sie ruht auf ihnen auf, wenn schon diese keineswegs ausreichen, das Lebendige auszumachen. Ebenso bedingt ist seelisches Sein und Bewußtsein durch den tragenden Organismus, an und mit dem allein es in der Welt auftritt. Und nicht anders bleiben die großen geschichtlichen Erscheinungen des Geisteslebens an das Seelenleben der Individuen gebunden, die seine jeweiligen Träger sind. Von Schicht zu Schicht, über jeden Einschnitt hinweg, finden wir dasselbe Verhältnis des Aufruhens, der Bedingtheit >von unten< her, und doch zugleich der Selbständigkeit des Aufruhenden in seiner Eigengeformtheit und Eigengesetzlichkeit.'" (57f)

Weiters bestätigt Konrad Lorenz: "Die Schichtenfolge der großen Hartmannschen Seinskategorien stimmt schlicht und einfach mit der Reihenfolge ihrer erdgeschichtlichen Entstehung überein. Anorganisches war auf Erden sehr lange vor dem Organischen vorhanden, und im Verlauf der Stammesgeschichte tauchten erst spät Zentralnervensysteme auf, denen man ein subjektives Erleben, eine 'Seele' zuschreiben möchte. Das Geistige schließlich ist erst in der allerjüngsten Phase der Schöpfung auf den Plan getreten. Hartmann sagt ausdrücklich, daß die kategorialen Unterschiede zwischen niedrigeren und höheren Schichten sich keineswegs auf jene großen Einschnitte beschränken, die zwischen Anorganischem und Organischem, zwischen Organischem und Beseeltem und schließlich zwischen diesem und dem Geistigen bestehen. Er sagt: 'Die höheren Gebilde, aus denen die Welt besteht, sind ähnlich geschichtet wie die Welt.' Für uns bedeutet dies, daß jeder Schritt der Stammesgeschichte, der von einem Wesen niedrigerer zu einem solchen höherer Organisationsstufe führt, von prinzipiell gleicher Art ist wie die Entstehung des Lebens selbst." (59)

Mechanizismus/Materialismus/Monismus ist für Lorenz gleichbedeutend mit hypothetischer Realismus, den er am besten mit folgender Einsicht umschreibt: "Die Zahl der rein geschichtlichen Ursachen, die man kennen müßte, um das So-und-nicht-anders-Sein eines Organismus restlos zu erklären, ist, wenn auch nicht unendlich, so doch groß genug, um es dem Menschen grundsätzlich unmöglich zu machen, sämtliche Ursachenketten zu verfolgen, selbst wenn sie ein Ende hätten. Es verbleibt also immer ein, wie Max Hartmann sagt, irrationaler oder nicht rationalisierbarer Rest. Daß die Evolution in der alten Welt Eichbäume und Menschen, in Australien aber Eukalyptusbäume und Känguruhs produziert hat, ist von eben diesen nicht mehr auffindbaren Verursachungen bedingt worden, die wir gemeinhin mit dem resignierenden Terminus 'Zufall' zu bezeichnen pflegen." (54)

"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Das Zitat aus dem Tractatus von Ludwig Wittgenstein hat Lorenz höchst wahrscheinlich nicht gekannt, er hätte es aber sicher unterschrieben. Der Verhaltnesforscher hat ebenfalls auf die Grenzen der Sprache und ihrer Begriffe verwiesen, insbesondere beim Schlüsselbegriff der Biologie und Verhaltensforschung, der Evolution. Wenn Zufall UND Notwendigkeit (in unabdingbarer Einheit) einen evolutionären Sprung auslösen - zwei Begriffe, die einander in der Alltagssprache ausschließen - dann müsste man, um das Unsagbare (die Einheit des Gegensatzes) denkbar zu machen, einen Neologismus einführen. "Zuwendigkeit" könnte diese Wortschöpfung lauten, oder aber "Zuwendung", ein Terminus, der dem religiösen Begriff der Schöpfung sehr nahe kommt. Unpassend wäre wohl "Notfall" als Fusion der Begriffe Notwendigkeit und Zufall.

Zwischenbilanz:

Konrad Lorenz grenzt sich explizit vom Idealismus und den skurrilen Abwandlungen von Kants Konzeptualismus durch die Solipsisten ab. Doch der "Geist" Immanuel Kants - wenn nicht persönlich, so zumindest als "Geist der Aufklärung" - schwebt über dem Werk des Verhaltensforschers. Auch wenn Kant im Literaturverzeichnis der "Rückseite" nicht vorkommt, so bringt Lorenz ein tiefes Verständnis der Philosophie Kants mit, das man heute von Naturwissenschaftern nicht mehr erwarten kann (oder gar nicht mehr erwarten darf - in Zeiten unmündiger und unfreier Wissenschafter). 1941 publizierte Lorenz den Artikel "Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie" (in: Blätter für Deutsche Philosophie).

Nicht wirklich bedeutsam, aber mehr als eine Fußnote der Geschichte, ist die Tatsache, dass Lorenz nach Arnold Gehlen ab August 1940 als letzter deutscher Professor auf den renommierten "Kant-Lehrstuhl" in Königsberg berufen wurde. Auf diesem Stuhl konnte er sich aber nicht lange ausruhen, denn im Oktober 1941 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, zunächst nach Polen und im April 1944 in die Sowjetunion, wo er in Kriegsgefangenschaft geriet. Erst 1948 konnte Konrad Lorenz nach Österreich zurückkehren.

Eine Brücke zwischen Kant und Lorenz ist leicht zu bauen. Die bisherigen Zitate aus der "Rückseite" und die viel zitierte Einleitung zur "Kritik der reinen Vernunft" sind aus dem gleichen Geiste geboren: "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen." Es ist dies

1. der Geist der Wissenschaft als kritische Methode (Kant: Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können; Lorenz: Das Pendeln der Meinungen zwischen Für und Wider als Absuchmechanismus).

2. der Geist der Aufklärung, womit nicht nur der Ausgang aus unser selbstverschuldeten Unmündigkeit gemeint ist, sondern auch die Anerkennung der Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit.

Mit den Worten von Konrad Lorenz: "Die naturwissenschaftliche Erforschung des Wirkungsgefüges, das die menschliche Sozietät und ihre Geistigkeit trägt, hat eine schier unabsehbar große Aufgabe vor sich. Die menschliche Sozietät ist das komplexeste aller lebenden Systeme auf unserer Erde. Unsere wissenschaftliche Erkenntnis hat kaum die Oberfläche ihrer komplexen Ganzheit angekratzt, unser Wissen steht zu unserem Unwissen in einer Relation, deren Ausdruck astronomische Ziffern erfordern würde. Dennoch aber glaube ich, daß der Mensch als Spezies an einer Wende der Zeiten steht, daß eben jetzt potentiell die Möglichkeit zu ungeahnter Höherentwicklung der Menschheit besteht." (304)

Angesichts des katastrophalen Zustandes der Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Allgemeinen, sowie der Wissenschaften im Besonderen, wäre es ein großer Erfolg, mit diesem kleinen Artikel zur Wiederentdeckung der Aufklärung beizutragen und zur Lektüre von Kant und Lorenz zu motivieren, damit wir wieder beginnen können, ernsthaft über "die Möglichkeit zu ungeahnter Höherentwicklung der Menschheit" nachzudenken.

Über "die Möglichkeit zu ungeahnter Höherentwicklung der Menschheit" SIEHE AUCH: Kommentare auf fischundfleisch