(9. Februar 2024) "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus." So lautet der Artikel 1 der Ö Verfassung B-VG. Vielleicht werden wir noch Zeiten erleben, in denen "Artikel 1" zum Gruß aller Demokraten unseres Landes wird, so wie anno dazumal "Freundschaft" als Gruß unter Genossen linker Parteien.
Das würde allerdings voraussetzen, dass sich die große Mehrheit unseres Landes mit ihrer Verfassung identifiziert, was mit der bestehenden Verfassung bei einem Volumen von 600 Seiten inklusive Sachregister ganz und gar unmöglich ist. Ein breit angelegter Verfassungskonvent, an dem sich alle Menschen des Landes beteiligen können, und am Ende eine schlanke Verfassung mit 50 Seiten steht, wäre die Voraussetzung für eine echte Demokratie, in der "Artikel 1" zum täglichen Gruß wird. Aber das ist ein anderes Thema.
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Hier geht es um den Nationalrat und die Nationalratswahl. Was steht in der bestehenden Verfassung (Bundes-Verassungsgesetz B-VG) über die NR-Wahlen und was passiert tatsächlich? Wofür ist der Nationalrat laut B-VG zuständig und was macht er tatsächlich?
Es gibt drei große Legenden über Österreichs NR-Wahl:
1. Das Volk wählt bei NR-Wahl die Bundesregierung. (Typisch dafür die Fragestellung von Dieter Knoflach (25.9.24 auf FuF): "Wer soll das Recht haben, zu regieren?"
2. Die stärkste Partei hat den Anspruch auf das Amt des Bundeskanzlers
3. BP muss den Kanzler absegnen, den die stärkste Partei oder eine Parteien-Koalition vorschlägt.
Aktuell kursiert in politisch engagierten Gruppen die Kanzler-Kritik: Nehammer wurde gar nicht gewählt! Man muss dazu sagen: in Österreich wurde noch nie ein Kanzler gewählt. Mehr noch: trotz ihres Volumens (u.a. hunderte Kompetenzbestimmungen, wer für Gesetzgebung und wer für Durchführung oder beides zuständig ist) findet sich in unserer Verfassung nicht ein einziger Artikel, ja nicht einmal ein Absatz zur Klärung der Frage, wie, nach welchen Modalitäten eine Bundes-Regierung zu bilden ist. Das Stichwort "Regierungsbildung" existiert nicht im Sachregister des BVG (Ausgabe 2014, Hg. Grabenwarter/Ohms). Lediglich der Begriff "Regierungsvorlagen" scheint auf (Details siehe Artikel 41). Das Thema "Religion" scheint im Vergleich dazu wesentlich wichtiger zu sein, es wird in 18 Artikeln geregelt und behandelt laut Sachregister neben "Religion" allgemein noch insbesondere "Religionsbekenntnisse", "Religionsfreiheit", "Religionsausübung", und "Religionsunterricht".
Wenn nach der nächsten NR-Wahl voraussichtlich Herbert Kickl nach den gängigen politischen Ritualen unseres Landes "den Anspruch auf das Amt des Kanzlers erheben wird", so macht er das, weil es Gewinner von Nationalratswahlen vor ihm auch so gemacht haben. Doch in der Verfassung gibt es dafür keine rechtliche Grundlage. Es gibt allerdings in der Verfassung auch kein Verbot für eine derartige Inszenierung.
Die Lektüre der Verfassung wirft bei kritischer, philosophischer Betrachtung folgende Fragen auf:
- Was steht in der Verfassung und warum?
- Welche Artikel wurden wann ergänzt und warum?
- Was steht nicht in der Verfassung und warum nicht?
Warum werden diese für einen autonomen Denker und souveränen Bürger dieses Landes selbstverständlichen Fragen weder von Verfassungsjuristen, noch von Rechtsdogmatikern beantwortet? Ganz einfach: weil diese Fragen von den Experten nicht gestellt werden.
In dieser rechtsphilosophischen Analyse geht es um eine zentrale Frage: Wird in der politischen Praxis der Artikel 1 - das Recht geht vom Volk aus - umgesetzt? Mein Urteil: Nein. Doch diese einfache und eindeutige Antwort allein reicht nicht aus, um die rechtlichen Grundlagen unserer österreichischen Demokratie und die Art und Weise ihrer parteipolitischen Umsetzung zu verstehen. Die Verfassung besteht natürlich nicht nur aus dem Artikel 1. Das komplette 2. Hauptstück von Artikel 24 bis Artikel 59b behandelt die Gesetzgebung des Bundes, betrifft also direkt den Nationalrat, sein Zustandekommen, seine Zuständigkeiten (Kompetenzen) und seine Organe.
Die erste Erwähnung der Wahlen im B-VG erfolgt bereits im Artikel 6. Hier der Artikel in voller Länge um einen Eindruck über Inhalt und Form unserer Verfassung zu vermitteln:
B-VG Artikel 6. (1) Für die Republik Österreich besteht eine einheitliche Staatsbürgerschaft.
(2) Jene Staatsbürger, die in einem Land den Hauptwohnsitz haben, sind dessen Landesbürger; die Landesgesetze können jedoch vorsehen, dass auch Staatsbürger, die in einem Land einen Wohnsitz, nicht aber den Hauptwohnsitz haben, dessen Landesbürger sind. [Anmerkung HTH: Das ist Verfassungsgesetzgebung für alle Eventualitäten. Keine klaren Aussagen wie in Artikel 1, sondern völlig überflüssige Erwägungen über mögliche Ausnahmen; die Ausnahmen und Eventualitäten werden so zur Regel der Verfassung.]
(3) Der Hauptwohnsitz einer Person ist dort begründet, wo sie sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, hier den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen zu schaffen; trifft diese sachliche Voraussetzung bei einer Gesamtbetrachtung der beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbeziehungen einer Person auf mehrere Wohnsitze zu, so hat sie jenen als Hauptwohnsitz zu bezeichnen, zu dem sie das überwiegende Naheverhältnis hat.
(4) In den Angelegenheiten der Durchführung der Wahl des Bundespräsidenten, von Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern und zum Europäischen Parlament, der Wahl des Bürgermeisters durch die zur Wahl des Gemeinderates Berechtigten, in den Angelegenheiten der Durchführung von Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragungen auf Grund der Bundesverfassung oder einer Landesverfassung sowie in den Angelegenheiten der unmittelbaren Mitwirkung der zum Gemeinderat Wahlberechtigten an der Besorgung der Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde gelten für die Dauer einer Festnahme oder Anhaltung im Sinne des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. Nr. 684/1988, die letzten, außerhalb des Ortes einer Festnahme oder Anhaltung gelegenen Wohnsitze und der letzte, außerhalb des Ortes einer Festnahme oder Anhaltung gelegene Hauptwohnsitz vor der Festnahme oder Anhaltung als Wohnsitze beziehungsweise Hauptwohnsitz der festgenommenen oder angehaltenen Person.
Kurzfassung der wesentlichen Aussage des Absatzes (4):
In den Angelegenheiten der Durchführung [aller] Wahl[en] ...
gelten für die Dauer einer Festnahme oder Anhaltung ...
die letzten Wohnsitze als ... Hauptwohnsitz der festgenommenen oder angehaltenen Person.
Hier kommt sehr gut das Wesen unserer Verfassung zum Ausdruck: das B-VG beschäftigt sich nur selten mit Grundsätzen, sondern verliert sich in Details, Eventualitäten und Randthemen. Artikel 6 Absatz (4) betrifft derzeit rund 10.000 Menschen, von denen etwa 5.000 Ö. Staatsbürger und somit wahlberechtigt sind. Dagegen wird die wachsende Zahl demenzkranker Menschen nicht in der Verfassung und in keiner Wahlordnung des Landes erwähnt. Die Frage ist nicht nebensächlich: Wie lange kann ein Demenzkranker noch seinen eigenen Willen bei einer Wahl zum Ausdruck bringen? Da geht es um derzeit 130.000 Menschen (Tendenz steigend!) mit Potenzial für unglaubliche Manipulationen.
Wenn man über die Ö. Verfassung redet, muss man immer wieder die Frage stellen: was ist vom vielgerühmten Autor der Verfassung, Hans Kelsen, noch übrig, und was ist davon noch brauchbar? Der Absatz 4 in der zitierten Fassung stammt aus dem Jahr 2013 (Regierung Faymann I). Der Absatz 4 in der ursprünglichen Fassung 1929 hatte einen völlig anderen Inhalt: "Ein Ausländer erwirbt durch Antritt eines öffentlichen Lehramtes an einer inländischen Hochschule die Landesbürgerschaft jenes Landes, in welchem die Lehranstalt gelegen ist, und gleichzeitig das Heimatrecht an seinem Amtsorte."
Anmerkung am Rande: auf der Seite verfassungen.at findet man die Originalfassung des B-VG aus dem Jahr 1929. Die Originalversion ist in schwarzer Schrift, die Ergänzungen und Änderungen in roter Schrift. Der rote Teil beträgt rund drei Viertel des Textes. Die gesamte Verfassung in der aktuellen Fassung ist auf den Bundesservern unter ris.bka.gv.at abrufbar; und der komplette Inhalt des Zweiten Hauptstücks in einem eigenen Artikel auf ethos.at
Nun zum Zweiten Hauptstück von Artikel 24 bis Artikel 59b über die Gesetzgebung des Bundes. Es umfasst sechs Kapitel (vollständig auf ethos.at).
A. Nationalrat
B. Bundesrat
C. Bundesversammlung
D. Der Weg der Bundesgesetzgebung
E. Mitwirkung des Nationalrates und des Bundesrates an der Vollziehung des Bundes
F. Stellung der Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates
Hier eine detaillierte rechtsphilosophische Analyse und Kritik von A, D, E und F.
A. Nationalrat
Artikel 24 Die Gesetzgebung des Bundes übt der Nationalrat gemeinsam mit dem Bundesrat aus. [Anmerkung HTH: einer der wenigen Artikel, der eine klare und eindeutige Aussage trifft. Allerdings wird diese Klarheit durch den Artikel 41 wieder verwässert.]
Artikel 25. (1) Der Sitz des Nationalrates ist die Bundeshauptstadt Wien.
[Anmerkung HTH: Gut, dass das auch einmal gesagt wurde. Kann aber bei Bedarf geändert werden, wie in Absatz 2 steht.]
Artikel 26. (1) Der Nationalrat wird vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der Männer und Frauen, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt.
[Sarkastische Anmerkung HTH: wie lange wird es dauern, bis die LGBTQ-Community auf die Barrikaden steigt, weil bislang nur Männer und Frauen wahlberechtigt sind. Adamovich/Funk ist aufgefallen, dass die Forderung nach "Unmittelbarkeit" mit dem Listenwahlrecht kollidieren könnte und erklären: "Der Grundsatz der Unmittelbarkeit des Wahlrechts besagt, daß die Mandatare von den Wahlberechtigten in direkter Wahl und nicht auf dem Umweg über (gewählte) Wahlmänner oder durch ähnliche Institutionen bestimmt werden. Die Stimmabgabe für eine Parteiliste (Listenwahlrecht) ist mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit vereinbar, wenn die Bewerber auf Grund dieser Liste feststehen und dem Wähler bei der Wahl bekannt sind. (Österreichisches Verfassungsrecht, S 194)]
(2) Das Bundesgebiet wird in räumlich geschlossene Wahlkreise geteilt, ...
(3) Der Wahltag muss ein Sonntag oder ein gesetzlicher Feiertag sein.
(4) Wählbar sind die zum Nationalrat Wahlberechtigten, die am Stichtag die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen und am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet haben.
(5) Ein Ausschluss vom Wahlrecht oder von der Wählbarkeit kann, auch in jeweils unterschiedlichem Umfang, nur durch Bundesgesetz als Folge rechtskräftiger gerichtlicher Verurteilung vorgesehen werden.
[Anmerkung HTH: Hier muss die Frage erlaubt sein, warum im Artikel 6 Absatz 4 mit der größtmöglichen Umständlichkeit geklärt wird, welchem Ort die Stimmen von Häftlingen zuzurechnen sind, nur um hier die nicht weiter definierte Möglichkeit in den Raum zu stellen, dass verurteilte Häftlinge vom Wahlrecht und der Wählbarkeit ausgeschlossen werden können! Können, nicht müssen! Das "Eventualitätsprinzip". Grundsätzlich gilt: Kann-Bestimmungen ermöglichen Willkür in der Auslegung. Wenn man etwas kann, oder auch nicht, dann würde eine reife Gesellschaft dafür gar kein Gesetz brauchen und (im Idealfall) gemäß ethischer Prinzipien handeln.]
Der Artikel 26a, eine Verfassungsergänzung aus dem Jahr 2007, regelt die Frage von Wahl-Beisitzern und die Führung der Wählerevidenz.
[Anmerkung HTH: Wir haben für jede Wahl ein eigenes Wahlgesetz, allein die NR-Wahlordung umfasst 129 Paragrafen, in denen diese Fragen natürlich detailliert behandelt werden. Warum also dieser Zusatz in der Verfassung? Eine philosophische Antwort auf die Frage WARUM setzt immer die Verwendung von Vernunft voraus. Doch ein Vernunfts-Grund für diesen Zusatzartikel ist beim besten Willen nicht auffindbar. Man kann bloß vermuten, dass sich der damalige Kanzler Gusenbauer mit diesem Zusatz sein persönliches Verfassungsdenkmal setzen wollte.]
Artikel 27. (1) Die Gesetzgebungsperiode des Nationalrates dauert fünf Jahre, ...
Artikel 28. (1) Der Bundespräsident beruft den Nationalrat in jedem Jahr zu einer ordentlichen Tagung ein, die nicht vor dem 15. September beginnen und nicht länger als bis zum 15.Juli des folgenden Jahres währen soll.
[Anmerkung HTH: Unter "Tagung" versteht der Gesetzgeber demnach den Zeitraum von 10 Monaten. Warum wählt er dafür nicht den Begriff "Gesetzgebungsperiode"? Die einzelnen Tagungs-Tage heißen laut Verfassung "Sitzungen".)
Artikel 29. (1) Der Bundespräsident kann den Nationalrat auflösen, er darf dies jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass verfügen.
[Anmerkung HTH: Dies ist der Original-Wortlaut der Kelsen-Verfassung. Man darf davon ausgehen, dass der Gesetzgeber den Unterschied zwischen Anlass und Ursache kennt. So verwundert es, dass bereits ein Anlass reicht, um den Nationalrat aufzulösen und der Präsident nicht die geringste Verpflichtung hat, die Ursache so einer Entscheidung fundiert zu begründen. Dies ist genau genommen ein verfassungsmäßiger Freibrief für die Willkür-Herrschaft des Bundespräsidenten. Angesichts der Auflösung des Parlaments im Jahre 1933, die der damalige Präsident Wilhelm Miklas zwar nicht veranlasste, aber duldete, muss man sich fragen, warum die politische Brisanz dieser Bestimmung noch keinem Parteiführer dieses Landes und keinem Verfassungsjuristen aufgefallen ist.]
Artikel 30. (1) Der Nationalrat wählt aus seiner Mitte den Präsidenten, den zweiten und dritten Präsidenten. ...
.... (5) Der Präsident des Nationalrates kann den parlamentarischen Klubs zur Erfüllung parlamentarischer Aufgaben Bedienstete der Parlamentsdirektion zur Dienstleistung zuweisen.
[Anmerkung HTH: Dieser Absatz ist insofern interessant, da der Präsident etwas "kann", aber nicht muss. (Kann-Bestimmung / Eventualitätsprinzip!) Das impliziert, dass der NR-Präsident in einem Fall (nämlich für den Klub seiner Partei) etwas tun könnte, und in anderen Fällen (den Klubs der Opposition) nicht. Wieder erhält ein Präsident unseres Landes Mittel der Willkürherrschaft von der Verfassung legitimiert! Darüber hinaus muss die Frage erlaubt sein, warum Klubs, die jährlich 26,8 Millionen Euro (Stand 2023) an Klubförderungen erhalten, noch Personal von der Parlamentsdirektion bekommen sollen. Und: was hat so eine Regelung, die, wenn schon, in der Geschäftsordnung des Parlaments stehen könnte, in der Verfassung verloren? Am Rande bemerkt: die Klubförderung ist nur ein Bruchteil der gesamten Parteienförderung von inflationsgesicherten 237,4 Millionen Euro. Alleinige Profiteure dieser Regelung sind alle in den Landtagen und im Nationalrat vertretenen Parteien. Mehr als 1.000 beim BMI registrierte Parteien haben auf diese Mittel kein Anrecht. SIEHE AUCH: Machtmissbrauch durch Parteienförderung]
Artikel 30a. Der besondere Schutz und die Geheimhaltung von Informationen im Bereich des Nationalrates und des Bundesrates werden auf Grund eines besonderen Bundesgesetzes geregelt. Das Bundesgesetz über die Informationsordnung des Nationalrates und des Bundesrates kann vom Nationalrat nur in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen werden. Es bedarf überdies der in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen zu erteilenden Zustimmung des Bundesrates.
[Anmerkung HTH: Dieser Zusatzartikel fehlt noch in der von Grabenwarter/Ohms kommentierten Ausgabe 2014. Ein Beispiel dafür, wie die Verfassung für Parteizwecke auf teilweise skurrile Art und Weise zweckentfremdet wird. Der Gesetzgeber nimmt ein neues Gesetz ausnahmsweise nicht in die Verfassung, schreibt hier aber vor, dass, wenn dieses beschlossen werden sollte, die Abstimmungs-Regeln von Verfassungsgesetzen vorgesehen sind. By the way: allgemein bekannt ist, dass Verfassungsgesetze eine Zweidrittelmehrheit benötigen. Weitgehend unbekannt ist, dass dafür nur die Anwesenheit von lediglich - laut Verfassung "mindestens der Hälfte der Mitglieder" des Nationalrats erforderlich ist.]
Artikel 31. Zu einem Beschluss des Nationalrates ist, soweit in diesem Gesetz nicht anderes bestimmt oder im Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates für einzelne Angelegenheiten nicht anderes festgelegt ist, die Anwesenheit von mindestens einem Drittel der Mitglieder und die unbedingte Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich.
[Anmerkung HTH: Dass die Verfassung für Beschlüsse (also die Abstimmung über einfache Gesetze) nur die minimalistische Forderung stellt, dass "mindestens ein Drittel der Mitglieder" anwesend sein muss, ist ein demokratiepolitischer Skandal. Solange die repräsentative Demokratie verfassungsgemäß gilt, ist es ein ständiger Affront gegen die Wähler, wenn deren Repräsentant die meiste Zeit der "Tagung" abwesend sind. Dass der Nationalrat die meiste Zeit der "Tagung" mehr als halb leer ist, müsste in jeder repräsentativen Demokratie verboten werden.]
Artikel 32. (1) Die Sitzungen des Nationalrates sind öffentlich.
(2) Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen, wenn es vom Vorsitzenden oder von der im Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates festgesetzten Anzahl der Mitglieder verlangt und vom Nationalrat nach Entfernung der Zuhörer beschlossen wird.
[Anmerkung HTH: Wie üblich: die klare Aussage in Absatz 1 wird konterkariert durch Absatz 2]
Artikel 33. Wahrheitsgetreue Berichte über die Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Nationalrates und seiner Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortung frei.
[Anmerkung HTH: Philosophisch betrachtet ist die Verwendung des Begriffs "Verantwortung" an der Stelle deplatziert. So wie der Urheber eines Textes immer der Urheber bleibt, so bleibt er für jeden Text auch immer verantwortlich. Egal ob er der Wahrheit entspricht, oder gelogen ist, egal ob er rechtlich dafür belangt werden kann oder nicht. Das ist hier wohl gemeint: Berichte können rechtlich nicht belangt werden. Warum allerdings überhaupt jemand auf den Gedanken kommen sollte, gegen wahrheitsgetreue Berichte rechtliche Schritte einzuleiten, diese Frage hat offenbar noch niemand in diesem Land gestellt. Sonderbarer Weise fehlt hier ein Absatz 2, der klären würde, welcher Verantwortung oder "Verantwortungsfreiheit" nicht wahrheitsgetreue Berichte unterliegen.]
D. Der Weg der Bundesgesetzgebung
Wenn das Recht vom Volk ausgeht - wo kehrt es dann ein? Bei den Parteien, und zwar einzig und allein bei den Parlamentsparteien, die daraus den Anspruch ableiten, die einzig legitimen Vertreter unserer Demokratie zu sein.
Damit zurück zum 2. Hauptstück, Kapitel D, beginnend mit Artikel 41, der genau genommen das Fundament der Demokratie sprengt:
Artikel 41. (1) Gesetzesvorschläge gelangen an den Nationalrat als Anträge seiner Mitglieder, des Bundesrates oder eines Drittels der Mitglieder des Bundesrates sowie als Vorlagen der Bundesregierung.
Hier nochmals zur Erinnerung der Artikel 24: Die Gesetzgebung des Bundes übt der Nationalrat gemeinsam mit dem Bundesrat aus.
Der Artikel 41 ist in Bezug auf den Artikel 24 keine formale Präzisierung, sondern ein inhaltlicher Widerspruch. Die Kompetenz, die in Artikel 24 noch allein NR und BR zugesprochen wird, wird hier nicht ergänzt, sondern unterwandert. Schon die Unterscheidung, dass Gesetzesvorschläge durch "Anträge" von NR-Mitgliedern, oder aber durch "Vorlagen" der Bundesregierung eingebracht werden, impliziert unterschiedliche Wertungen; aber das ist ein Randthema. Die tiefgehende Unterwanderung des Demokratie-Prinzips liegt in der Aushebelung der Gewaltenteilung - nicht durch die politische Praxis (die Realverfassung), sondern schon direkt in der geschriebenen Verfassung. Tu felix Austria - das hat noch keine demokratische Verfassung der Welt zustande gebracht.
Wo und wie ist die Gewaltenteilung im BVG eigentlich geregelt? Die Antwort darauf ist wiederum ernüchternd: Nirgends! Es gibt keine Regelung der Gewaltenteilung in der Verfassung! Es gibt nur die so genannten sechs Prinzipien der Verfassung, auch von den sechs Säulen bzw. Baugesetzen ist die Rede. Das sind: (1) das demokratische, (2) das republikanische, (3) das bundesstaatlich/föderale, (4) das rechtsstaatliche, (5) das liberale, (6) das gewaltentrennende Prinzip. Aus philosophisch-ironischer Sicht müsste man ergänzen: (7) das Eventualitäts-Prinzip.
Adamovich/Funk erklären in ihrem Standardwerk "Österreichisches Verfassungsrecht" [hier zitiert die Ausgabe 1985, deshalb fallweise alte Rechtschreibung]: "Der Begriff Baugesetze der Bundesverfassung ist kein im Verfassungstext enthaltener Rechtsbegriff, sondern ein in der Lehre entwickelter Terminus zur Bezeichnung einer bestimmten Gruppe verfassungsrechtlicher Normen." (S 98) Anders gesagt: Die essenziellen Prinzipien, die gemäß aller Experten unserer Verfassung zugrunde liegen, sind in dieser selbst nicht geregelt.
Die Klärung der Begriffe "Demokratie", "Republik", "Bundesstaat", "Rechtsstaat" findet man immerhin im BVG in verschiedenen Zusammenhängen oder Synonymen, doch die Begriffe "liberal" im Sinne von "Liberalität" (nicht im Sinne von "Liberalismus" oder gar "Neoliberalismus") und "Gewaltenteilung" kommen wörtlich oder sinngemäß überhaupt nicht vor. Die definitive, unabdingbare Grundlage einer jeden Demokratie - die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikatur, sowie ihre gegenseitige Kontrolle - mit einem Wort die Gewaltenteilung existiert nicht in unserer Verfassung sondern ist lediglich Common Sense (Usus, Brauchtum) in der Auslegung unserer Verfassung durch die Verfassungsexperten.
Am Rande bemerkt: auch der Begriff "Souverän", geschweige denn eine Klärung der Rolle des Souveräns im Verhältnis zu seiner Regierung, fehlt im BVG. Der "Freiheit" (nicht aber dem liberalen Prinzip) hat Kanzler Vranzitzky 1988 ein eigenes "Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit" geschenkt. Ein Beispiel dafür, dass sich die Kanzler unserer Republik offenbar gerne in der Verfassung verewigen. Symptomatisch für das Wirken Vranitzkys: abgesehen von dem schönen Namen regelt das Gesetz in acht Artikel lediglich die Modalitäten für den rechtmäßigen Entzug der Freiheit. Im Übrigen steht hier nichts, was nicht identisch oder sinngemäß schon in der EMRK zu finden ist, die in Österreich seit 1958 in Verfassungsrang steht.
Ergänzend zum Artikel 41 (1) sei Absatz (2) erwähnt, der regelt, dass die Volksbegehren dem Wesen nach Gesetzesvorlagen sind. Der Wortlaut
(2) Jedes von 100 000 Stimmberechtigten oder von je einem Sechstel der Stimmberechtigten dreier Länder unterstützte Volksbegehren ist von der Bundeswahlbehörde dem Nationalrat zur Behandlung vorzulegen. Stimmberechtigt ist, wer am letzten Tag des Eintragungszeitraums das Wahlrecht zum Nationalrat besitzt. Das Volksbegehren muss eine durch Bundesgesetz zu regelnde Angelegenheit betreffen und kann in Form eines Gesetzesantrages gestellt werden. Bundesgesetzlich kann eine elektronische Unterstützung eines Volksbegehrens durch die Stimmberechtigten vorgesehen werden, wobei zu gewährleisten ist, dass sie nur persönlich und nur einmal erfolgt.
Es ist hier ein Randthema, da jedoch Anfang März 2024 wieder eine Eintragungswoche für 14 Volksbegehren läuft und die Anzahl der Volksbegehren bereits ausufert, so muss doch dieser Satz hervorgehoben werden: "Das Volksbegehren muss eine durch Bundesgesetz zu regelnde Angelegenheit betreffen." Noch nicht in der Eintragungswoche ist das Volksbegehren "FÜR LEISTBARES LEBEN". Der Wortlaut "Der Gesetzgeber wolle bundesverfassungsgesetzliche Maßnahmen treffen, um ein leistbares Leben für alle Menschen in Österreich dauerhaft zu gewährleisten. Das LEBEN soll für alle leistbar SEIN und BLEIBEN", ist wohl nicht geeignet, eine konkrete Gesetzesinitiative einzuleiten, oder auch nur zu diskutieren. So wie den Mandataren des NR, muss man auch den Betreibern von Volksbegehren ein genaueres Studium der Verfassung empfehlen.
Die weiteren Artikel dieses Kapitels regeln vorwiegend bürokratische Details über Wahlen, Volksbegehren und Volksabstimmungen - Details, die alle auch in der Geschäftsordnung des Parlaments oder den jeweiligen Wahlordnungen stehen könnten. z.B. Artikel 47. (1) Das verfassungsmäßige Zustandekommen der Bundesgesetze wird durch den Bundespräsidenten beurkundet. Die Festschreibung dieser simplen administrativen Aufgabe in der Verfassung ist, wenn die Verfassung die Grundlage des Staates sein soll, verzichtbar.
Ein brisantes Detail, findet sich im Artikel 44 . (1) Verfassungsgesetze oder in einfachen Gesetzen enthaltene Verfassungsbestimmungen können vom Nationalrat nur in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen werden; sie sind als solche ("Verfassungsgesetz", "Verfassungsbestimmung") ausdrücklich zu bezeichnen.
In jedem demokratischen Land dieser Welt ist es üblich, dass dessen Verfassung ein geschlossenes Vertragswerk ist, das jedem zugänglich ist und nur in Ausnahmefällen geändert oder ergänzt wird. Es ist eine weltweit einmalige Usance und wohl der Hauptgrund für den katastrophalen Zustand unserer Verfassung, dass das BVG bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit geändert und ergänzt wird. Diese Änderungen und Ergänzungen treffen nicht nur das B-VG im engeren Sinne, sondern sind auch (besonders gekennzeichnet) in ALLEN einfachen Gesetzen möglich. Diese Praxis wurde in der 2. Republik hundertfach (manche schätzen tausendfach) umgesetzt. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass die österreichische Verfassung BVG prinzipiell nicht mehr reformierbar ist, und warum die österreichische Verfassung für das 21. Jahrhundert nicht mehr geeignet ist (so der Untertitel des Buches Baustelle Parlament,)
Dazu kommt systematische Untergrabung der Gewaltentrennung (des gewaltenteilenden Prinzips). Der Artikel 41 war nur die Ouvertüre! Die Ausführung der tragischen Oper erfolgt im Kapitel E: Mitwirkung...
E. Mitwirkung des Nationalrates und des Bundesrates an der Vollziehung des Bundes, ursprünglich Artikel 50-55, im laufe der Jahrzehnte erweitert durch Artikel 50a-d, 51a-d, 52a+b.
Der Artikel 50 bestimmt noch ganz harmlos, dass der Abschluss von politischen Staatsverträgen und Staatsverträgen (sic! worin auch immer der Unterschied liegen mag, das B-VG erklärt diesen nicht) nur mit Zustimmung des Nationalrates möglich ist; "bedarf der Genehmigung des Nationalrates", so der Wortlaut, der seine Kontrollfunktion zum Ausdruck bringt.
Eine deutlich andere Sprache verwendet Artikel 50a. Der Nationalrat wirkt in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus mit.
Dieser und folgende Artikel bis 50d wurden 2012 infolge der Finanzkrise ergänzt.
Artikel 50b. Ein österreichischer Vertreter im Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) darf
1. einem Vorschlag für einen Beschluss, einem Mitgliedstaat grundsätzlich Stabilitätshilfe zu gewähren,
2. einer Veränderung des genehmigten Stammkapitals und einer Anpassung des maximalen Darlehensvolumens des Europäischen Stabilitätsmechanismus sowie einem Abruf von genehmigtem nicht eingezahlten Stammkapital und
3. Änderungen der Finanzhilfeinstrumente
nur zustimmen oder sich bei der Beschlussfassung enthalten, wenn ihn der Nationalrat auf Grund eines Vorschlages der Bundesregierung dazu ermächtigt hat. In Fällen besonderer Dringlichkeit kann der zuständige Bundesminister den Nationalrat befassen. Ohne Ermächtigung des Nationalrates muss der österreichische Vertreter den Vorschlag für einen solchen Beschluss ablehnen.
An der Stelle wird die Verfilzung von Exekutive und Legislative endgültig zum Verfassungsprinzip. Die Gewaltenteilung lebt in unserer politischen Realität nur noch als philosophisches Ideal und als verfassungsjuristisches Theorem. Ein Verfassungsexperte wie Ludwig Adamovich, der bis heute im Alter von 92 Jahren (Stand Februar 2024) immer noch als (ehrenamtlicher?) Berater für unseren Bundespräsidenten tätig ist, sieht diese Problematik natürlich auch. Und findet dafür umgehend eine Erklärung, um dieses gravierende Problem zu verniedlichen:
"Als Mitwirkung der Gesetzgebung an der Vollziehung gelten jene Fälle, bei denen Akte der Vollziehung, insbes. der Verwaltung, im Zusammenwirken von Organen der Gesetzgebung und Organen der Vollziehung erzeugt werden. Es handelt sich dabei um Erscheinungsformen von Gewaltenverbindung, die als Ausnahmen vom Grundsatz der Trennung zwischen Gesetzgebung und Vollziehung einer besonderen verfassungsrechtlichen Begründung bedürfen." (Verfassungsrecht, S 202)
So geht Verfassungsrecht, würde man heute wohl sagen. Die Gewaltenteilung gilt prinzipiell, außer bei "Erscheinungsformen". Eine unbekannte, nicht eingeplante (oder beabsichtigte) "Erscheinungsform" bekommt ganz einfach einen neuen Namen, in dem Fall "Gewaltenverbindung". Das Problem wird nicht etwa durch Bereinigung eines inneren Widerspruches, durch eine vernünftige Gesetzesänderung gelöst. Wie wir mittlerweile wissen, sind Gesetzesänderungen nur dazu da, die Interessen und Pfründe der Parteien zu erweitern oder zumindest abzusichern. Für die Lösung von Widersprüchlichkeiten sind die Verfassungsexperten zuständig und zwar dadurch, dass sie eine "besondere verfassungsrechtliche Begründung" liefern.
Artikel 50c. (1) Der zuständige Bundesminister hat den Nationalrat unverzüglich in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus gemäß den Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Geschäftsordnung des Nationalrates zu unterrichten. Durch das Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates sind Stellungnahmerechte des Nationalrates vorzusehen.
(2) Hat der Nationalrat rechtzeitig eine Stellungnahme in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus erstattet, so hat der österreichische Vertreter im Europäischen Stabilitätsmechanismus diese bei Verhandlungen und Abstimmungen zu berücksichtigen. Der zuständige Bundesminister hat dem Nationalrat nach der Abstimmung unverzüglich Bericht zu erstatten und ihm gegebenenfalls die Gründe mitzuteilen, aus denen der österreichische Vertreter die Stellungnahme nicht berücksichtigt hat.
Das Prinzip, Gesetze für alle Eventualitäten zu formulieren, erreicht hier seinen Höhepunkt und Tiefpunkt gleichzeitig. Dass Gesetze Eventualitäten berücksichtigen, ist manchmal nachvollziehbar. Was hier passiert, geht aber nochmals einen Schritt weiter. Absatz 2 bestimmt, wie ein Vertreter im ESM gemäß Stellungnahme des NR abzustimmen hat und weist dann umgehend den Minister an, was zu tun ist, wenn dieser Vertreter nicht so abstimmt wie es von den Volksvertretern vorgegeben wurde. Der Minister soll den ESM-Vertreter nicht etwa entlassen, oder irgendwie sanktionieren, sondern hat "gegebenenfalls die Gründe mitzuteilen"!
Gesetzgebung insgesamt, aber insbesondere Verfassungsgesetzgebung dieser Art kann man nur noch als Larifari bezeichnen. Philosophische Begriffe wie "vernunftwidrig", "irrational", "undemokratisch" implizieren, wenn auch in Negation, immer noch die Existenz von "Vernunft", "Rationalität" und "Demokratie". Hier aber haben wir es mit der völligen Abwesenheit dieser geistigen Errungenschaften einer aufgeklärten Zivilisation zu tun.
Es erübrigt sich, an der Stelle darauf hinzuweisen, dass die Artikel 50 a-d mit keinem einzigen Wort erklären, was der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist, warum er geschaffen wurde, wie er funktioniert, und warum diese Vereinbarung in Österreich (jedoch in keinem anderen EU-Land) in Verfassungsrang zu heben war!
Aufklärung darüber liefert hierzulande einzig und allein ethos.at mit dem Artikel "ESM-Bank garantiert die Transferunion", ein Kapitel aus dem Buch "Das Amerika-Syndikat" von Wolfgang Freisleben, das 2017 erschienenen ist.
Zurück zu den Verfassungsartikeln, die ihrem Wesen nach Verfilzungsartikel sind.
Artikel 51. (1) Der Nationalrat beschließt das Bundesfinanzrahmengesetz sowie innerhalb dessen Grenzen das Bundesfinanzgesetz; den Beratungen ist der jeweilige Entwurf der Bundesregierung zugrunde zu legen.
In neun Absätzen werden wiederum Details geklärt oder zumindest erörtert, die genauso gut in einfachen Gesetzen stehen könnten. Absatz (8) hier im Wortlaut: Bei der Haushaltsführung des Bundes sind die Grundsätze der Wirkungsorientierung insbesondere auch unter Berücksichtigung des Ziels der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern, der Transparenz, der Effizienz und der möglichst getreuen Darstellung der finanziellen Lage des Bundes zu beachten.
Gut zu wissen, dass die Grundsätze der Wirkungsorientierung von Budgets, also die Frage, wie hoch die Mittel für Gesundheit, Sicherheit oder Bildung sein sollen und wie diese zu verwenden sind, nur "unter Berücksichtigung des Ziels der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern" erreicht werden können.
Artikel 51a. (1) Hat die Bundesregierung dem Nationalrat nicht rechtzeitig (Art. 51 Abs. 2 und 3) den Entwurf eines Bundesfinanzrahmengesetzes oder eines Bundesfinanzgesetzes vorgelegt, so kann ein Entwurf eines Bundesfinanzrahmengesetzes oder eines Bundesfinanzgesetzes im Nationalrat auch durch Antrag seiner Mitglieder eingebracht werden.
Die Verfassungszusätze 51a-d stammen aus dem Jahr 2008 (Finanzminister war Wilhelm Molterer), als die Banken plötzlich aufhörten die Welt mit Krediten zu "versorgen" und das Finanzministerium offenbar nicht mehr imstande war, zeitgemäß ein Budget zu erstellen. Was liegt da näher, als umgehend die Verfassung zu erweitern, und diese Eventualität in der Verfassung zu verewigen? Nichts liegt näher, wenn man in Österreich lebt, im Land mit der besten Verfassung dieser Welt - so sehen das zumindest Verfassungsexperten.
Immerhin sieht der Artikel 52 noch klare Kontrollrechte vor (die Experten sprechen vom Interpellationsrecht):
Artikel 52. (1) Der Nationalrat und der Bundesrat sind befugt, die Geschäftsführung der Bundesregierung zu überprüfen, deren Mitglieder über alle Gegenstände der Vollziehung zu befragen und alle einschlägigen Auskünfte zu verlangen sowie ihren Wünschen über die Ausübung der Vollziehung in Entschließungen Ausdruck zu geben. ...
... (3) Jedes Mitglied des Nationalrates und des Bundesrates ist befugt, in den Sitzungen des Nationalrates oder des Bundesrates kurze mündliche Anfragen an die Mitglieder der Bundesregierung zu richten.
Artikel 53. (1) Der Nationalrat kann durch Beschluss Untersuchungsausschüsse einsetzen. Darüber hinaus ist auf Verlangen eines Viertels seiner Mitglieder ein Untersuchungsausschuss einzusetzen....
Der letzte Artikel dieses Kapitels regelt in fünf Absätzen das wichtigste Organ des Parlaments: Artikel 55. (1) Der Nationalrat wählt aus seiner Mitte nach dem Grundsatz der Verhältniswahl den Hauptausschuss.
Der Artikel 54 fehlt im der österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz. Das könnte man als kleine Marotte abtun, aber ethos.at hat genauer hingeschaut und in der Ur-Verfassung folgenden Artikel 54 gefunden: "Der Nationalrat wirkt an der Festsetzung von Eisenbahntarifen, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgebühren und Preisen der Monopolgegenstände sowie von Bezügen der in Betrieben des Bundes ständig beschäftigten Personen mit. Diese Mitwirkung wird durch Bundesverfassungsgesetz geregelt."
Fast jeder zahlt heute für seine digitale Kommunikation mit einer Flatrate und wir alle (die es noch erlebt haben) können über die Begriffe "Telegraphen- und Fernsprechgebühren" und auch die Höhe der Gebühren anno dazumal herzlich lachen. Doch bei den Postgebühren kann einem das Lachen wieder vergehen. Und noch viel mehr vergeht einem das Lachen, wenn wir realisieren, dass eine derart gravierende Entscheidung, ob man Betriebe oder Organisationen privat oder staatlich führt nicht über einen einzigen Zusatzartikel in der Verfassung geregelt wurde!
Heute, da wir gute Erfahrungen mit der Telekom-Privatisierung, mittelprächtige Erfahrungen mit der Rundfunkprivatisierung (an der Stelle lediglich mein ceterum censeo: Die Bevorzugung des ORF ist verfassungswidrig!) und schlechte Erfahrungen mit der Privatisierung des Strommarktes gemacht haben, wäre es höchst an der Zeit, grundsätzlich darüber nachzudenken, welche Leistungen nach der klassischen Unterscheidung "staatlich", welche "privat" erbracht werden sollen. "Mehr privat weniger Staat" schwebt immer noch als Ideal der Marktwirtschaft über uns, doch die "freie Marktwirtschaft" wurde längst usurbiert von der Allmacht der internationalen Konzerne, der Finanzindustrie und ihren Vasallen in den Vorhöfen der Politik (Medien), in den Hinterhöfen der Politik (Lobbys), sowie direkt in den Parteien.
Unsere Verfassung der Zukunft muss daher klären, welche Bereiche "privat" (gewinnorientiert) zu organisieren sind, und welche "staatlich" (gemeinwohlorientiert, z.B: genossenschaftlich oder körperschaftlich). Aber das ist ein anderes Thema, hier geht es noch einmal um den Nationalrat und das letzte Kapitel des Zweiten Hauptteils:
F. Stellung der Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates
Dieses Kapitel beginnt wieder einmal beeindruckend klar und deutlich:
Artikel 56. (1) Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden.
Ich hoffe, alle Leser dieser kritischen Abhandlung stimmen zu, dass diese Bestimmung im direkten Widerspruch zur üblichen Praxis des Klubzwangs steht. Sogar die Verfassungsjuristen und Herausgeber des B-VG, Christoph Grabenwarter (derzeit Vorsitzender des Verfassungsgerichtshofs) und Brigitte Ohms haben sich hier eine Anmerkung erlaubt. Vorsichtig kursiv und unter Anführungszeichen: "Prinzip des 'freien Mandats'". Adamovich/Funk bestätigen explizit, dass "von einem 'freien Mandat' der Abgeordneten in den allgemeinen Vertretungskörpern im ursprünglichen Sinn nur mehr sehr eingeschränkt gesprochen werden" kann (Verfassungsrecht, S 224). Umgehend auf die Kritik folgt jedoch die verfassungsjuristische Kapitulation: "Mit juristischen Erwägungen ist diese Aushölung des freien Mandats durch parteien- und verbändestaatliche Entwicklungen kaum zu bewältigen". (Verfassungsrecht S 225)
Jedenfalls entlarvend der abschließende Kommentar zum Artikel 56: "Zu erwägen ist auch, ob nicht privatrechtliche Willenserklärungen eines Abgeordneten, die der Sicherung der Klubdisziplin dienen sollen (etwa in Form der in der Praxis übliche Abgabe von undatierten, der Parteiführung zur bedarfsweisen Verwendung überlassenen Erklärungen des Mandatsverzichts), dem Art 56 B-VG zuwiderlaufen und daher gem § 879 Abs 1 ABGB als nichtig anzusehen sind." (Verfassungsrecht S 225)
Diese Ausführungen liegen wohlgemerkt 40 Jahre zurück. Aus der Sicht des Jahres 2024 muss man feststellen, dass im Rahmen des Parlaments derartige Erwägungen noch nie stattgefunden haben. Zwar ist sicher, dass alle Abgeordneten der Überzeugung sind, dass der Klubzwang verfassungswidrig ist; doch ebenso sicher ist, dass sie diese Überzeugung immer erst dann artikulieren, nachdem sie aus dem Parlament ausgeschieden sind. (Zuletzt Ex-Vizekanzler der ÖVP, Reinhold Mitterlehner, in seiner politischen Abrechnung/Autobiografie "Haltung", 2019)
Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass die Verfassung die Volksvertretung als "Beruf" bezeichnet, während immer noch viele Abgeordnete ihr Mandat als Nebenjob mit Zusatzeinkommen betrachten. Soweit so ungut, denn wie nach bisheriger Lektüre nicht anders zu erwarten, führen die folgenden zwei Absätze auf ein Nebengleis, das in jeder anderen Demokratie sofort stillgelegt werden würde. Doch die Fundamente unseres Staates würden ins Wanken geraten, wenn die folgenden Details nicht in der Verfassung geregelt wären!
Artikel 56. (2) Hat ein Mitglied der Bundesregierung oder ein Staatssekretär auf sein Mandat als Mitglied des Nationalrates verzichtet, so ist ihm nach dem Ausscheiden aus diesem Amt, in den Fällen des Art. 71 nach der Enthebung von der Betrauung mit der Fortführung der Verwaltung, von der zuständigen Wahlbehörde das Mandat erneut zuzuweisen, wenn der Betreffende nicht gegenüber der Wahlbehörde binnen acht Tagen auf die Wiederausübung des Mandates verzichtet hat.
(3) Durch diese erneute Zuweisung endet das Mandat jenes Mitgliedes des Nationalrates, welches das Mandat des vorübergehend ausgeschiedenen Mitgliedes innegehabt hat, sofern nicht ein anderes Mitglied des Nationalrates, das später in den Nationalrat eingetreten ist, bei seiner Berufung auf sein Mandat desselben Wahlkreises gegenüber der Wahlbehörde die Erklärung abgegeben hat, das Mandat vertretungsweise für das vorübergehend ausgeschiedene Mitglied des Nationalrates ausüben zu wollen.
(4) Abs. 2 und 3 gelten auch, wenn ein Mitglied der Bundesregierung oder ein Staatssekretär die Wahl zum Mitglied des Nationalrates nicht angenommen hat.
Artikel 57 regelt mit größtmöglicher Umständlichkeit die Immunität der Nationalräte, der Artikel 58 kurz und bündig die Immunität der Bundesräte.
Artikel 59. Kein Mitglied des Nationalrates, des Bundesrates oder des Europäischen Parlamentes kann gleichzeitig einem der beiden anderen Vertretungskörper angehören.
Damit hätten wir abschließend nochmals ein klares Statement! Wären da nicht die Zusätze Artikel 59a und Artikel 59b aus dem Jahr 1996 (Regierung Vranitzky V):
Artikel 59a. (1) Dem öffentlich Bediensteten ist, wenn er sich um ein Mandat im Nationalrat bewirbt, die für die Bewerbung um das Mandat erforderliche freie Zeit zu gewähren. ....
Hier haben sich die öffentlich Bediensteten, die im Nationalrat in übermäßig großer Anzahl vertreten sind, nicht entblödet, ihrer eigenen Kaste Sonderrechte in die Verfassung zu schreiben, die - wenn überhaupt - in der Geschäftsordnung des Parlament oder im Dienstrecht der Beamten zu klären sind. Wenn aber allen Menschen unseres Landes (und das impliziert alle Abgeordneten!) klar wäre, dass die Ausübung eines Mandates gemäß Artikel 56 ein Beruf ist (ein Fulltimejob, um es auch der heutigen Jugend zu erklären), so dürfte in einer echten Demokratie Artikel 56 Absatz 2 (wahlweise der Artikel 57) nur einen Wortlaut haben: Jegliche bezahlte oder ehrenamtliche Beschäftigung (jeder Nebenjob) in kommerziellen Unternehmen oder nichtkommerziellen Organisationen ist mit einem Mandat im NR und BR unvereinbar."
SCHLUSSBEMERKUNGEN
Als ich vor fünf Jahren begonnen habe, unsere Verfassung zu studieren, vertrat ich die weit verbreitete Meinung (philosophisch betrachtet ein Vorurteil), dass wir eine Verfassung haben, die ganz in Ordnung ist, aber daneben eine Realverfassung (die von den Parteien praktizierte Auslegung und Ausübung der Verfassung), die von der geschriebenen Verfassung abweicht. Mittlerweile bin ich zu dem Urteil gelangt: die Verfassung und die Realverfassung stimmen weitgehend überein.
Wie die kritische Analyse des Zweiten Hautpstückes des B-VG zeigt, haben sich die Parteien die Verfassung genau so hergerichtet, dass sie ihren Interessen, und nur ihren Interessen dient und alle ihre Machenschaften legitimiert. Ausnahme ist der Artikel 56 Absatz 1, der im direkten Widerspruch zum tatsächlich praktizierten Klubzwang steht. Die Interessen der Beamten - in den meisten Fällen Parteimitglieder - stehen über den Interessen des Volks. Die Verfassungsgesetzgebung Österreichs ist ihrem Wesen nach - nicht erst seit Kurz & Co, sondern seit den ersten Tagen der zweiten Republik - ein permanenter und systematischer Missbrauch des demokratischen Prinzips, denn Demos ist das Volk, nicht die Parteien.
Hans Richard Klecatsky [1920 -2015, Professor am Lehrstuhl für öffentliches Recht der Universität Innsbruck und von 1966 bis 1970 parteiloser Bundesminister für Justiz] hat schon in den 1970er Jahren das Bonmot geprägt: "Die österreichische Verfassung ist eine Ruine." Um in diesem Bild zu bleiben, kann man nur festhalten, dass diese Ruine in den vergangen Jahrzehnten niemals renoviert, sondern immer und immer wieder mit Bauschutt aufgefüllt wurde.
Im Widerspruch dazu steht das Bonmot von der "Schönheit und Eleganz" unserer Verfassung, mit dem Bundespräsident VdB zur Popularisierung unserer Verfassung beigetragen hat; aber nichts zu ihrem Verständnis. Sein einziges historisches Verdienst besteht darin, dass er ein Exempel statuiert hat, wie man die Herrschaftsrituale der Parteien vor und nach den Wahlen durchbricht. Er hat genau das gemacht, was Artikel 70 über die Bildung, nein, genau gesagt nur über die Einsetzung der Bundesregierung vorgibt:
Artikel 70. (1) Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt. Zur Entlassung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung ist ein Vorschlag nicht erforderlich; die Entlassung einzelner Mitglieder der Bundesregierung erfolgt auf Vorschlag des Bundeskanzlers. Die Gegenzeichnung erfolgt, wenn es sich um die Ernennung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung handelt, durch den neubestellten Bundeskanzler; die Entlassung bedarf keiner Gegenzeichnung.
So hat VdB nach dem Misstrauensantrag gegen die Regierung "Kurz I" eine Kanzlerin ernannt, völlig unabhängig von parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen. Überraschend hat das Parlament daraufhin entdeckt, wozu es eigentlich da ist: für die Gesetzgebung. Und die Regierung hat getan, was gemäß Artikel 19 ihre Aufgabe ist: das oberste Organ der Vollziehung (also der Verwaltung) zu sein. Nicht mehr und nicht weniger. Mit diesem Verständnis von Regieren hat die Kanzlerin Bierlein ganz nebenbei in einem Dreivierteljahr vier Milliarden Euro eingespart.
Wie wir schon wissen: auf eine klare Forderung folgt meist der immanente Widerspruch:
Artikel 19 (1) Die obersten Organe der Vollziehung sind der Bundespräsident, die Bundesminister und Staatssekretäre sowie die Mitglieder er Landesregierungen.
(2) Durch Bundesgesetz kann die Zulässigkeit der Betätigung der im Abs. 1 bezeichneten Organe und von sonstigen öffentlichen Funktionären in der Privatwirtschaft beschränkt werden.
Sapere Aude! Die Leser dieses Artikels können mittlerweile selbst erklären, was alles an diesem Artikel, insbesondere Absatz (2) undemokratisch ist und der Korruption Tür und Tor öffnet! Mehr noch: Leser dieser Zeilen werden verstehen, warum derr Absatz (2) selbst Korruption, genauer gesagt Teil der systemischen Korruption ist.
Die Nationalratsabgeordneten, von denen Ex-Neos-Abgeordnete Irmgard Griss sagte, dass 80 Prozent von ihnen die Verfassung nicht kennen, sind an einem Verfassungsdiskurs nicht im geringsten interessiert. Im Gegenteil, sie tun alles, um diesen im Keim zu ersticken. Die Maxime ihres Handelns ist der (ungeschriebene) Artikel 1 der Realverfassung: "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus, und kehrt daraufhin bei den Parteien ein, um deren Interessen zu dienen". Heute, 2024, gilt das nicht nur für die neosgrüne SPÖVP Einheitspartei, sondern auch für die FPÖ.
"Holen wir uns unser Österreich zurück!" Das war die Losung der FPÖ (nicht nur ihres Kandidaten) bei der BP-Wahl 2022. Diese moralische Haltung kann nur jemand vertreten, der sich daran beteiligt, unser Land als Selbstbedienungsladen zu missbrauchen. Die seit 1945 andauernde politische Praxis - der Verfassungsfilz von Realverfassung und BVG - führt im Fall eines Regierungswechsels nach bisherigen Usancen zwangsweise zur Fortsetzung dieser Mentalität. Lediglich die Personen an den Futtertrögen und Pfründen, von denen die Parteien glauben, dass sie ihnen zustehen, ändern sich.
Für mich persönlich gibt es daher bei der NR Wahl 2024 nur eine wählbare Partei. Ihr Slogan und ihr einziges politisches Programm müsste lauten: "Holen wir uns unser Parlament zurück." Das, und nur das ist nämlich Sinn und Zweck der Nationalratswahl. Die 3G-Regel eines jeden Nationalratsabgeordneten müsste lauten: Gesetzgebung + Gewaltenteilung + Gemeinwohl. Anders gesagt: Gesetzgebung basierend auf Gewaltenteilung im Interesse des Gemeinwohls.