Die Alchemisten des Geldes
Hier das gängige Narrativ des Geldsystems in Anlehnung an das Buch „Die Alchemisten. Die geheime Welt der Zentralbanker“ (Berlin, 2013) des US-Journalisten Neil Irwin, der ab 2007 für die Washington Post über die Aktivitäten der Zentralbanken berichtet hat. Der reißerische Titel soll nicht vom Wesentlichen ablenken: hier schreibt ein Autor eines „Leitmediums“ in der Sprache der Banker über die Theorien und Praktiken der Finanzwelt. Genauer gesagt: er schreibt über die Spekulationen der obersten Währungshüter (der „Alchemisten“) und die Auswirkungen auf die Gesellschaft. Im Fokus von Irwins Buch steht die Finanzkrise von 2007-2012. Folgende Prämissen, Conclusio und Resümee sind ein Extrakt aus Irwins Darstellungen.
Prämisse 1: Die Zentralbanken sind Kreditgeber der letzten Instanz. Sie verfügen über potenziell unerschöpfliche Mittel, um das globale Finanzsystem mit Liquidität versorgen. Sie haben mit diesen Mitteln nach 2007 einen Staudamm errichtet, um das Finanzsystem vor der Flut zu schützen. Dieser Damm dient zur Beruhigung der Finanzmärkte und zur Rettung des Finanzsystems. Die Märkte reagieren heftig auf jedes Gerücht und jede Ankündigung. Die Aufgabe der Zentralbanken besteht darin, die Preisstabilität der Gesamtwirtschaft zu gewährleisten, insbesondere durch Bekämpfung der Inflation.
Prämisse 2: Die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren wurde durch das Versagen der Zentralbanken ausgelöst. Diesen Fehler mussten die Zentralbanken nach 2007 vermeiden. Zentralbanken spielen in diesem Jahrhundert eine Schlüsselrolle im Kampf gegen die Panik, sowie bei Stabilisierung und Rettung des Finanzsystems. Die Hauptrolle im „Westen“ (Begriff im Sinne von Niall Ferguson) übernehmen FED (Zentralbank der USA), EZB (Zentralbank der Euro-Länder) und die Zentralbank Großbritanniens (Bank of England).
Conclusio: Ab 2007 pumpte die EZB Geld in das System, um ihre Banken liquide zu halten. Auf diese Art hofften sie, die europäische Wirtschaft vor größeren Schäden zu bewahren. Damit folgte die EZB dem Vorbild der FED. Die Annahme dahinter: zusätzliche Liquidität würde die Wirtschaft mit mehr Krediten versorgen und neue Investitionen anstoßen, Interventionen der Zentralbanken können Stimmung auf dem Markt erheblich verbessern. Aber: Die großen westlichen Volkswirtschaften erholten sich kaum. Deshalb mussten die Zentralbanken verstärkt Einfluss auf die Politik der Regierungen nehmen. So wurden die Instanzen zur Kontrolle der Finanzmarktmechanismen zu Schaltstellen der Krisenbewältigung. Nach den Vorgaben der Banken mussten und müssen Regierungen die Märkte von ihrer Handlungsfähigkeit überzeugen, damit sie wieder Vertrauen fassen. Daraus folgt die Notwendigkeit der Reduktion der Staatsschulden (Austerity-Politik). Gleichzeitig musste ein Schuldenschnitt („Haircut“) der Privatbanken vermieden werden. Der EZB-Chef Jean-Claude Trichet war der Meinung: „Wenn der Privatsektor in den Krisenmechanismus einbezogen wird, wird dieser sehr viel verwundbarer.“
Resümee: Viele Investments, deren Wert nach der Lehman-Pleite zusammenschmolz, hatten als vollkommen sicher gegolten. Eine grundlegende Wahrheit über die modernen monetären Systeme war aufgedeckt worden: Das Geld ist lediglich eine Idee, ein Konzept, ja man könnte sogar sagen, ein riesiger Schwindel.
Hier bewusst allein das Narrativ von Irwins Buch zur Beschreibung des Finanzsektors gewählt. Würde man auch die Bücher der Nobelpreisträger Josef Stiglitz und Angus Deaton, sowie des Ex-Wallstreet-Bankers Michael Hudson, oder der österreichischen Finanzkritiker Wolfgang Freisleben, Franz Hörmann und Bernhard Kreutner in der Darstellung berücksichtigen, so wäre sie reicher an Details, aber nicht tiefer in der Substanz. Um die Substanz des Finanzsystems zu verstehen, könnte man auch ein Dutzend zufällig ausgewählter Presseberichte über die Börsen und den Finanzmarkt sprachphilosophisch analysieren oder kritisch untersuchen. Aber es geht hier nicht um die vollständige historische Aufarbeitung, sondern um das Verständnis des Wesens eines Systems.
Zum Verständnis der Substanz des Geldwesens, hier die Schlüsselbegriffe gefiltert aus Irwins Erzählungen: Ankündigungen, Annahmen, Gerüchte, Beruhigung, Panik, Schutz, Rettung, Liquidität, Stabilität, Stabilisierung, letzte Instanz, unerschöpfliche Mittel. Es ist evident, dass diese Begriffe spekulativen Charakter haben, umso mehr die religiösen Grundbegriffe des Geldsystems: Kredit (Credo, Glaube), Verschuldung (Schuld und Sühne), Gläubiger (der Gläubige, der an die Zahlungsfähigkeit des Schuldners glaubt und in dessen Macht es liegt dem Schuldigen zu vergeben), Schuldner (der Schuldige, der für seine Sünden zahlen muss. Die Erbsünde unserer Zeit ist der Kredit für ein Eigenheim, für das Menschen ein Leben lang und manchmal auch noch ihre Erben bezahlen.) Und das GELD selbst, die Conditio sine qua non unserer Welt (nicht nur der Welt-Wirtschaft).
Die Schlüsselbegriffe ebenso wie die Grundbegriffe des Geldsystems sind spekulative Begriffe. Um das Wesen des Finanzsektors zu verstehen muss man des Wesen spekulativer Begriffe verstehen. Dabei hilft uns Immanuel Kant.