In der Reihe: Ein Eichkätzchen lief in den Felsen, und ein Schmetterling kam heraus (Jack Kerouac) – Literat*innen mit spirituellen und ganzheitlichen Bezügen
von Manfred Stangl
Gibran ist unter den spirituell orientierten Schriftstellern sicher einer der edelsten.
Ich hörte von ihm, dem weltberühmten Schöpfer des „Propheten“, solange ich mit den Kollegen aus den Mainstream Literaturzeitschriften zusammenarbeitete, allerdings nichts. Erst nach der Gründung der eigenen Edition, nach dem Wechsel des Bekannten- und Freundeskreises, nach der eigenen Hinwendung zu spirituellen Gebieten, zu Autoren die ich zuvor gemieden hatte, wie der Teufel das Weihwasser, begegnete er mir auf Schritt und Tritt.
Gerade um das beginnende neue Jahrtausend, nach dem Fall der Mauer, der scheinbaren Überwindung der martialischen Fronten in Europa (und der materiellen Sorgen) setzte ein zweiter großer Boom ein, der Gibrans Werken ganze Bücherecken in den Abteilungen der Esoterischen und Spirituellen Literatur bescherte. Erste weltweite Bekanntheit erhielt er sicherlich während der 68-Bewegung, in der links und alternativ denkende junge Menschen nach Vorbildern in der spirituellen Literatur suchten. Zu Lebzeiten war der 1881 im Libanon als maronitischer Christ geborene Dichter dem amerikanischen Lesepublikum kein Unbekannter, auch in Großbritannien wurde er rezipiert, in der arabischen Welt galt er als Neuerer, der fortschrittliche Formen in die verstaubte orientalische Literatur einbrachte.
Dem heutigen (Mainstream-)Verständnis gilt als paradox, dass ein in Spiritualität so tief verwurzelter Autor bedeutender Neuerer war. Inhaltlich und auch in seinen Bildern – er war in Amerika als Maler ähnlich berühmt wie als Dichter – verabschiedete er sich nicht von einer klaren, die Schönheit feiernden Sprache. Die Formsprache seiner Bilder war im Symbolismus beheimatet; er liebte es, seine Bücher mit eigenen Illustrationen zu bereichern.
1895 emigrierte seine Mutter mit ihren Kindern in die USA. Dort wurde schnell sein zeichnerisches Talent erfasst. Mit 15 Jahren sah Gibran seine Arbeiten neben den Fotos eines der größten zeitgenössischen Meister dieser Zunft ausgestellt.
Bei einem erneuten Aufenthalt in seiner Heimat, gerade 18 geworden, lernt er Sultana Tabet kennen und lieben, deren Mann eben verstorben war. Im Roman „Die gebrochenen Flügel“ wird sie als Hauptfigur einziehen. Der Liebe ist nur kurze Dauer beschert, Sultana stirbt. Gibran hatte an einer Maronitischen Schule studiert, nun sah er seine Lehrzeit als beendet an und kehrte in die USA zurück.
In der Bostoner Gesellschaft waren mystizistische Bewegungen en vogue, es wimmelte geradezu von solchen, die sich gegen institutionalisierte Religionen abgrenzten und an die göttliche Essenz des Menschen sowie an Reinkarnation glaubten.
Bei einer erfolgreichen Ausstellung lernt er Mary Haskell kennen, die seine Gönnerin werden wird. 10 Jahre älter, wird sie, den damaligen Gepflogenheiten folgend, zwar nicht seine Geliebte, aber eine Muse, der er große Inspiration verdankt. Sie entstammt reichem Elternhaus und kann Gibran auch finanziell umfangreich fördern.
Sie ermöglicht ihm gar einen längeren Parisaufenthalt, den er im Sommer 1908 antritt. Er bezieht ein kleines Appartement im Montparnasse und schreibt sich an einer Privatakademie ein. Auch weitere Akademien sehen ihn als gelehrigen Schüler, der das Modellzeichnen von der Pike auf einübt.
Die vorherrschende Historienmalerei interessiert Gibran nicht, er findet als Lehrer einen mystischen Maler, Pierre Marcel-Beronneau, der eine Klasse mit etwa einem Dutzend Schülern unterrichtet.
Jeden Sonntag pilgern Khalil mit Youssef seinem Freund aus dem Libanon in den Louvre. Sie wandeln stundenlang in den Sälen, diskutieren im Jardin du Luxenbourg über Dante, Balzac, Voltaire. Im Pantheon staunt Gibran über ein Monumentalgemälde von Puvis de Chavannes, das die heilige Genovea darstellt und seine zukünftige Arbeit beeinflussen wird – tief bewegt von der Größe der Seelenruhe, die auf dem Gesicht der Heiligen zu sehen ist.
Zurück in Boston, beeinflusst von den Ideen der Unabhängigkeit, die er mit libanesischen Flüchtlingen in Paris teilte, gründet Gibran 1911 eine Vereinigung, die sich für die Sache der vom Osmanischen Reich unterjochten arabischen Länder einsetzen soll.
Sich an Rousseau anlehnend vertritt Gibran die Ansicht, dass der Mensch frei geboren von den Gesetzen der Väter und Vorväter unterdrückt werde – demgegenüber stellt er die Reinheit und Schönheit der Natur. Außergewöhnlich fließen seine poetische Sprache, seine Bilder und Metaphern derart dahin, dass man an Prosagedichte erinnert wird, eine Gattung, die Gibran später in die arabische Literatur einführen wird.
Eine weitere wichtige Frauenbekanntschaft verband Gibran mit der in Ägypten lebenden Libanesin May Ziadeh, die 1912 auf ihn durch einen Artikel in einer arabischen Zeitschrift aufmerksam wurde. Nach dem Erscheinen der „Gebrochenen Flügel“ richtete sie einen enthusiastischen Brief an ihn, der ja im Roman vehement für Frauenrechte eingetreten war. Der Briefverkehr der beiden, anfangs höflich, später inniglicher abgefasst, dauerte bis zum Tod Gibrans an. Persönlich traf er die lyrisch Angebetete nie, aber seine Liebesbriefe an sie zählen zum schönsten was es an Liebesliteratur zu lesen gibt. 1)
1916 traf er auf den Nobelpreisträger aus Indien, Rabindranath Tagore, dessen Werk er zwar schätzt, deren Gottesbilder sich aber wesentlich unterscheiden.
Im Oktober 1918 erscheint der „Narr“ als erstes von ihm in Englisch geschriebenes Buch, das außerdem einen Wendepunkt darstellt, an dem der grollende Autor zum kontemplativen Betrachter und spirituell Erhabenen reift.
Im Mai 1919 erscheint in Arabisch: „Die Umzüge“, ein langes Gedicht in 203 Versen, in dem er die Natur lobt und der verkopften Zivilisation einen einfachen Hirten, der ohne zu analysieren und debattieren das Leben genießt, entgegenstellt.
Seine Kunstauffassung
Diese umreißt er in einem Brief an Mary Haskell: „Manche meinen, Kunst sei Nachahmung der Natur; aber die Natur ist so erhaben, dass sie gar nicht nachgeahmt werden kann. So edel die Kunst auch sein mag, sie vermag kein einziges der Wunder der Natur zu vollbringen. Und im übrigen, wozu die Natur nachahmen, da sie doch von allen, die Sinne besitzen, empfunden werden kann? Kunst besteht vielmehr darin, die Natur zu begreifen und dieses Begreifen an diejenigen weiterzugeben, die davon nichts wissen. Aufgabe der Kunst ist es, den Geist des Baums herauszuarbeiten, und nicht, einen Stamm, Äste und Blätter zu zeichnen, die einem Baum ähneln. Ziel der Kunst ist es, das Bewusstsein dessen zu offenbaren, was das Meer ist, und nicht, schaumbedeckte Wellen oder azurblaues Wasser zu malen. Kunst ist ein Schritt, der vom sichtbaren Bekannten zum verborgenen Unbekannten, von der Natur zum Unendlichen führt.“ 2)
„Der Vorbote“, stellt als sein zweites englischsprachiges Buch den Vorläufer des „Propheten“ dar. In gleichnishaften Erzählungen, in Parabeln und Metaphern wird die Seele beschworen, die sich von irdischen Begierden befreien muss, um zur Vollendung zu gelangen: „Wir sind das Feld und die der Pflüger, der Schnitter und die Ernte.“ 3)
Gibran schreibt unermüdlich für ein Magazin und speziell am Manuskript des Propheten. Er trinkt und raucht zu viel. Hält sich oft mit Kaffee wach. In einem Brief an May gestand er, dass er male, solange das Tageslicht es ermöglichte, während in der Nacht er über seinen Manuskripten brüte.
Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich. Herzrhythmusstörungen treten verstärkt ein, denn es hat „der Takt dieses Herzens nie mit dem Takt und dem Rhythmus der anderen übereingestimmt.“ 4)
Lyrische Liebesbezeugungen
Etwa zu jener Zeit erhält Mary einen Heiratsantrag eines Witwers, den sie annimmt. Zu ihrem Entsetzen erweist der Ehegatte sich als überaus eifersüchtig, was den Briefverkehr zwischen ihr und Gibran wesentlich reduziert. Khalil wendet sich in seinen lyrischen Liebesbezeugungen nun May Ziadeh in Kairo zu.
Im Brief vom 1. auf den 2. Dezember 1923 schreibt er: „In dieser Stunde bist Du bei mir, May. Du bist bei mir. Hier bist Du bei mir und ich spreche mit Dir mit anderen, weit besseren Worten als diesen; ich spreche zu Deinem großen Herzen in einer Sprache der Herzen, und ich weiß, daß Du mich hörst; ich weiß, daß wir beide uns unmißverständlich verstehen, und ich weiß, daß wir in dieser Nacht dem Throne Gottes näher sind als jemals zuvor. ( … ) Von allen Menschen bist Du es, die meiner Seele und meinem Herzen am nächsten steht, und unsere Seelen und unsere Herzen haben sich nie gestritten. Es waren unsere Gedanken, die miteinander stritten, und die Gedanken sind unserer Umwelt entlehnt; sie setzen sich zusammen aus dem was wir sehen und hören und was jeder Tag bringt. Seele und Herzen aber sind das ewig Göttliche in uns; sie sind wesentlicher und ursprünglicher als unsere Gedanken.
Die Funktion des Denkens ist es zu ordnen und zu organisieren. Es ist eine gute Funktion, die wichtig und notwendig ist für unser Gemeinwesen und das gesellschaftliche Leben.
Doch im Leben unserer Seelen und Herzen hat es keinen Platz. Wenn wir in Zukunft streiten sollten, so sollen wir danach keine getrennten Wege gehen! Der Verstand kann uns dies sagen, wenn er auch bisher immer der Anlaß unserer Auseinandersetzungen war; aber der Verstand kann weder ein Wort über die Liebe sagen, noch kann er die Tiefe der Seele erfassen oder das Herz mit dem Maß seiner Logik messen. (…)“ 5)
„Der Prophet“, eines der bemerkenswertesten Bücher der Literaturgeschichte erscheint im September 1923.
Almustafa, der Erzähler der Gleichnisse wartet nach 12 Jahren in Orphalese auf das Schiff, das ihn in die Heimat bringen soll. Vor der Abreise strömen Menschen der Stadt zu ihm und stellen verschiedene, ihnen wichtige Fragen.
Das Kapitel: „Von der Liebe“ - Dort etwa heißt es:
„Wenn die Liebe dir winkt, folge ihr,
Sind ihre Wege auch schwer und steil.
Und wenn ihre Flügel dich umhüllen, gib dich ihr hin,
Auch wenn das unterm Gefieder versteckte Schwert dich verwunden kann.
Und wenn sie zu dir spricht, glaube an sie,
Auch wenn ihre Stimme deine Träume zerschmettern kann, wie der Nordwind den Garten verwüstet.
Denn so, wie die Liebe dich krönt, kreuzigt sie dich.
So wie sie dich wachsen lässt, beschneidet sie dich.
So wie sie emporsteigt zu deinen Höhen und die zartesten Zweige liebkost
die in der Sonne zittern, steigt sie hinab zu deinen Wurzeln und erschüttert sie in ihrer Erdgebundenheit.
Wie Korngaben sammelt sie dich um sich.
Sie drischt dich, um dich nackt zu machen.
Sie siebt dich, um dich von deiner Spreu zu befreien.
Sie mahlt dich, bis du weiß bist.
Sie knetet dich, bis du geschmeidig bist;
Und dann weiht sie dich ihrem Heiligen Feuer, damit du Heiliges Brot wirst für Gottes Heiliges Mahl.“
Diese an die Sufi-Metaphorik angelehnte Sprache zählt zum Wunderschönsten, das die Literatur uns bieten kann und ist von all dem, was die Moderne Literatur hervorbrachte und speziell aktuell hervorbringt so weit entfernt, wie ein neidvoller Gedanke von der All-Liebe des Göttlichen.
Manchesmal wird Gibran mit Nietzsche zusammen erwähnt, der ja im „Zarathustra“ ebenfalls einen Propheten zu Wort kommen lässt. Bei Gibran aber findet sich kein Jota an Nihilismus. Er spricht von Hoffnung und Optimismus, auch wenn er persönlich von Geld- und Gesundheitsproblemen geplagt ist.
„Der Wanderer“ - Auch das Nachfolgewerk ist von mystischer Tiefe beseelt.
„Eure Freude ist euer Leid, das keine Maske mehr trägt-
Und der selbe Brunnen, aus dem euer Lachen klingt, war oft mit Tränen angefüllt-
Wie könnte es auch anders sein?
Je tiefer das Leid euer Wesen aushöhlt, desto mehr Freude könnt ihr darin aufnehmen.“
Die Presse nimmt Gibrans Werk begeistert auf, da der sich „nicht scheut, in der Zeit des Zynismus ein Idealist zu sein.“ 6)
1931 verstirbt Khalil Gibran mit nur 48 Jahren.
Wer war dieser außergewöhnliche Schriftsteller?
Ein hoffnungsloser Optimist? Ein naiver Idealist, der seine Träume für die Realität hielt, aber kaum was vom Leben hatte? Ein rückständiger Schwärmer, Schwurbler, wie man ihn heute nennen würde, interessierte sich der modernistische Literaturbetrieb überhaupt für ihn…
Nun – Gibran war sicherlich ein Gottsucher; als Rüstzeug dazu dienten ihm die Sufi-Schriften seiner Heimat, die reinen Quellen arabischer mystischer Literatur, die er mit den Evangelien verquickt, aber vor allem mit seinem reichen Herzen. Selbstportraits, zeigen ihn mit traurigem Ausdruck, ernst, nach innen gekehrt. Die Beschreibung vieler Freunde verstärkt den Eindruck. War er ein glücklicher Mensch? Er war ein Gottesvertrauter, auch in unglücklichen Zeiten von der Gewissheit geschützt, dass letztlich alles seinen Sinn, seine (göttliche) Ordnung haben würde. In den Sprachbildern seiner Werke lebt er inmitten der blühenden Hügel des Libanons, an den Quellen sprudelnder Bäche, am reinen Gipfel des Gebirges. Seinen Körper bedachte er wenig. Zerrüttete ihn mit zu wenig Schlaf, mit Alkohol, Kaffee, oftmals unzureichender Nahrung. Er arbeitete unablässig, gerade den Freunden gelang es, ihn manches Mal aus dem Atelier in die Natur zu entführen, wo er in den Bergen, am Meer unterm Sternenhimmel Frieden und Ruhe fand. Er liebte die Stille, die Einsamkeit, die ihn tief blicken ließ in die ewigen Geheimnisse des Göttlichen, ihn aber auch verwirrt und allein zurückließ. Als „Nebel“ beschreibt er sich oftmals, den die Morgensonne zerstreut, der anderntags neugeboren wiedererscheint. War er ein Workaholic? Ein Getriebener vielleicht, allerdings einer, den es den Pfad zu Gott entlangtrieb; der mit dem „Propheten“ ein Meisterwerk vollbrachte, wie es schöner und besser niemals zu schreiben gelingen kann. Höchstens ähnlich in anderer Form. So war er selbst dieser Prophet, der die Menschen den Weg zum Göttlichen wies, von Wiedergeburt zu Wiedergeburt auf ihn hin reifend, weswegen er ja zu einer der Leitfiguren der Hippiebewegung avancierte. Sein Gottesbild wies Lücken auf – er verstand nicht die Weisheit der Veden, die ihm Rabindranath Tagore verkündete – für Gibran war Gott ein sich entwickelnder, wachsender. Der indische Meister kannte Gottes Vollkommenheit, Ewigkeit und Unendlichkeit. Von den Einblicken, die Gibran aber in Gottes Wesen erhielt – gerade durch die Schönheit der Natur hindurch – können die meisten Menschen heutzutage und die modernen und postmodernen Autoren und Künstler überhaupt nur träumen.
Manfred Stangl
Anm. 1: „Gibran – Liebesbriefe an May Ziadeh“. Hrsg. und übersetzt aus dem Arabischen v. Ursula und S. Yussuf Assaf; Walter / Patmos Verlag, 2000
Anm. 2: Zitiert nach Alexandre Najjar: Khalil Gibran und die Vision der Moderne – eine literarische Biographie, S 111; Verlag Hans Schiler, 2oo8,
Anm. 3: ebd. S 118
Anm. 4: ebd. S 120
Anm. 5: Gibran – Liebesbriefe an May Ziadeh“ S 89 ff
Anm. 6: Zitiert nach Alexandre Najjar: Khalil Gibran und die Vision der Moderne – eine literarische Biographie, S 141; Verlag Hans Schiler, 2oo8,