+ Die Welt ist alles was der Fall ist. (Ludwig Wittgenstein)
+ Ein Raum ist alles was sich vollräumen lässt. (Hubert Thurnhofer)
+ Der Raum räumt. (Anton Edler)
5. August 2025 - Ein Dachboden ist kein Boden, sondern der Raum unter dem Dach, ein Raum mit viel Zeug drin. Wer sich vornimmt, diesen Raum zu nutzen, der muss sich dessen bewusst sein, dass er zunächst aufräumen muss. Zeug sammelt sich über Jahre und Jahrzehnte an. Zeug ist Zeuge seiner Zeit und legt damit Zeugnis ab, dass es einmal nützlich war und daher wieder nützlich sein könnte. Zeug erhebt den Anspruch - wann auch immer aber spätestens einen Tag, nachdem es entsorgt wurde - seinen Nutzen und damit seine Existenzberechtigung zu beweisen.
Aufräumen ist die erste, dringende und verantwortungsvolle Aufgabe eines Bauherrn, der sich der Renovierung eines Dachbodens annimmt. Wenn ein Philosoph zum Baumeister wird, dann kann er so eine Aufgabe nicht einer Entrümpelungsfirma überlassen. Das wäre der Gipfel der Verantwortungslosigkeit, denn jedes Zeug hat das Recht auf individuelle Beurteilung seiner Nützlichkeit. Es liegt am Wesen eines jeden Zeuges, dass es potenziell nützlich ist. Wenn es einen Möglichkeitssinn gibt, dann muss es auch einen Nützlichkeitssinn geben, denkt der Philosoph, und macht sich an die Evaluierung. Sein Maßstab der Nützlichkeit ist das Bauobjekt selbst: kann es noch für den Zweck des vorgesehenen Baues genutzt werden oder nicht?
Die Frage wäre leicht zu beantworten, wenn der Philosoph einen Plan hätte, so wie ein Architekt. Doch der Philosoph hat keinen Plan; aber er hat eine Vorstellung von der Idee, die er verwirklichen will. Was ihn tatsächlich von Architekten und allen anderen Menschen seiner Umgebung unterscheidet ist seine starke Vorstellungskraft. Idee, Vorstellung, Umsetzung – das ist die Trinität eines Baumeisters, der nicht gelernt hat zu planen, sondern zu denken; nachzudenken und vorzudenken, die Ideen zu visualisieren, auf Deutsch: sich Ideen vorzustellen.
Vorteilhaft ist es, wenn das Bauprojekt nur den halben Dachboden einnimmt, denn dann muss man nicht alles Unbrauchbare entsorgen, sondern kann manches auch verschieben: die Entscheidung über die endgültige Entsorgung in die Zukunft, und die verteilten Kästen voller Zeug in die andere Ecke des Raums, in dem sich damit das Zeug logischer Weise verdichtet. Doch ein halber Dachboden vollkommen geräumt bietet wesentlich mehr Raum, als ein ganzer Dachboden mit historisch gewachsener Belagerung.
Die Vereinnahmung des neu gewonnen Raums folgt zwei Prinzipien: dem ökologischen und dem ökonomischen. Ökologisch gilt, soviel wie möglich vom vorhanden Zeug wieder zu verwerten; ökonomisch gilt, die gesamten Baumaßnahmen inklusive Baumaterialien dürfen nicht mehr kosten als fünf Prozent dessen, was ein Architekt für die Planung und Umsetzung kalkulieren würde, denn der Baumeister ist kein Starphilosoph, der von TV-Shows Honorare für seine Weisheiten kassiert, sondern ein Diogenes des 21. Jahrhunderts; auch dieser hatte laut Legende so etwas wie einen Dachboden, ein Runddach sozusagen, aus einem Fass gefertigt.
Das Ergebnis der Räumung ist Raum, Freiraum zur Entfaltung neuer Ideen. Die Idee: der neu geschaffene Raum soll der Kunst dienen, die der Philosoph als Galerist über drei Jahrzehnte gesammelt hat. Metaphysiker werden wohl bestreiten, dass dies eine wahre Idee sei, denn große Ideen bewegen die Menschheit, diese Idee aber ist nur dazu geeignet, Werkzeuge und Baustoffe in Bewegung zu setzen, um ein profanes Lager zu errichten. Der Dialektiker weiß, dass wahre Ideen in ihrer Negation nicht nur verwirklicht, sondern auch entstellt werden. So führt die Negation der Idee des Friedens in der Logik des Dialektikers zum Frieden, in der Logik der Politiker aber oft zum Krieg.
Die Idee des Kunstraums enthält keine große Wahrheit, aber die Substanz der Wirklichkeit. Ihre Negation ist eine Postion, vielmehr eine singuläre Positionierung einer einmaligen Idee unter einmaligen Bedingungen. Erst die Idee eines Kunst-Lagers unter dem Dach erhebt diesen Raum zum Kunstraum; ansonsten hätte man die Kunstwerke auch in einen Container schlichten können.
Dämmen ist die zweite unabdingbare Aufgabe, um in dem vorgesehenen Raum ein stabiles Klima zu schaffen. Die Dämmung besteht aus drei Schichten. Direkt unter das Welleternitdach schiebt Selfman alte Tafeln, Bretter und Plakatständer – ein Erbe der Partei, die er bei der vergangenen Nationalratswahl unterstützt hatte. Darunter, zwischen die Dachsparren, wird Glaswolle von 16 Zentimeter Dicke geklemmt; flächendeckend naturgemäß, denn die Kunst der Klimastabilität besteht darin, Kälte=Hitze-Brücken zu vermeiden. Der Sichtbereich des Raumes wird mit reinem Fichtenholz vertäfelt; genauer gesagt: vier Meter lange, 15 Zentimeter breite und 1,9 Zentimeter dicke Fichtenbretter direkt aus dem Sägewerk werden mit dem Akkuschrauber und rund 2500 Holzschrauben an den Dachsparren und Wandstaffeln befestigt.
Wer beginnt, die Breitseite von 4-Meter-Brettern mit der Kreissäge zu schneiden, versteht schnell, dass er dafür ein anderes Werkzeug braucht: die Kappsäge. Neben Sägen, Akkubohrer = Akkuschrauber sind Knieschützer, wie sie Fliesenleger verwenden, das drittwichtigste Werkzeug. Der Fachmann wird diese wohl eher den Kleidungsstücken zuordnen, doch der Sprachphilosoph hält auch Werkzeughalterungen, egal ob sich diese an der Wand oder auf einem Gürtel direkt am Körper befinden, nicht für Kleidungsstücke.
Der planlose Philosoph beginnt mit dem Einbau von Kästen, die einst Teile einer Einbauküche waren, um auszuloten, wie weit er an die ein Meter hohe Außenmauer des Dachraums gehen kann. Bis zur Verlegung der letzten Teppichfliese auf dem Fußboden bleibt er planlos, doch jeder Schritt folgt zwingend auf den vorigen.
Selfman, der alleine arbeitet, könnte gar nicht nach System vorgehen, da systematischer Aufbau mindestens eine Hilfskraft bei allen Arbeiten benötigt. Statt der Reihe nach die Dämmschichten, dann die Elektroleitungen, danach Vertäfelung, Fußboden, Fenster und am Ende die Einrichtung einzubauen, errichtet Selfman die Dämmung und Einrichtung an einer Ecke in einem Arbeitsgang und arbeitet sich so rund um die Außenwände von Nordost nach Südost gegen den Uhrzeigersinn; im Unterschied zu Systemarbeitern: diese Arbeiten gegen die Zeit.
Einem Philosophen ist nicht zu helfen. Viele Hilfsangebote hat er egoistisch abgelehnt. Egoistisch, eigenbrötlerisch oder ganz einfach selbstbewusst? Er weiß, wo und wann die Materialien und Werkzeuge, die er für einen Bauteil braucht, zur Hand sind und wie sie zu benutzen sind. Wenn er es nicht weiß, so ahnt er es und macht sich auf die Suche bis sich findet was nötig ist. Eine junge, eifrige Hilfskraft würde ständig nach Beschäftigung verlangen und so die innere Harmonie zwischen Denken und Tun andauernd stören. Eine erfahrene Fachkraft würde – noch viel schlimmer – alles besser wissen; doch Besserwisser ist der Philosoph selbst, weshalb viele sagen: "Der ist überheblich."
Wahr ist: der Philosoph erhebt sich über einen Facharbeiter, der sein Handwerk von der Pike auf gelernt hat. Wie baut ein Philosoph ein Haus? Er versucht das Wesen einer jeden Gegenstand zu verstehen und wendet sie dem entsprechend, d.h. ihrem Wesen entsprechend, an. Das gilt für Werkstoffe genauso wie für Werkzeuge. Mehr noch: es gilt auch für Menschen, Tiere und Pflanzen.
Der Mensch eine Gegenstand? Das mag manchen Lesern als Zynismus erscheinen; und das stimmt. Doch Zynismus ist für den Philosophen keine Haltung, sondern eine Disziplin, die er Fallweise ausübt, um Denken zu provozieren. Gegenstände sind nicht nur Objekte, die teilnahmslos in der Gegend stehen, sondern auch Menschen, die dir – unbewusst oder absichtlich – gegenüber oder entgegen stehen.
Im Unterschied zu anderen Menschen empfindet der Philosoph schlaflose Nächte nicht als unangenehm, denn in diesen Nächten hat er scheinbar endlos Zeit um nachzudenken. Welcher Bauabschnitt auf den vorigen folgt, das erfordert keiner langen Überlegungen, denn diese folgen einer inneren Logik. Nur wie man den nächsten Schritt umsetzt, darüber muss jeder, der das Handwerk nicht anständig gelernt hat (also nicht standesgemäß wie einst die Mitglieder von Zünften), oftmals länger grübeln. Schlaflose Nächte sind dafür gut geeignet. Doch merke: eine schlaflose Nacht hilft keinem Handwerker, der zwei linke Hände, und auch keinem Philosophen, der zwei rechte Hirnhälften hat.
Tagsüber entstehen an den niedrigen Außenwänden Stauräume für Kunstwerke kleiner und mittlerer Größen. Sieben im Nordtrakt und sieben im Südtrakt, alle individuell angepasst. Vor 55 Jahren wurden die Dachsparren händisch ohne Kran von Zimmerleuten aufgestellt. Da kann man nicht erwarten, dass die Abstände zwischen den einzelnen Balken auf Millimeter, ja nicht einmal auf Zentimeter genau gleich sind. Auch zwischen Traufe und Dachfirst sind häufig Abweichungen, die bei jedem Arbeitsschritt vermessen und angemessen behandelt werden müssen.
Die letzte dämmende Herausforderung bildet der Boden, der neben der Wärme auch den Schall dämmen muss. So findet sich notwendiger Weise ein Filzboden, der praktisch in Paketen von je 20 Teppichfliesen in der Größe von 50x50 Zentimeter geliefert wird; elf Pakete für über 50 Quadratmeter. Nach drei Monaten durchaus schwerer Arbeiten über dem Kopf erwartet der Philosoph entspannende Tage auf den Knien. Zweiseitenklebeband auf die Rückseite der Teppichfliese, Schutzfolie abziehen, auflegen; und so fort. Doch ein Zweiseitenklebeband ist nicht so harmlos, wie sein Name vortäuscht. Es verklebt nicht nur den gummierten Filzteppichfliesenboden mit dem vorhandenen Estrichboden, sondern auch die Schere, wenn diese nicht exakt und schnell genug das Band durchschneidet. Eine Stunde am Boden knieend schneiden, kleben und legen erweist sich schnell als größere Anstrengung für die Rückenmuskulatur, als das Stemmen von 4-Meter Brettern über dem Kopf um sie am Dachsparren zu verschrauben.
In der folgenden Nacht erwachte der Prozessmanager im Philosophen, der ihm klar machte, dass das Klebeband zunächst am Arbeitstisch stehend auf die Unterseiten der Teppichfliesen geklebt werden kann, um dann einen Stapel dieser Fliesen zu nehmen und am Boden kniend nur noch die Schutzfolie abzuziehen. Ein Transportbrett auf Rädern zur Ablage der Teppichfliesenstapel ermöglichte letztlich eine Verlegung wie am Fließband.
Die dritte, und nervlich größte Belastung ist die Übersiedlung von mehr als 500 Kunstwerken in den neuen Kunstraum. Fünf Fuhren, das heißt fünf voll beladene Ford Transit extra hoch und extra lang wurden beladen (das war noch einfach, weil ebenerdig) und entladen; danach über eine enge Stiege ins Dachgeschoß. Jede Fuhre füllte den halben Kunstraum und bei jeder Fuhre wurde der Philosoph zum Skeptiker, der bekennt: „Ich glaube nicht, dass das alles Platz hat. Aber ich bin sicher, dass es möglich ist.“ Auf die ersten drei Fuhren mit Möbeln und großformatigen Bildern folgt eine Woche Pause; nicht zur Erholung, sondern zum Räumen. Umräumen. Ausräumen. Einräumen. Aufräumen. Räumen! Man kann einen Raum nicht nicht vollräumen! Aber man kann viel Zeugs verräumen.
Von der Geburt der Idee bis zum Start der Umsetzung sind drei Monate vergangen, in denen die Vorstellung von der Idee reifen konnte. Die Umsetzung selbst hat ebenfalls drei Monate gedauert. Einen Monat dauerten Folgearbeiten und die Übersiedlungen. Gegen Ende wird die Arbeit zähflüssiger, da der Kunstraum zwar ansehnlicher und schöner wird, der restliche Dachboden jedoch enger und die Arbeit beschwerlicher. Nicht nur wegen der Enge, sondern auch, weil die Werkzeuge und Werkstoffe immer neue Ablagen finden, wo man sie nicht mehr findet. Daraus folgt: je länger es dauert, umso länger dauert es.
Jeder anständige Fachmann wird sich nun entrüsten: „Wie kann sich ein Philosoph erdreisten als Baumeister zu fungieren? In Wirklichkeit ist er ein gewaltiger Pfuscher“. Der Moralphilosoph erwidert: die Empörung ist berechtigt, denn es steht dem Fachmann an, seine Zunft vor Eindringlichen zu verteidigen. Der Sprachphilosoph erwidert: Gewalt kam bei der Schöpfung dieses Bauwerkes nicht zur Anwendung; wenn man davon absieht, dass er so manchen Nagel auf den Kopf getroffen hat und viele rostige Nägel unsanft aus den Brettern zog. Im Übrigen gibt es für jedes negative Urteil auch eine positive Wendung: der Pfuscher ist ein Amateur, ein Mensch, der Zeug und Lebewesen liebt; und alles, was er mit ihnen tut.
Amor ist der Gott der Pfuscher. Auch wenn der Pfuscher de jure nie ein Meister sein kann, so muss man ihm konzedieren, dass er doch das eine oder andere Gesellenstück zustande bringt.
Vielleicht werden manche fragen: „Was macht ein Philosoph, während er sägt, bohrt, schraubt, nagelt, schleift und hobelt?“ Er denkt sich jene Aphorismen aus, die in 2000 Jahren die Lehrbücher füllen werden. Hier ein Auszug:
+ Raum kommt von Räumen, deshalb verträgt Raum keine Leere.
+ Der Philosoph arbeitet von einem Punkt zum nächsten gegen den Uhrzeigersinn; im Gegensatz zu den Facharbeitern, diese arbeiten gegen die Zeit.
+ Der Philosoph ist immer planlos, aber niemals ahnungslos. Ganz im Gegenteil: er hat von allem was er denkt und tut eine Ahnung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
+ Philosophen arbeiten ohne Plan aber mit starker Vorstellungskraft.
+ Je länger die Arbeit dauert, umso länger dauert es.
+ Schöpfungskraft ist die Bedingung der Möglichkeit der Vorstellungskraft.
+ Vorstellungskraft ist die Bedingung der Möglichkeit der Umsetzungskraft.
+ Umsetzungskraft ist die Bedingung der Möglichkeit des Erfolgs.
+ Das psychoanalytische Menschenbild (Überich + Ich + Es), sowie das psychologische (Bewusstsein + Unterbewusstes + Unbewusstes), ersetzt der Philosoph durch Schöpfungskraft (das Vermögen, Ideen zu empfangen) + Vorstellungskraft + Umsetzungskraft.
Wer diese Ausführungen zu langatmig findet, der möge mit den baumeisterlichen Weisheiten eines Poeten vorlieb nehmen!
Christian Morgenstern (1871-1914)
Der Lattenzaun
Es war einmal ein Lattenzaun, mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah, stand eines Abends plötzlich da —
und nahm den Zwischenraum heraus und baute draus ein großes Haus.
Der Zaun indessen stand ganz dumm mit Latten ohne was herum,
ein Anblick gräßlich und gemein. Drum zog ihn der Senat auch ein.
Der Architekt jedoch entfloh nach Afri — od — Ameriko.