Theorie und Praxis der Ästhetik in der internationalen Politik
Vortrag von Nadim Sradj, gehalten am 23. Mai 2023 im Headquarter der UN in New York
Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ist von je her eine gespannte Beziehung, ein Spannungsverhältnis zwischen Denken und Erfahrung. In seinem Aufsatz „Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ äußert sich Immanuel Kant wie folgt: „wenn eine Theorie nicht für die Praxis taugt, dann nicht deshalb, weil die Theorie falsch ist, sondern, weil nicht genug Theorie in der Theorie war“. …
Unser theoretischer Ansatz beruht auf zwei Säulen;
1. Auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Sinnesphysiologie (Ernst Mach), der Sinnespathologie (Augenheilkunde), der mathematischen Topologie (Lagebeziehung geometrischer Strukturen) und dem Goldenen Schnitt (einer mathematischen Beziehung zwischen Teil und Ganzem) und
2. Die erkenntnistheoretische Grundlage des logischen Empirismus und die Wertlehre (Ethik).
Der Prozess der ästhetischen Wahrnehmung findet als eine Reiz-Reaktions-Beziehung statt. Der sinnesphysiologische Reiz des Auges ist beispielsweise das Licht, der des Ohres ist der Ton. Die Reaktion auf Reize jeder Art kann entweder adäquat oder nicht-adäquat sein und sich sowohl auf biologische als auch auf sozialpsychologische oder politische Prozesse beziehen. Ein Beispiel für eine nicht-adäquate Reaktion ist die Äußerung eines bekannten amerikanischen Politikers zum Thema „Welterwärmung“, der vorschlug dagegen mehr Kühlschränke zu bauen.
Auf sinnespathologischer Ebene ist die Metamorphopsie (das Verzerrt- sehen) als eine Form der „Falschnehmung“ zu nennen. Krankheitsbedingt treten derartige Störungen bei Patienten mit Maculadegeneration (Durchblutungsstörung der Netzhaut) auf, die oft eine Fehlorientierung in Raum und Zeit zur Folge haben. Auf psychologischer Ebene findet Wahrnehmung als senso-motorische Empfindung, als intuitive Erkenntnis statt.
Die Verwissenschaftlichung der Ästhetik
Eine autonome Ästhetik brauch ihre eigene Erkenntnistheorie, d.h. eine eigene Logik, eine eigene Methode und eigene Verfahren. Das Ziel ist, die Umwandlung der Ästhetik von der Kunst als Subjektivität, als „Geschmackssache“ in die Wissenschaftlichkeit, in eine geordnete Struktur. Damit wird sie neben Logik und Ethik der dritte Teil der Systemphilosophie im Sinne der praktischen Vernunft. Die Erkenntnistheorie der sinnesphysiologischen und sinnespathologischen Ästhetik beruft sich primär auf den logischen Empirismus des philosophischen Wiener Kreises, und hier speziell auf Ernst Mach und Hermann von Helmholtz. Die formale Logik der wissenschaftlichen Ästhetik ist induktiv; die Methode ist experimentell, das Verfahren ist die Formulierung einer Hypothese oder einer allgemeinen Aussage. Diese logische Strategie beruft sich auf die Ausführungen des Philosophen John Stuart Mill (1842).
Die Dynamik der Wahrnehmung kann eine höhere Ebene erreichen, indem sie von der rein sinnlichen Wahrnehmung zur abstrakten, auf eine neue Bewusstseinsebene wechselt. Wir definieren das Bewusstsein als inneren Kompass zur Allgemeinorientierung in Raum und Zeit. Diese beiden Begriffe, Raum und Zeit, werden im Folgenden differenziert dargestellt und vertieft.
Der Raum
Die sinnesphysiologische Ästhetik erweitert die euklidische Geometrie in nicht-euklidische Geometrien, wie z. B. die hyperbolische, sphärische und fraktale Form. Eine „Falschnehmung“ des Raumes kann eine Dystopie zur Folge haben, d.h. eine Störung des eigenen Koordinatensystems und damit eine Orientierungsstörung (lokal und global) zur Folge haben.
Die Zeit
Die Erweiterung des Zeitbegriffs erfolgt durch die Unterscheidung zwischen kalendarischer, historischer und natürliche, saisonaler Zeit. Zeit kann einerseits Bewegung (Kinesis) oder Veränderung (Metabole) bedeuten. Der Begriff der Metabole ist im Allgemeinen als „Stoff-Wechsel“, als Umwandlung bekannt.
Der Begriff der fraktalen Geometrie führte zur Entwicklung der „polyachsialen Chronometrie“, der vielachsigen Zeitdarstellungen. Die Welt wird unter diesen Voraussetzungen als multizentrisch in dynamischen Wechsel von Untergang und Auftauchen von Strukturen und Kultur- und Machtzentren gesehen. Die irreguläre Dynamik der Veränderungen ruft das Phänomen des Anachronismus, eines unzeitgemäßen Zeitverständnisses hervor. Das Zeitbewusstsein des Menschen bestimmt seine Herrschaftsstruktur. So hat z.B. das rückwärtsgewandte Zeitverständnis der Taliban entsprechende Auswirkungen auf ihr heute nicht mehr zeitgemäßes Verhalten gegenüber den Frauen. Der Anachronismus ist in diesem Fall Ursache des Antagonismus, des gegeneinander Kämpfens von religiösen und ideologischen Theorien.
Bewusstseinswandel
Unter „Bewusstseinswandel“ verstehen wir einen Prozess der Umwertung aller Werte, der sich nach einer radikalen Infragestellung des Bestehenden vollzieht. Ausgangspunkt einer solchen Veränderung ist eine Konfliktsituation zwischen verschiedenen Interessen und Paradigmen, wie beispielsweise zwischen Ökonomie und Ökologie, oder Technologie und Biologie, von Zweckrationalismus zum Naturalismus.
Definition
Politische Ästhetik ist an universellen Werten orientiert und an einem Ausgleich zwischen objektiver Erkenntnis und Interesse, nicht an individuellem Profit. Damit überwindet sie den Machiavellismus, der letztlich in einem Freund-Feind-Denken und danach zwangsweise in Krieg endet.
Anwendung
Gegenstand des Denkens in der klassischen Politik und Diplomatie ist ausschließlich der Mensch als „Maß aller Dinge“. Diese Art zu denken drückt sich in dem berühmten Satz Kants: „Der Mensch schreibt der Natur ihre Gesetze vor“ aus und gipfelt im bis heute weit verbreiteten Anthropozentrismus. Nur der Mensch gilt als Wesen, dessen Würde geschützt werden muss (Art. 1, GG). Alle anderen Lebewesen gelten als verfügbare Gegenstände. Die Dreiheit von Mensch, Tier und Pflanze ist demgegenüber Ausdruck eines Naturverständnisses als unbewusster Geist.
Feminine versus maskuline Politik und Diplomatie
Der Zugang zur Natur ist in der Regel unterschiedlich bei Männern und Frauen haben oftmals mehr Sensibilität für die spezifischen Reize der Natur, wie Gerüche, Farben, Formen, Veränderungen oder Bedrohungen. Die Idee zur Beherrschung der Natur nach dem Motto „macht Euch die Erde untertan“ ist offensichtlich ein eher männlicher Gedanke.
Praxis der Ästhetik in der internationalen Politik
Mit der Berührung von Ästhetik und Politik gelangt die Ästhetik in den Bereich des Machtdenkens. Nebenwirkungen der Macht können – wenn sie stark genug sind – in einen Rausch der Macht münden. Ästhetik in einer solchen Situation wird unter dem Einfluss extremen Gedankenguts zur Anti-Ästhetik und neigt in diesem Stadium zur Vernichtung von Werten, wie erhaltenswerter Kulturgüter. Durch die Sprengung der Buddhafiguren von Bamiyan trat der Gedanke der Ästhetik erstmals in das Bewusstsein der Menschheit und löste allgemeines Unverständnis aus. Die Zerstörung von historischen Stätten wie Palmyra, Kirchen und Klöstern (z.B. Ma“alula/ Syrien), Museen (Irak) war weit mehr als ein Angriff auf Gebäude und Gegenstände, sondern auf die Identität und Symbole und Traditionen von Kulturnationen. Daher fordern wir die UNESCO auf, sich ernsthafter zu engagieren, derartige terroristische Untaten zu verfolgen und vor internationale Gerichte zu bringen.
Ergebnisse
1. Es ist an der Zeit, über den Begriff der Weltethik hinauszugehen und eine Weltästhetik zu entwickeln, die diesen heutigen Anforderungen gewachsen ist. Wir sehen darin einen qualitativen Sprung der politischen Philosophie im 21. Jahrhundert.
2. Einführung der Ästhetik in die Lehrbücher der Politologie und Diplomatie als eine neue Kategorie des menschlichen Denkens und Handelns.
3. Und damit die Anwendung der Ästhetik in der Realpolitik, wie es der österreichische Philosoph Hubert Thurnhofer bereits seit 2022 praktiziert.
4. Ökologie bekommt durch die Idee der Schönheit eine neue emotionale Bedeutung, wodurch die Natur als Quelle der Faszination, der Phantasie und des Glücks betrachtet wird. Dieses allgemeine positive Grundgefühl dient der Völkerverständigung und dem Weltfrieden.