Offener Brief von Prof. Erwin Bader
Geehrter Herr Bundeskanzler Nehammer,
wenn Sie die bei den meisten übrigen Parteien konsensuelle Ablehnung der FPÖ dafür missbrauchen, um Ihre fragwürdige Anbandelung bei der NATO zu beschönigen, ist dies geradezu schamlos dem Volk gegenüber, das mehrheitlich für die Neutralität ist!
Ja, es stimmt, dass die legitimer Weise zu erwartende Sicherheit durch die Neutralität derzeit wirklich nicht mehr wie früher gegeben ist, und zwar seitdem sich Österreich in neutralitätswidriger Weise im aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, trotz offener faktischer Kriegsbeteiligung der NATO im Sinne ihrer wirtschaftlichen und militärischen Interessen, nicht nur einseitig der Sprachregelung der NATO unterworfen hat, sondern sich auch den „westlichen“ Sanktionen anschließt, Kriegsmaterial durch das Land und im Luftraum über dem Staatsgebiet ziehen lässt und wenn Österreich zwar nicht selbst Waffen liefert, aber Geldspenden locker macht, die für Waffenkäufe einzusetzen der Ukraine ein Leichtes ist etc.! Damit wurde die Glaubwürdigkeit der Neutralitätspolitik Österreichs bereits erheblich vermindert! Und dies schadet zweifellos der Sicherheit Österreichs!
Russland bezichtigte jüngst Österreich nicht ohne Grund der de-facto-Aufgabe der Neutralität und zählt unseren Staat sogar zu den feindlichen Staaten! Wenn Sie aber die Lösung des Problems in einer noch stärkeren Annäherung zur NATO suchen, ist dies, wie wenn ein Alkoholiker merkt, dass er von Alkohol abhängig zu werden beginnt und die Lösung darin sieht, in Zukunft noch schärfere alkoholische Getränke zu konsumieren. Anders gesagt hat der Staat oder die Regierung sich selbst etwas zuschulden kommen lassen, dessen Folgen man nun durch die Vergrößerung der Schuld beheben möchte. Aber Russland hat trotz der Untreue Österreichs hinsichtlich des Neutralitätsversprechens bisher nicht etwa mit einem Einmarsch in Österreich gedroht und es gibt auch keine andere unmittelbare Gefahr eines Überfalls o. ä., wodurch die Sicherheit Österreichs so massiv gefährdet wäre, dass Österreich sich nun unbedingt beim Aufbau des Skyshield-Programmes durch die NATO beteiligen müsste, um sich damit noch mehr von diesem Militärbündnis abhängig zu machen, in der Annahme, nur mit diesem zweifelhaften Schritt einer unmittelbar bevorstehenden Sicherheitsbedrohung zu begegnen.
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler Nehammer, nun sogar eine legitime, vielleicht zu populistisch geschmückte oder zu unscharf begründete Meinungsäußerung missbrauchen, um es so hinzustellen, als ob der Wunsch nach voller Erhaltung der Neutralität (ohne NATO-Europa-Skyshield-Teilnahme) eine Gefährdung der Sicherheit Österreich darstelle, ist dies unverschämt und verlogen! Vielmehr entstand eine gewisse Gefährdung der österreichischen Sicherheit namentlich durch die Unterlassung der neutralitätspolitischen Pflicht zur Vermittlung zwischen den Kriegsparteien im Ukrainekrieg (egal ob absichtlich oder wegen Unfähigkeit). Doch diesem Sicherheitsrisiko kann Österreich nur Herr werden, wenn man endlich begreift, dass ein dauernd neutraler Staat keinen der beiden Kriegsparteien (ne uter = keinen von beiden!) besser oder schlechter zu behandeln hat, soweit dies die Siegeschance eines der beiden Kriegsparteien beeinträchtigen oder steigern könnte, ungeachtet der völkerrechtlich definierten Kriegsschuld – ja selbst wenn es sich um einen Krieg zwischen einem Heer der Engel gegen eines der Teufel handeln sollte! Dann und nur dann ist die Neutralitätspolitik glaubwürdig und besteht die Chance der dem neutralen Staat aufgetragenen Vermittlerrolle zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens, dessen Trittbrettfahrer dann alle anderen Staaten sind, wie dies schon im Kalten Krieg bei der Kuba-Krise einmal zur Abwendung einer drohenden Atomkatastrophe konkret der Fall war.
Karl Jaspers formulierte es so: „Die Verantwortung der Neutralität [ist:] der Menschheit zu dienen durch Bewahrung eines Ortes, an dem in allem Kampf die Kämpfenden sich noch treffen können zum Gespräch; das gewaltlos Menschliche sichtbar und rein zu erhalten; dem Gedanken der Hilfe statt des Kampfes mit gleichen Opfern wie der Kämpfende zu erfüllen.”
Auch in Schweden, wenngleich man dort im Zweiten Weltkrieg die Neutralität relativ salopp interpretierte, ist das Volk nach dem NATO-Betritt, wie NZZ berichtet, nicht so glücklich wie man bei uns meint. Eine schwedische Zeitung wird zitiert: „Mit dem Beitritt zur NATO betrat Schweden eine Welt, in der Sicherheitsinteressen manchmal Vorrang vor Demokratie haben.“
Österreich verschafft sich dasselbe Risiko mit der Teilnahme am NATO-Skyshield - auch ohne formeller NATO-Mitgliedschaft. Wobei das Risiko keineswegs nur eines für die Demokratie ist! Wenn Österreich Russland absichtlich provoziert und sich irgendwann freut, dass manche Raketen, die Österreich treffen sollten, eh abgeschossen werden, ist dies eine Chuzpe gegenüber dem österreichischen Volk! Und hinter der rein militärisch verstandenen Sicherheit steht oft das Geschäftsinteresse der Waffenindustrie.
Aus lauter Angst vor der weltgeschichtlichen Größe der Aufgabe, die Österreich 1955 mit seiner Neutralitätsverpflichtung auf sich nahm (vgl. das Zitat von Jaspers!), scheinen Österreichs Politiker zu viel auf Waffen und Krieg, aber zu wenig auf Vernunft und Frieden zu setzen! Und das in unserem Zeitabschnitt, in dem eigentlich die weltweite Kooperation zur Minderung der Klima- und Umweltschäden nötig wäre! Wenn schon die Staaten die Lösung ihrer Beziehungsprobleme nur durch den Sieg der einen Partei über die andere, also nur über Leichen für möglich halten, dann wundert es wenig, dass die Zahl der Tötungsdelikte auch im Privatbereich so stark ansteigt!
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Die Frage des Fortbestands der österreichischen Neutralität ist aktuell wohl die wichtigste Frage, deren Beantwortung über das Schicksal Österreichs in naher Zukunft entscheiden wird und es ist eine der wenigen essenziellen Fragestellungen, die die Politik nicht im Alleingang eines Quasi-Einparteiensystems entscheiden kann, ohne sich auf einen breiten Konsens in der österreichischen Bevölkerung zu stützen. (DETAILS: norbertstock.substack.com)