Bertrand Russell, 1872-1970, Mathematiker, Philosoph, Autor dutzender Bücher, darunter keine einzige Fiktion, aber trotzdem Literaturnobelpreisträger 1949, Friedensaktivist und Antiimperialist, hat 1938 das Buch „Power. A New Social Analysis“ publiziert (deutsche Übersetzung „Macht“ 1947, Neuauflage 2009 unter dem Titel „Formen der Macht").
Aus Russells Sicht der späten 1930er Jahre stehen Demokratie, Faschismus und Nationalsozialismus, sowie der Kommunismus im direkten Machtkampf und Propaganda-Wettbewerb um die politische Vorherrschaft. Aber auch königliche Macht, wirtschaftliche Macht, die Macht des Glaubens, sowie Moral und Ethik der Macht stehen im Fokus von Russells Betrachtungen.
Im ersten Kapitel „Der Trieb zur Macht“ dürften einige Zitate dem heutigen Zeitgeist schwer zu erklären sein: „Von den unendlichen Begierden des Menschen zielen die wesentlichen nach Macht und Herrlichkeit. … Nur durch die Erkenntnis, daß Machtliebe die Ursache der im Gesellschaftlichen zählenden Handlungen ist, kann Geschichte, gleichviel, ob alte oder moderne, richtig interpretiert werden.“ Russell will in weiterer Folge den Beweis erbringen, „daß der Fundamentalbegriff in der Gesellschaftswissenschaft Macht heißt im gleichen Sinne, in dem die Energie den Fundamentalbegriff in der Physik darstellt.“
Machtliebe, Machttrieb – diese Begriffe sind heute nur noch schwer von der Assoziation „Psychopath“ und „Soziopath“ zu trennen. Und Russell selbst hat diesen Politikertypus als Zeitzeuge von Hitler und Stalin erlebt. Doch Russell sieht im Machttrieb ein Phänomen, das in allen Gesellschaftsformen aller Zeiten eine tragende Rolle gespielt hat. Als analytischer Philosoph betrachtet er diesen Begriffe wertfrei.
Als Pazifist (er war während des 1. Weltkriegs sechs Monate als Kriegsdienstverweigerer inhaftiert) ist Russell aber Verfechter einer gewaltfreien Gesellschaft. Er wertet indem er Stellung bezieht und - wie er im letzten Kapitel schreibt - für „die Zähmung der Macht“ kämpft. Doch sogar in diesem Kapitel gelingt es ihm, heutige Verteidiger der Demokratie vor den Kopf zu stoßen: „Die Verdienste der Demokratie sind negativer Natur: Sie sichert keine gute Regierung, sondern verhindert bestimmte Übel.“
Aus diesen Worten spricht nicht nur der Zeitgeist der 1930er Jahre, in denen die Demokratie noch in den Kinderschuhen steckte. Zugespitzt (und mit Blick auf Nazi-Deutschland) formuliert Russell: „Die erfolgreichsten demokratischen Politiker sind jene, die es fertigbekommen, die Demokratie abzuschaffen und Diktatoren zu werden.“ Auch aus historischer Sicht erinnert der Autor daran, dass ein Parlament alleine noch keine Demokratie macht. Russell kritisiert insbesondere: „Das oligarchische Parlament des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts gebrauchte seine legislative Gewalt, um den Wohlstand der Reichen auf Kosten der Land- und Stadtarbeiter zu erhöhen.“
Doch zurück zur Zähmung der Macht: „Schutz für die Minderheiten, soweit er mit einer ordnungsgemäßen Regierung in Übereinstimmung zu bringen ist, stellt einen wesentlichen Teil der Zähmung der Macht dar.“ Trotz einer Relativierung im Nebensatz bleibt diese Aussage weitgehend präzise. Geradezu idealistisch formuliert Russell dagegen an vielen anderen Stellen, z.B. „Es gibt für die Welt keine Hoffnung, solange Macht nicht gezähmt und dienstbar gemacht werden kann, nicht dieser oder jener Gruppe fanatischer Tyrannen, sondern der ganzen Menschheit dienstbar gemacht werden kann.“
Scheinbar im Widerspruch dazu steht die Aussage: „Ich für meinen Teil glaube, daß, was immer gut oder schlecht ist, in Einzelpersönlichkeiten liegt und nicht in erster Linie in Gemeinschaften.“ Heute, acht Jahrzehnte nachdem Russell sein Buch „Power“ publiziert hat, drei Jahrzehnte nach dem Fall des eisernen Vorhangs, hat sich die Welt radikal verändert. Der Individualismus äußert sich primär als Egoismus, Meinungsfreiheit bedeutet Gleichgültigkeit (alle Aussagen und Argumente sind gleich gültig), die Freiheit des Marktes für alle Unternehmen manifestiert sich in der Willkür weniger marktbeherrschender Konzerne.
Golo Mann verweist in seinem Essay „Moral und Politik“ (erschienen in DER SPIEGEL - 16.10.1972 ) auf die Widersprüchlichkeit von Russels Ausführungen: „Als logischer Positivist muß Russell Worte wie "gut" und "schlecht" für sinnleere Laute halten. Da er aber in seinen späteren Jahren Logiker nur im Nebenberuf war, in der Hauptsache ein hilfreicher Berater der Menschheit sein wollte, so konnte ihm eine so unnützrichtige These nicht genügen. Das Gute, meint er dann, ist gleich Wunscherfüllung. Weil der Mensch im Kollektiv lebt, und anders nicht leben kann, so ist das Gute gleich Wunscherfüllung für die Mehrheit, gleich dem Gemeinwohl.“
Die Idee, dass in vielen Fällen das Gemeinwohl über den Bedürfnissen einzelner Menschen stehen soll, hat sich seit Beginn dieses Jahrhunderts eine breiter werdende Bewegung unter dem Dach der „Gemeinwohlwirtschaft“ zu Eigen gemacht. In dieser Hinsicht muss eine Ethik für das 21. Jahrhundert die Grenzen zwischen Individualismus und Kommunismus neu ziehen, denn zu Recht kritisiert Russell am altbekannten Kommunismus, dass „derartige philosophische Systeme nur die Privilegien der Machthaber rechtfertigen sollen“.
Weisheit und Ehre könnten die Verbindungswerte zwischen Individualismus und Kommunismus sein, wenn man Russells idealistischer Definition folgt: „Während die hervorstechende Tugend des 'gentleman' Ehre ist, heißt die des Mannes, der Macht durch Studium erlangt, Weisheit.“ Angesichts seiner Anfangsthese ist Russell auch überraschend idealistisch, wenn er meint: „Es ist letzten Endes nicht die Gewalt, die die Menschen regiert, sondern die Weisheit jener, die die gemeinsamen Sehnsücht der Menschen anrufen – Glück, inneren und äußeren Frieden und Verständnis für eine Welt, in der wir, nicht durch eigene Wahl, leben müssen.“
Nach dem 2. Weltkrieg, in der Hoffnung auf das Ende von Fanatismus und Diktaturen, publizierte Russell in der New York Times am 16. Dezember 1951 seine „liberalen Dekalog“ am Ende seines Artikels „Die beste Antwort auf Fanatismus: Liberalismus”. Hier der Wortlaut, übersetzt von AUFKLÄRUNG UND KRITIK. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Heft 2 / 1994, Hrsg. Gesellschaft für kritische Philosophie (GKP)
Bertrand Russell: Zehn Gebote eines Liberalen
1. Fühle dich keiner Sache völlig gewiss!
2. Trachte nicht danach, Fakten zu verheimlichen, denn eines Tages kommen die Fakten bestimmt ans Licht!
3. Versuche niemals jemanden am selbständigen Denken zu hindern; es könnte dir gelingen!
4. Wenn dir jemand widerspricht, und sei es dein Ehepartner oder dein Kind, bemühe dich, ihm mit Argumenten zu begegnen und nicht mit der Autorität, denn ein Sieg der Autorität ist unrealistisch und illusionär!
5. Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem Fall auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansicht sind!
6. Unterdrücke nie mit Gewalt Überzeugungen, die du für verderblich hältst, sonst unterdrücken diese Überzeugungen dich!
7. Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heutige Meinung war einmal exzentrisch!
8. Freue dich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung; denn wenn die Intelligenz so viel wert ist, wie sie dir wert sein sollte, dann liegt im Widerspruche eine tiefere Zustimmung!
9. Halte dich an die Wahrheit auch dann, wenn sie nicht ins Konzept passt! Denn es passt noch viel weniger ins Konzept, wenn du versuchst, sie zu verbergen!
10. Neide nicht denjenigen das Glück, die in einem Narrenparadiese leben; denn nur ein Narr kann das für ein Glück halten!
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