Zehn Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion
29. Mai 2025 - Im Jahr 1984 waren die Buchläden voll mit dem gleichnamigen Bestseller von George Orwell. Viele seiner düsteren Zukunftsvisionen aus dem Jahr 1948 schienen weit weg zu sein, real nur hinter dem Eisernen Vorhang. Neusprech und allgegenwärtige Kontrolle sind aber spätestens 2020 im lange gepriesenen „Westen“ tiefer in unseren Alltag eingedrungen, als sich das Orwell vorstellen konnte. Der Große Bruder tritt als treuer, digitaler Hund in Erscheinung, der uns immer und überall begleitet. Sein Name ist nicht Hundi sondern „Handy“. Damit sind wir für amazon, facebook, google und Co rund um die Uhr erreichbar; TV, konkret ORF – Österreichischer Regierungsfunk – erledigt den Rest, zumindest auf der Insel der Seligen.
Ob das allgegenwärtige Handy die Menschen gescheiter, freier oder gar glücklicher gemacht hat, darf bezweifelt werden. Die Menschen leben jedenfalls länger, als je zuvor – zumindest im Westen. Ob es damit zusammenhängt, dass sie sich weniger oft selbst umbringen? Die KI Copilot weiß: im Jahr 2022 gab es einen temporären Anstieg von 16 % im Vergleich zum Vorjahr, insgesamt beträgt der Rückgang gegenüber 1986 jedoch rund 40%. Im Jahr 2023 starben in Österreich 1.212 Personen durch Suizid, was einer standardisierten Suizidrate von 14 pro 100.000 Einwohner:innen entspricht. Mehr als drei Viertel der Suizidtoten sind Männer.
Ob sich Erwin Ringel über diese Entwicklung freuen würde? Im Jahr 1984 erschien sein legendäres Buch „Die österreichische Seele“, eine Sammlung von zehn Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion. Der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Tiefenpsychologe, Psychotherapeut (Individualpsychologe nach Alfred Adler) gründete 1948 das erste Selbstmordverhütungszentrums Europas in Wien. 1953 beschrieb er das Präsuizidale Syndrom. Das Buch beginnt mit
“Eine neue Rede über Österreich“
in der Ringel auf die Rede über Österreich von Anton Wildgans aus dem Jahr 1929 Bezug nahm.
Erwin Ringel (1921 – 1994) leitet seine „neue Rede über Österreich“ mit einer Hommage an Anton Wildgans ein: dessen „Rede über Österreich ist das Schönste, was bisher über Österreich gesagt wurde“, und relativiert umgehend: „Stimmt sie auch?“ Während Wildgans sich in seinem „Bekenntnis zum österreichischen Menschen“ dazu neigt, die Österreicher dank ihrer Kultur, insbesondere ihrer Dichter Grillparzer, Nestroy, Raimund und Lenau zu überhöhen, bohrt der Psychoanalytiker in den tiefsten Abgründen der österreichischen Seele. So lautet seine erste These:
„Dieses Land ist eine Bruststätte der Neurose (doppelt treffendes Wort, weil diese Krankheit ja in der Kindheit ‚ausgebrütet‘ wird. Neurosen gibt es selbstverständlich überall, aber kaum ein Land, in dem sie so ‚blüht‘ wie hier. Ich will das Verdienst Freuds, dieses einmaligen Genies, wahrlich nicht schmälern, aber es war nicht schwer, in diesem Land die Neurose zu entdecken“. (9)
„Zweite These: Der durch die Neurotisierung entstandene Haß gegen die Eltern darf nicht ausgerückt werden. Die Kinder sind ja von ihnen abhängig, und das Gewissen verbietet andere kindliche Gefühle als Liebe.“ (12) Statt den Haß auszuleben oder zumindest auszusprechen wird er verdrängt. „Was wir nun in der Kindheit so ‚gut‘ gelernt haben, nämlich das Verdrängen, das setzen wir später konsequent fort, so dass man uns geradezu eine ‚Verdrängungsgesellschaft‘ nennen könnte.“ (13)
„Dritte These: […] die Verdränger haben vor niemandem so große Angst wie vor denjenigen, die kommen und versuchen, diese Verdrängung aufzuheben. Darum sind die Mahner, die Aufdecker, die Wahrheitssucher, die Propheten in diesem Lande nicht erwünscht.“ (20)
Vor 40 Jahren war die Verdrängung der österreichischen Nazi-Vergangenheit noch ein akutes Thema, die Vergangenheit nicht ausreichend bearbeitet, geschweige denn bewältigt. Die im damaligen Diskurs übliche Behauptung der Kollektivschuld stellt Ringel subtil in Frage: „Kann man im Begriff der Kollektivschuld untertauchen, der persönlichen Verantwortung damit entkommen? Wenn man bereit ist, sich einem Kollektiv einzuordnen, welches dem Gesetz der Massenpsychologie unterliegt, wo man also andere für sich selber denken läßt und nur Befehle ausführt, so bleibt man doch verantwortlich dafür, dass man sich zu einem Mitglied einer solchen Pseudogemeinschaft hat machen lassen. Es gibt also keine Kollektivschuld, sondern nur eine Schuld einzelner, die das Kollektiv bilden.“ (17)
Nach Ausbruch der Corona-Herrschaft 2020 konnte unsere Generation die Gesetze der Massenpsychologie live studieren. Heute, fünf Jahre später, haben in Österreich die Verursacher der Massenpsychose (Kurz, Anschober & Co) ihre Ruder aus der Hand gegeben und den Verdrängern (Stocker, Meinl-Reisinger, Babler) übergeben; alles Leute, die heute sagen können, „ich habe ja nichts getan.“ So wie seinerzeit die Nazi-Mitläufer, über die der Ex-Bundeskanzler Fred Sinowatz gesagt hat: „Und Sie wissen gar nicht, welche Selbstanklage in diesem Satz eigentlich enthalten ist! Wir haben nichts getan, wo Menschen verfolgt worden sind, wir haben nicht geholfen, haben weggeschaut, haben es geduldet, sind still geblieben.“ (15)
Sapere aude!