Es heißt, Sebastian Kurz habe die „Balkanroute“ geschlossen. Wer auch immer diese Legende erfunden hat, Fakt ist, sie wurde von hunderten Medien ungeprüft übernommen. Fakt ist auch, dass Kurz 2013 bis 2017 Minister für Europa, Integration und Äußeres war. Sein Job war demnach Integration von Ausländern und nicht die Flüchtlingsabwehr. Sein Job war auch Österreich im Ausland und in der EU zu vertreten. Fakt ist, dass termingerecht, als die „Flüchtlingswelle“ schon zu Ende war, für Millionenbeträge Zäune an der Slowenisch-Österreichischen Grenze errichtet wurden. Zuständig dafür war nicht der Außenminister, nicht der Europaminister, nicht der Integrationsminister und auch nicht der Obmann der Jungen Volkspartei, Sebastian Kurz, sondern seine politische Ziehmutter, die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner.
Das ist eine Legende, die Karl-Heinz Maier-Braun in seinem „Schwarzbuch Migration“ nicht erzählt. Das liegt daran, dass er ein Buch über Deutschlands Flüchtlings- und Migrationspolitik geschrieben hat, in dem Österreich nur eine Nebenrolle spielt. „Flüchtlingskrise“ - die Probleme, die sich Deutschland 2015 mit „Wir schaffen das“ zugezogen hat – schreibt der Journalist konsequent unter Anführungszeichen. Das bedeutet sogenannte Flüchtlingskrise, weil die Krise nicht von den Menschen verursacht wurde, die auf der Flucht sind, sondern von der aktuellen Weltpolitik und Weltwirtschaft. Und es ist eine sogenannte Flüchtlingskrise für Europa, weil sich „bei der Rekordzahl von 65,6 Millionen Flüchtlingen auf der Welt“ nur ein geringer Anteil in Europa aufhält und nach Europa kommt.
„Im Libanon sind seit Jahren über 20 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge, in einem Land halb so große wie Sachsen. Auf Deutschland übertragen, wären das 16 Millionen.“
Auch wenn in Sonntagsreden oft gefordert wird, man müsse die Fluchtursachen bekämpfen, so werden de facto nur die Flüchtlinge bekämpft. Für diese Politik findet der Journalist dutzende Beispiele aus den vergangenen Jahren. Das Phänomen ist aber nicht neu, Maier-Braun meint: „Alles schon einmal dagewesen.“ Im gleichnamigen Kapitel dokumentiert er die Migrationspolitik Deutschlands seit den 1980er Jahren, die immer wieder von „Symbolpolitik“ geprägt war und auch deshalb im Zick-Zack-Kurs verläuft, weil sich Wirtschaft und Politik nicht darüber einig werden, ob Deutschland ein „Einwanderungsland“ sei.
Natürlich dokumentiert der Journalist auch, dass nicht nur Deutschland, sondern die gesamte EU kein Migrations-Konzept hat: „Weil legale Einwanderungsmöglichkeiten sowohl für Arbeitsmigranten als auch für Flüchtlinge praktisch nicht vorhanden sind, blüht das Geschäft der Schlepper.“ Diese Behauptung scheint gewagt, doch es lohnt sich, nochmals genauer über Ursache und Wirkung nachzudenken.
Gemäß Meier-Braun ist Europa mitverantwortlich für das Schlepperwesen, weil es keinen Kanal geschaffen hat, durch den Flüchtlinge auf legalem und humanem Weg nach Europa gelangen könnten. Die Flüchtlingspolitik ist bis heute gekennzeichnet vom Florianiprinzip: die Probleme der Nachbarn, konkret der Grenzländer, waren den Zentraleuropäern egal, solange es nur in den Mittelmeerländern gebrannt hat.
Das Dublin-Recht, wonach das erste Land, das ein Migrant betritt, dessen Versorgung sicherstellen muss, ist eine Diskriminierung aller Länder mit EU-Außengrenzen. Wie sollte ein Flüchtling aus Syrien die Bundesrepublik Deutschland als Erstland betreten? Das geht nicht über das Mittelmeer, das geht auch nicht über Land. Aber es wäre möglich mit dem Flugzeug. Und diese Möglichkeit wurde verhindert, indem der Westen Gesetze erlassen hat, die Fluglinien verpflichten, für alle Fluggäste, die ohne gültiges Visum einreisen, die Haftung und infolge die kompletten Kosten zu übernehmen. Anders gesagt: private Fluglinien wurden und sind gezwungen staatliche Aufgaben (nämlich die Visakontrolle) zu übernehmen.
Der Autor des „Schwarzbuches“ hat somit recht. Er verwechselt nicht Fluchtursachen mit den Folgen der Flüchtlingsströme, sondern er analysiert exakt die Ursachen des Schlepperwesens. Schwieriger wird die Analyse bei der Untersuchung der Fluchtursachen. Und das ist logisch, denn davon gibt es dutzende, die zum Teil verflochten sind und zum Teil singulär auftreten. So sind oft Menschenrechte missachtende Regime Fluchtursache, in manchen Staaten verstärkt durch kriminelle Machenschaften internationaler Konzerne, die den Diktatoren u.a. Schürfrechte für Rohstoffe abkaufen. Das Geld dafür fließt dann auf die privaten Konten der Diktatoren und nicht in die Staatskassen.
Generell sind die „ungerechte Weltwirtschaftsordnung“ und „die soziale Ungerechtigkeit auf der Welt“ Ursachen für Flucht und Migration. Diese Ursachen sind freilich so komplex, dass ihre Analyse viele Bücher erfordert. Und die gibt es auch schon, allerdings nicht zum Schlagwort „Flüchtingskrise“, sondern Titel wie „Arm und Reich“ (Nobelpreisträger Joseph Stiglitz), „Der große Ausbruch“ (Nobelpreisträger Angus Deaton) oder „Der Sektor“ (Wirtschaftswissenschafter Michael Hudson) um nur drei Beispiele aus den vergangenen fünf Jahren zu erwähnen.
Für all jene, die sich gerne mit einer alles erklärenden, einfachen Antwort auf komplexe Fragen abspeisen lassen, erinnert Meier-Braun auch an die „Verschwörungstheorie, der US-Milliardär George Soros sei für die 'Flüchtlingskrise' verantwortlich und plane eine 'Migranteninvasion'. Diese würde durch die 'Unterwanderung' der europäischen Gremien und die von Soros finanzierten Zivilorganisationen geschehen.“
Resümee von Meier-Braun: „Bisher und nicht erst seit der aktuellen 'Flüchtlingskrise', sondern seit Jahrzehnten, können nur diejenigen ihr Recht auf Schutz beanspruchen, die illegal meist mit Schleppern nach Europa gelangen, was man zurecht als pervers bezeichnen kann.“
Karl-Heinz Meier-Braun
Schwarzbuch Migration
Die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik
C.H. Beck, München 2018