Über den Sturz des Lenin-Denkmals, das der Moskauer Bildhauer Sergej Merkurow 1952 im Auftrag Stalins errichtet hat, berichtet Lutz Kleveman im Prolog seines Buches „Lemberg. Die vergessene Mitte Europas“. Anstelle des beauftragten 50 Meter hohen Monuments entschied sich der Künstler für eine moderate 14 Meter hohe Skulptur direkt vor der Oper. Dafür konnte er den frei gewordenen Platz verwenden, wo zuvor eine Reiterstatue von Jan III. Sobieski stand. Dieses Denkmal haben die von den Sowjets vertriebenen Polen 1945 nach Danzig mitgenommen. Im Herbst 1990 haben Bürger Lembergs Lenin von seinem roten Granitsockel gestürzt. Das ganze Monument zerbrach. „Da geschah etwas Sonderbares: Die Männer hielten inne, wichen zurück, ihre Blicke auf den zerbrochenen Sockel gerichtet, und erstarrten. Nun sahen es alle: unter einer dünnen Schicht roten Granits waren Steinplatten hervorgebrochen, die die sowjetischen Bauherren 1952 in den Sockel einzementiert hatten. Sie trugen, für alle erkennbar, hebräische Inschriften. Vögel, Herzen und Kronleuchter waren in sie eingraviert. Es waren mazewot, jüdische Grabsteine. […] Mehr als 25 Jahre sind seit jenem Tag vergangen, aber noch heute liegt Lembergs Geschichte unter dickem Zement.“
Ein starker Einstieg in die Geschichte einer Stadt, die in den ersten fünf Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts zur Habsburger Monarchie, dann zu Polen, zur Sowjetunion, zu Nazideutschland und schließlich wieder zur Sowjetunion gehörte. Die Zeit bis 1945 steht im Mittelpunkt von Klevemans historischer Reise, die er 2014/2015 mit mehreren persönlichen Reisen nach Lemberg vertieft. Der Historiker und Journalist verbindet zwei Methoden: die klassische Forschung in Archiven und die journalistische Recherche vor Ort. Die Gespräche mit Zeitzeugen zählen zu den besten Teilen des Buches.
Kleveman hat die Gegenwart zwar in Form einer parallel geführten Reisereportage eingearbeitet, doch die Sowjetzeit 1945-90 und die Ära der Unabhängigkeit der Ukraine seit den 1990er Jahren fehlen. Vielleicht schreibt der Autor darüber einmal ein eigenes Buch. Es wäre wünschenswert, denn sein Zugang ist originell und lehrreich. Die Geschichte einer Stadt ist nämlich nicht nur durch die teilnehmende Beobachtung des Autors persönlicher, sondern auch durch das eingegrenzte Themenfeld menschlicher und tiefer, als die üblicher Weise breit angelegten Werke einer Epoche oder eines Landes.
So schwebt der Hitler-Stalin-Pakt in Büchern über den Zweiten Weltkrieg meist wie ein dämonischer, ungreifbarer Mythos über der Geschichte. Wie er sich in Lemberg niedergeschlagen hat, erzählt Kleveman in vielen Geschichten: „In einem streng geheimen Zusatzprotokoll wurde vereinbart, dass man Polen im Kriegsfall gemeinsam besetzen und unter sich aufteilen würde. […] Um international nicht als Aggressor dazustehen, wollte Stalin den Einmarsch der Roten Armee offiziell damit begründen, dass sie die weißrussischen und ukrainischen Minderheiten in Ostpolen beschütze. […] um den Schutz slawischer Brüder als causa belli glaubwürdig zu machen, warteten die Sowjets ab, bis die Niederlage Polens feststand. […] Die polnischen Verteidiger der Stadt befanden sich in einem Dilemma. Ihre Lage war verzweifelt, doch wem sollten sie sich ergeben? Es war eine Wahl zwischen Pest und Chorlera. […] in der Nacht zum 22. September [1939] nahm die sowjetische Armee Lemberg kampflos ein.
[…] Die polnischen Offiziere, die sich den Sowjets ergeben hatten, sollten ihre Entscheidung teuer bezahlen. Während die einfachen Soldaten unbehelligt blieben, ließen die sowjetischen Kommandeure alle Offiziere verhaften. Obwohl Nikita Chruschtschow, der als Politkommissar mit der Roten Armee nach Lemberg gekommen war, ihnen freies Geleit zugesichert hatte, wurden sie in drei russische Straflager gebracht. […] In Lemberg präsentierten sich die sowjetischen Besatzer als Befreier von den polnischen Herren, den Pans, [..] Die anfängliche Milde der neuen sowjetischen Herren lag daran, dass sie die Bevölkerung in den besetzten Gebieten erst noch davon überzeugen wollten, freiwillig der Sowjetunion beizutreten. Zu diesem Zwecke wurden für Ende Oktober 1939 parlamentarische Wahlen angesetzt […] Vielen Lembergern kam der Wahlgang eher wie eine Prozession oder Theaterinszenierung vor. Tatsächlich war er ein erster Akt sowjetischer Massenmobilisierung. […] In der Zwischenzeit hatte der NKWD damit begonnen, vermeintliche Regimegegner und andere ‚Volksfeinde‘ in Lemberg zu verhaften. Damit wurde klar, dass der eigentliche Sinn der scheindemokratischen Wahlen vor allem darin gelegen hatte, alle neuen Sowjetbürger zu registrieren […] was in den folgenden Monaten für viele fatale Folgen haben sollte.“ (S. 134 ff)
Ein eigenes Kapitel widmet der Autor dem Biologen Rudolf Stefan Jan Weigel. Das Kapitel „Weigels Labor“ liest sich wie das Drehbuch für einen Film à la „Schindlers Liste“. Dem Forscher ist es gelungen ein Serum gegen Fleckfieber zu entwickeln, das im Krieg an allen Fronten dringend benötigt wurde. Das Serum wurde aus Läuse-Kot hergestellt. Für diese Produktion musste Weigel als „Läusefütterer“ hunderte Menschen beschäftigen. So konnte er viele Juden und Wissenschafter unterbringen und vor den Lagern der Sowjets und den Lagern der Nazis retten. Natürlich konnte auch Weigl die Geschichte nicht aufhalten, nicht die Pogrome in Lemberg, die Ghetttoisierung der Juden im Bezirk Krakauer Vorstadt und nicht ihre Deportationen, vorwiegend ins KZ Janowska. Doch er konnte seine "Schutzburg" sogar gegen die Schergen der Gestapo verteidigen, die dem Labor im Universitätsgebäude aus Angst vor Ansteckung immer ausgewichen sind.
In seinen Reflexionen und Gesprächen mit Zeitzeugen vermisst Kleveman die historische Aufarbeitung der Geschichte der Lemberger Juden: „Natürlich hat auch die deutsche Gesellschaft lange gebraucht, ihre ‚Unfähigkeit zu trauern‘ abzulegen und sich ihrer Vergangenheit zu stellen, um historische Schuld und Verantwortung einzugestehen. Die kritische Zivilgesellschaft, derer es hierfür bedarf, hat sich im Nachkriegsdeutschland erst mühsam und allmählich gebildet – die Ukraine ist da noch lange nicht so weit.“ In einer Diskussion über Vergangenheitsbewältigung mit dem Historiker Wasyl Rasewytsch versteigt sich Kleveman zur These, „dass die Erfahrung und Aufarbeitung des Holocaust inzwischen Teil der europäischen Identität seien, so dass die Ukraine erst dann kulturell-politisch zu Europa gehören könne, wenn das Land sich selbstkritisch seiner Geschichte zwischen 1941 und 1944 stelle.“
Man müsste diese Urteile als „moralinsauer“ abtun oder sogar als deutsche Anmaßung kritisieren, die jener unseligen Mentalität folgt, die sich moralisch für überlegen hält, wenn der Autor nicht selbst im Schlusskapitel über das Wehrmachtslager Stalag 328 seine Position in Frage gestellt hätte. „Im Juli 1941 richtete die Wehrmacht in Lemberg ein Stammlager (Stalag) für Zehntausende gefangene Soldaten der Roten Arme ein. Wie das KZ Janowska lag es mitten in der Stadt, auf der Zitadelle.“ Im Stalag wurden die Gefangenen brutal ausgehungert – nach einem Plan, den Hitler am 23. Mai 1941 beschlossen hatte. „Die Lager der Wehrmacht waren schlimmer als jeder Gulag und konnten nur als Todeslager bezeichnet werden.“
„In den Augen der Wehrmacht waren sowjetische Kriegsgefangene nicht nur keine Kameraden, sondern nicht einmal Menschen. […] Es ist überhaupt erstaunlich, wie lange die Armee in Deutschland nach dem Krieg als ‚sauber‘ galt – schließlich war es die Wehrmacht, die noch vor der SS ein Netz an Todeslagern errichtete, in denen Millionen Menschen starben.“ Eines davon war in Lemberg. „Von den etwa 500.000 sowjetischen Kriegsgefangenen im Lemberger Stalag 328 und anderen Lagern des Generalgouvernements starben bis zum April 1942 mehr als 85 Prozent. Es war der erste Holocaust, den die Deutschen verübten.“
„Anders als der Holocaust wurde der Massenmord an 3,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen nie zu einem Thema, das breit diskutiert wurde. Die deutsche Öffentlichkeit und selbst Historiker pflegten stattdessen die Erinnerung an das ebenfalls schreckliche Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, als ob das spätere Unrecht das vorherige aufheben würde. […] Diese Leerstelle in der deutschen Vergangenheitsbewältigung wurde paradoxerweise auch dadurch vergrößert, dass sich trotz der Wehrmachtsausstellungen die Frage der deutschen Schuld bis heute auf den Holocaust konzentriert. […] Dessen eingedenk, mit welchem Recht kann man als Deutscher den Ukrainern eigentlich vorwerfen, ihre dunkle Vergangenheit von 1941 bis 1944 nicht schnell und kritisch genug aufzuarbeiten?“
Lemberg. Die vergessene Mitte Europas
Berlin 2017