Handbuch für angehende Revolutionäre. Aus dem russischen von Olaf Kühl.
Erschienen im Europa-Verlag, Februar 2023
- Auch wenn die Revolution nicht notwendiger Weise gewaltsam verlaufen muss, so müssen die Revolutionäre bereit zur Gewaltanwendung sein.
- Auch wenn die Revolutionäre die "Musterschüler" des alten Regimes beseitigen müssen (Lustration), so werden die neuen Herrscher mit großen Teilen des bestehenden Apparates weiter arbeiten müssen.
- Auch wenn die Revolutionäre die Macht in der Zentrale übernehmen und absichern müssen, so kann die Revolution nur durch konsequente Dezentralisierung und Einführung des Föderalismus gelingen.
Das sind die wichtigsten Grundthesen von Chodorkowski, der Putin und das System des Putinismus besser kennt, als alle Russlandexperten des Westens zusammen genommen. Chodorkowski, geboren 1963, hat als junger Komsomolze (Nachwuchskader der KPSdU) Persestrojka nicht nur mit erlebt sondern als einer der ersten Privatunternehmer mit gestaltet. Bereits 1990 gründete er seine Privatbank, gelangte bald in den Beraterstab von Jelzin wurde Vizeminister für Energie und konnte sich aus dieser Gemengelage 1995/96 über 45 Prozent des Mineralölkonzerns Jukos sichern, der ihn - lange vor Putin - zu einem der reichsten Männer Russlands machte.
Dass sich Chodorkowski nicht mit Putin arrangiert sondern 2003 mit dem noch jungen Jelzin-Nachfolger angelegt hat, besiegelte sein Schicksal als Oligarch. Nach zehn Jahren in Haft wurde er begnadigt und konnte ins Exil nach London gehen. So mag es manchen Putinkritiker im Westen verwundern, wenn Chodorkowski schreibt: "In gewissem Sinne war es nicht Putin, der Russland gebrochen hat, sondern es war das traditionelle Russland, das Putin zerdrückt hat. [...] Es ist immer einfach und bequem, das Böse zu personifizieren, aber hier geht es nicht um Persönlichkeiten, sondern um die objektiven Voraussetzungen, denn sie ermöglichen es jedem, der in Russland an die Spitze der Macht gelangt, ein Putin, Breschnew oder Stalin zu werden."
In Österreich wird man verurteilt, wenn man australische Anhaltelager für Corona-Kranke mit Nazi-KZs vergleicht, weil damit der Nazismus verharmlost wird. Der Vergleich von Putin mit Hitler hat dagegen noch keinen Staatsanwalt auf den Plan gerufen, obwohl dieser Vergleich von österreichischen Politikern und anderen Kommentatoren bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit bemüht wird. Chodorkowski strapaziert derartig abwegige Vergleiche nicht, das Bezugssystem seiner Analyse und Diagnose ist Russland und seine Geschichte: "Ich habe verstanden, dass diese Freilassung ohne Putins guten Willen und seinen Wunsch niemals erfolgt wäre und dass seine Entscheidung eine Menge Leute in seinem Umfeld verärgert hat. [...] Ich habe mit Putin keine Rechnung mehr offen. Er hat mich ins Gefängnis gebracht und mir und meiner Familie zehn Jahre geraubt, aber er hat mir auch das Leben gerettet."
Damit schließt Chodorkowski keinen faulen Frieden mit einem persönlichen Feind, doch er sieht seine Mission auch nicht darin, zum Drachentöter und so zum "Erlöser" seines Landes zu werden. Denn die Revolution, die er fordert, ist keine Revolte zur Vernichtung einiger weniger Anführer des Systems, sondern eine radikale Veränderung des Systems selbst: "Bei genauem Hinsehen handelt es sich bei dem Drachen gar nicht um eine bösartige Persönlichkeit, sondern um eine Allegorie des Staates. Eines Staates, bei dem drei Köpfe –Legislative, Exekutive und Judikative – fest am fetten, korrupten Rumpf des allmächtigen bürokratischen Apparats sitzen, der dank der Einigkeit seiner Köpfe die zersplitterte Gesellschaft drangsalieren kann." Auch wenn der Drache gar keine Person ist, so existiert er trotzdem - als politisches System und in den Einstellungen aller Menschen des Landes.
Dass ein Systemwechsel kommen muss, ist für Chodorkowski unabänderlich, früher oder später durch das natürliche Ende von Putins Leben. So stellt er nicht nur die Frage "Wie wird man einen alten Drachen los", sondern auch "Wie vermeidet man es, einen neuen Drachen heranzuzüchten?" Viele, die von einem Ex-Oligarchen eine "Revolution von oben" erwarten, werden sich wundern, dass Chodorkowski für "linke Konzepte" plädiert. Ganz konkret schlägt er Nationalisierung der Oligarchen-Vermögen vor und Umverteilung von Gewinnen aus den Rohstoffressourcen zur Sicherung der Altersrenten.
"Die Mittel für die Zahlung einer angemessenen Rente und die Haushaltseinnahmen aus der Ressourcenrente sind ungefähr gleich hoch. Es wäre daher logisch, sie miteinander zu kombinieren. Auf diese Weise wird die russische Bevölkerung in der Lage sein, die Ressourcenrente direkt zu kontrollieren, statt einen gigantischen bürokratischen Apparat mitsamt der an ihr festgesaugten Mafia durchzufüttern."
Da sogar viele liberale Kritiker des Putinismus der Meinung sind, dass Russland nicht reif für eine Demokratie sei, "ist der Wechsel von dem selbstherrschaftlichen und streng zentralisierten, personalistischen Regierungssystem, das in Russland seit mehreren Jahrhunderten existiert, zur parlamentarischen Demokratie ein politischer Schock. Ein unvermeidlicher und notwendiger Schock!" Doch der Autor glaubt an eine Zukunft auf Basis der Gewaltenteilung (unabhängige drei Köpfe des Drachen: Exekutive, Legislative und Judikatur) und "den Aufbau einer wahrhaft föderalen parlamentarischen Republik mit einer entwickelten lokalen Selbstverwaltung".
Im Unterschied zu Garri Kasparow (ebenfalls Jahrgang 1963), der gerne aggressive Parolen gegen Russland feuert und mit Unterstützung des Auslands Putin stürzen will, wirkt Chodorkowski geerdet, ja sogar "bodenständig". Während es dem Ex-Schachweltmeister nur darum geht, den Gegner zu besiegen (in Erwartung des nächsten Spiels mit dem nächsten Gegner), geht es dem Ex-Manager darum, die Revolution so zu organisieren, dass sie möglichst wenig verbrannte Erde hinterlässt. Denn die wahre Revolution beginnt aus Sicht von Chodorkowski nach der Revolte, mit dem Aufbau einer neuen parlamentarischen Republik.
Natürlich sieht Chodorkowski neben den Chancen auch die Risiken einer Revolution, die nicht nur kurzfristig, sondern dauerhaft zu einer Verschlechterung der Lage, zur Geburt eines neuen Drachen führen könnte. Und der Autor kann auch nicht für alle Probleme eine Lösung anbieten, dürfte wohl auch die Reformierbarkeit der Administration zu optimistisch einschätzen, ebenso die Bereitschaft des Westens, insbesonders der Amerikaner die nächste russische Revolution "rational reflektierend" zu unterstützen. Aber er stellt immerhin die wichtigsten Fragen, die zur Vorbereitung und Durchführung der längst notwendigen Revolution von Bedeutung sind - und das ist mehr, als man von einem "Handbuch" üblicher Weise erwarten kann.
Nachsatz: Zum Titel des Buches inspirierte Chodorkowski der russische Kultfilm "Den Drachen töten" (убить дракона) von Mark Sacharow aus dem Jahr 1988. Abrufbar auf youtube im russischen Original mit deutschen Untertiteln.
Resümee: Das "Handbuch für angehende Revolutionäre" (wohlgemerkt nicht nur für "russische Revolutionäre") birgt Sprengstoff auch für den Westen. Dass die Zivilgesellschaft vom politischen Geschehen ausgeschlossen wird, dass die Reichen auf Kosten der Armen immer reicher werden und Wirtschaftsmonopole errichten, die staatlich legitimiert und gestützt werden, das gilt für den Westen (Amerika und EU genau so wie das kleine Österreich) nicht weniger als für Russland. Beide Systeme - der selbstherrschaftlich-korrupte Putinismus ebenso wie der selbstgefällig-kapitalistische Amerikanismus - sind weit entfernt von einer wahren Demokratie, die auf Gewaltenteilung und Föderalismus basiert. Beide Systeme können nicht mehr reformiert, sondern müssen durch Revolutionen von Grund auf erneuert, d.h. radikal verändert werden. Man darf daher gespannt sein, wie lange es dauert, bis die Herrschaften des Westens das erkennen und entsprechend darauf reagieren. "Entsprechend" wäre - und da sind Russland und der Westen schon lange auf einer Wellenlänge - Diskursverweigerung, Verdrehung von Fakten, Unterstellungen bis hin zur Diffamierung des Autors und all jener, die den Autor und/oder seine Ideen unterstützen.
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