Auszug aus dem Buch MORAL 4.0 - ISBN 9783744890977ISBN 9783744890977
Jeder Mensch kennt die Situation, dass er – oft unbegründet oder unbegründbar - an Schuldgefühlen leidet. Das häufig anzutreffende individuelle Schuldbewusstsein ist kein Beweis, dass Schuld in Folge der sogenannten Erbsünde immer schon auf uns lastet, sondern nur dafür, dass 2000 Jahre christlich-theologischer Indoktrination deutliche Spuren in den Köpfen der Menschen Europas hinterlassen haben. Auf die Perpetuierung dieses Schuldbewusstseins haben sich die Kirchen spezialisiert, die keine Lösung der Probleme im Diesseits anbieten, sondern nur eine Erlösung im Jenseits. Dass Kirchen mit der Caritas und anderen sozialen Einrichtungen Erste Hilfe leisten, ist zwar gut, aber auch nur eine moderne Form, das Schuldbewusstsein zu beruhigen. Caritas ist im Prinzip Mitleid mit den Schwächsten eingebettet in eine öffentliche Institution, den Anforderungen unserer Zeit entsprechend als Unternehmen konzipiert.
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Auf eine andere Form von Heilsversprechen, nämlich die Heilung des Schuldbewusstseins, hat sich die Psychoanalyse spezialisiert, wobei auch die Psychoanalyse – ich erlaube mir die Simplifizierung – den anderen (bevorzugter Weise den Eltern) die Schuld zuweist. Dabei dient die Ebene des Unterbewussten vorzüglich als Lagerstätte der Schuldgefühle. Psychotherapeuten bemühen sich, diese Gefühle auf die Ebene des Bewusstseins zu heben, damit der Patient sie dem Verursacher zurückgeben kann. Die Schuldzuweisung ist ein Muster, das seit Adam und Eva besteht. „Brauchen“ wir demnach immer einen Schuldigen? Anders gefragt: gehört es zum Wesen des Menschen und zur Aufrechterhaltung der Gemeinschaft, dass wir Schuldige haben? Die Antwort ist eindeutig: JA!
Der Begriff der Schuld ist weitgehend negativ (im Sinne von moralisch schlecht) bewertet. Nicht nur in Folge von Religion und Psychoanalyse, auch im Rechtswesen: der Schuldige wird bestraft, nur der Unschuldige wird frei gesprochen. In diesem Sinne ist gut, wer unschuldig ist. Nur eine positive Besetzung kennt das Wort: die Ent-Schuldigung. Womit das Ein-Geständnis einer Schuld (meist ein lässliches Vergehen oder ein einfaches Missgeschick) einher geht. Wie auch immer, der Common Sense kennt Schuld als negativen Begriff.
Auch wenn sich der Universalgelehrte Norbert Bischof „von der philosophischen Ethik allenfalls kritische Einwände und vor allem lohnende Fragestellungen“ erwartet, „aber nicht die Kompetenz, darauf auch belastbare Antworten zu geben“, [Norbert Bischof, Moral. Ihre Natur, ihre Dynamik und ihr Schatten, Wien Köln Weimar, 2012, S. 89] kennt die Philosophie eine Antwort zur Lösung, ja sogar zur Auflösung des Schuldproblems: das philosophische Synonym für Schuld, das diesen negativen Begriff vollständig ersetzen kann – nein, schon längst ersetzt hat, ist die Verantwortung!
Persönlicher Tipp: diese Aussage kannst du jederzeit nachprüfen: ersetze in jedem Satz, den du findest oder erfindest, und in dem der Begriff „Schuld“ vorkommt, diesen durch das Wort „Verantwortung“ und prüfe, ob der Sinn 1:1 erhalten bleibt. Wenn du einen Satz findest, auf den das nicht zutrifft, stehe ich in deiner Schuld (=übernehme ich die Verantwortung) und zahl dir den Preis für dieses Buch zurück.
In der positiven Bewertung des Begriffes Verantwortung berufe ich mich zunächst auf den Common Sense. Natürlich gibt es Menschen, die sich vor ihrer Verantwortung drücken wollen. Beispielsweise geschiedene Väter, die ihre Alimente nicht zahlen können oder wollen. Aber auch sie sind sich, das bezweifle ich nicht, im positiven Sinne ihrer Verantwortung bewusst – und wahrscheinlich drückt sie gleichzeitig das Schuldbewusstsein.
Die Umwertung der Schuld zur Verantwortung ist kein Etikettenschwindel, Schuld und Verantwortung sind keine Synonyme, die rein formal austauschbar sind. Um es nochmals zu betonen: es geht dabei um die gleichen Phänomene, aber um völlig unterschiedliche Werte und Weltanschauungen, die damit verknüpft sind. Die Bedeutung der Umwertung dieser Werte wird deutlich, wenn wir diese Begriffe „auseinanderdividieren“ und nach den moralischen Kriterien gut versus schlecht bewerten:
gut schuldlos verantwortungsvoll unschuldig verantwortlich |
schlecht schuldhaft verantwortungslos schuldig unverantwortlich |
Verantwortung | Schuld |
Wer ist schuld? Diese Frage quält nicht nur Menschen, die einen Psychiater aufsuchen. Diese Frage steht auch immer dann im Mittelpunkt der Kontroversen, wenn die Verursacher eines politischen Konfliktes gesucht werden. Sowohl für die psychologische als auch die politologische Ursachenforschung gilt: Niemand ist schuld, aber jeder trägt Verantwortung. Der Schuldbegriff ist antiquiert und gehört somit ins Antiquariat der Moralbegriffe. Im Unterschied zu Nietzsche ist diese Umwertung der Schuld zur Verantwortung kein Etikettenschwindel. Hier geht es darum, ein Phänomen, das zu den konstituierenden Werten unserer Zivilisation zählt – die Verantwortung - von seinem negativen Image und seinen negativen Auswirkungen zu befreien.
Noch ein wichtiger Unterschied: Schuld ist ihrem Wesen nach passiv (schuldig sein), Verantwortung ist aktiv (Verantwortung muss man übernehmen).
Aus der Logik der Umwertung der Schuld in Verantwortung folgt auch die Notwendigkeit zur Umwertung von Tod und Teufel – die mal einzeln, mal in Personalunion das religiöse Denken ebenso stark beeinflussen wie Gott der Gerechte und Gott die Liebe. Damit gehe ich nicht so weit wie Nietzsche, der die Lüge zur besseren Wahrheit macht. Wenn wir Luzifer ganz einfach wertfrei und wertneutral als Licht der Erkenntnis interpretieren, dann entspricht das Spannungsfeld Luzifer versus Gott exakt dem Kampf zwischen Wissenschaft und Kirche, den die Zivilisation seit Ausbruch des Christentums erlebt hat und immer noch erlebt.
Die türkis-grüne Regierungserklärung 2020
Türkis-Grün will „aus Verantwortung für Österreich“ regieren. Das zumindest ist der Titel des Regierungsprogramms, das bis 2024 halten soll. Es ein Gebot der Höflichkeit (auch wenn Höflichkeit nicht „in“ ist) die Absichten eines Menschen Ernst zu nehmen. Das gilt auch für die Absicht einer Regierung. (Kommentar auf fischundfleisch am 14.1.2020)
In der Präambel appellieren die Koalitionspartner sechs Mal an die Verantwortung: „Die Regierungsarbeit der kommenden fünf Jahre trägt das Bewusstsein, dass die beiden Regierungsparteien unterschiedlich sind, aber trotzdem die Verantwortung gemeinsam schultern. … die Herausforderungen von heute verlangen nach einer neuen Koalition der Verantwortung. … Chancen nützen heißt Verantwortung übernehmen.“
„Die Verantwortung schultern“ ist ein Bild, das an den Heiligen Christophorus erinnert, der auf seinen Schultern einen Jungen, so schwer wie die ganze Welt, über den Fluss getragen hat. Der Beginn dieser Regierung ist somit der Beginn einer Legendenbildung. Die „Koalition der Verantwortung“ als Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit klingt nach Alternativlosigkeit. Alternativlosigkeit ist ein euphemistischer Begriff für Hoffnungslosigkeit. So versteckt sich in dieser Formulierung die Befürchtung, dass dies Regierung keine fünf Jahre lang überleben wird. Aber trotzdem will sie ihre „Chancen nützen“ und das heißt dann im Jargon der Parteipolitiker: „Verantwortung übernehmen.“
Der Begriff „Verantwortung“ ist keineswegs selbsterklärend. Als Moralphilosoph bin ich der Überzeugung, dass es sich um einen Grundwert handelt, der für die Politik Europas im 21. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielen sollte. Doch das ist nicht selbstverständlich. Im ersten Teil der Präambel wird der Begriff quasi religiös verwendet. Im Sinne des Bekenntnisses zu Glaube, Liebe und Hoffnung: wir glauben an dieses Projekt, wir lieben uns (zumindest solange die Unterschriften unter dem Regierungspakt nicht trocken sind) und wir hoffen, dass diese Koalition länger als die alte überleben wird.
Im letzten Absatz der Präambel erhält die „Verantwortung“ eine politische Bedeutung: „Mit diesem Programm übernehmen wir Verantwortung – gegenüber den Menschen in Österreich und gegenüber dem Parlamentarismus und dem guten Miteinander, gegenüber dem Wert des Kompromisses und des Austausches für die Demokratie. Wir übernehmen diese Verantwortung in einer Situation, in der niemand sonst die Kraft hat, sie im Sinne der Österreicherinnen und Österreicher zu schultern. Und nicht zuletzt übernehmen wir Verantwortung als Vorreiter in der Europäischen Union und der globalen Gemeinschaft: Diese Bundesregierung und dieses Programm stärken die Position Österreichs in Europa und der Welt als ausgleichende, vermittelnde Kraft in Konflikten – und soll Vorbild für andere sein. Wir schaffen zusammen Zukunft.“
„Verantwortung gegenüber“, nicht „Verantwortung für“. Immerhin nicht „Verantwortung gegen“. So heißt es bei 1. Petrus 3,15: „Und seid allezeit bereit zur Verantwortung gegen jedermann, der Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist.“ Vielleicht wollte man mit „gegenüber“ nur eine antiquierte Formulierung vermeiden. Doch es steckt mehr in diesem Satz!
Der Philosoph Hans Jonas hat vor 40 Jahren sein Buch „Das Prinzip Verantwortung“ publiziert. Seine Grundthese: wir alle, insbesondere aber die Politiker, müssen heute schon die Verantwortung für die Zukunft, konkret die Zukunft unserer Kinder und der Umwelt übernehmen. Dies würden Eltern jederzeit unterschreiben. Die Formulierung „Verantwortung gegenüber“ impliziert dem gegenüber eine gewisse Distanzierung, etwa in folgendem Sinne: Als Kanzler, als Minister und Ministerin übernehme ich zwar Verantwortung gegenüber Menschen, Österreich, Parlamentarismus und Demokratie. Aber es soll mich am Ende bloß niemand FÜR etwas verantwortlich machen!
Es hat nur zwei Seiten der Präambel des Regierungsprogramms gebraucht, um Christophorus-Legende in eine politische Ideologie zu transformieren. Bemerkenswert oder bedenklich? Beides. „Wir übernehmen diese Verantwortung in einer Situation, in der niemand sonst die Kraft hat, sie im Sinne der Österreicherinnen und Österreicher zu schultern.“ Diese Formulierung kann nicht als Teil eines Partei-Programms und schon gar nicht als Teil eines Regierungs-Programms gesehen werden. Die Formulierung ist beachtlich, weil sie eine missionarische Haltung als politisches Konzept verkauft und bedenklich, weil sie einen Alleinvertretungsanspruch erhebt.
„Niemand sonst“? Die sogenannte Expertenregierung hat in einem halben Jahr bewiesen, dass dieses Land jede Menge kompetenter und regierungsfähiger Menschen hat, die vorher kaum medial in Erscheinung getreten sind. „Die Kraft“? Im parlamentarischen Sinne als „politische Kraft“ wäre das einfach die parlamentarische Mehrheit; im genannten Kontext aber ist das ein missionarischer Begriff. „Im Sinne der Österreicherinnen und Österreicher“? Diese Regierung erhebt somit den Anspruch auf die Deutungshoheit darüber, was „im Sinne“ der Menschen dieses Landes ist. Und nicht nur dieses Landes, auch Europa und sogar die ganze Welt sollen von der „Mission Christophorus“ beglückt werden: „Und nicht zuletzt übernehmen wir Verantwortung als Vorreiter in der Europäischen Union und der globalen Gemeinschaft“.
Könnte mit „Verantwortung gegenüber Parlamentarismus und Demokratie“ lediglich das Bekenntnis zur Österreichischen Verfassung gemeint sein? Die Verfassung feiert 2020 ihr 100-Jahr-Jubiläum. Doch man muss sich ernsthaft die Frage stellen, ob das ein Grund zum Feiern ist. Die Verfassung ist zwar ausgezeichnet dazu geeignet, den Staatsapparat zu stützen und die Parteien als tragende Säulen dieses Apparates zu festigen, doch die Demokratie in ihrer Vielfalt zu Beginn des 21. Jahrhunderts spiegelt sich in der Verfassung nicht wieder. Auch nicht die Demokratie, wie sie von den etablierten Parteien ausgelegt wurde und wird.
So steht der quasi religiöse Begriff der „Verantwortung“, wie er im türkis-grünen Regierungsprogramm verwendet wird, im eklatanten Widerspruch zur Verwendung des Begriffs im Bundesverfassungs-Gesetz (B-VG), das „Verantwortung“ nur im Sinne von Pflicht und Pflichterfüllung kennt. Beispiel: „Artikel 68. (1) Der Bundespräsident ist für die Ausübung seiner Funktionen der Bundesversammlung gemäß Art. 142 verantwortlich. (2) Zur Geltendmachung dieser Verantwortung ist die Bundesversammlung auf Beschluss des Nationalrates oder des Bundesrates vom Bundeskanzler einzuberufen.“ Nach dem Wortlaut des B-VG wäre sogar ein ethischer Verantwortungs-Begriff verfassungswidrig.
Sogar das Selbstverständnis einer Regierung, die regiert wie ein Unternehmensführer (dieser Vergleich wird heute gerne gebracht und entspricht auch weitgehend der politischen Praxis), mit dem Anspruch dieses Land zu gestalten, ist gemäß BV-G verfassungswidrig. Artikel 19 des B-VG sagt eindeutig: „Die obersten Organe der Vollziehung sind der Bundespräsident, die Bundesminister und Staatssekretäre sowie die Mitglieder der Landesregierungen.“ Vollziehung ist synonym für Verwaltung. Die Regierung ist demnach das oberste Organ der Verwaltung. So zumindest der Wortlaut der Verfassung. Man kann sich die Frage stellen, ob diese Verfassung noch zeitgemäß ist, doch das ist eine andere Frage.