10. Oktober 2023 - Man stelle sich vor, ein Ehepaar aus Afghanistan lebt in Österreich vermutlich schon mehr als ein Jahrzehnt. Es ist hierher mit zwei Kindern gekommen, die mittlerweile volljährig sind, zwei weitere Kinder sind minderjährig. Nun will sich der Mann scheiden lassen. Einvernehmlich. Dafür findet er in Österreich ein Gericht, das den Fall behandelt. Mittlerweile hat der Fall bereits das Oberste Gericht OGH beschäftigt, das am 31. Mai 2023 eine Entscheidung getroffen und den Fall an das Erstgericht zurück verweisen hat. Das Erstgericht hat vergessen die Ehefrau zu fragen, ob sie ebenfalls eine "einvernehmliche" Scheidung wolle. Aber die Pointe kommt erst: es muss zunächst festgestellt werden, ob sich die Ehefrau als verheiratet betrachtet, denn ein amtliche Ehedokument aus Afghanistan liegt nicht vor.
"Es gibt Fälle, in denen österreichische Gerichte ausländisches Recht anwenden müssen. Etwa, wenn Migranten, die in ihrem Herkunftsland eine Ehe geschlossen haben, sich scheiden lassen", schreibt Philipp Aichinger auf blogasyl.at (18.9.2023) und schildert das Scheidungs-Begehren eines afghanischen Vaters von vier Kindern. Die Ehe wurde 1996 in Afghanistan von einem Mullah (nicht amtlich) geschlossen.
"Österreichs Höchstrichter (OGH 4Ob85/23p) akzeptieren eine staatlich nie registrierte Heirat. Sie widerspreche selbst dem afghanischen Gesetz, gelte aber laut Taliban-Regeln. Da das Familienverfahren nach dem AsylG darauf abstellt, dass eine Ehe bereits vor der Einreise bestanden hat, kommt diesem Urteil potenziell auch für Asylverfahren im Inland sowie den Familiennachzug Relevanz zu."
Philipp Aichinger weiter: "Ein Afghane stand in Österreich vor einem besonderen Problem. Er will sich von seiner Frau, mit der er vier Kinder hat, scheiden lassen. Eine Heiratsurkunde konnte er nicht vorlegen. Er habe die Ehe aber vor einem Mullah, einem islamischen Religionsgelehrten, geschlossen.
Gern würde sich der Mann nach österreichischem Recht scheiden lassen. Er allein beantragte eine einvernehmliche Scheidung von seiner Frau. Schon die ersten zwei Instanzen befanden aber, dass man die Scheidung nach afghanischem Recht durchführen müsste. Aber liegt eine Ehe vor? Zwar seien Religionsgelehrte in Afghanistan befugt, die Trauung durchzuführen. Doch sei jede Ehe laut afghanischem Gesetz verpflichtend von den zuständigen Behörden zu registrieren. Da der Mann dies nicht gemacht habe, könne man ihn nicht scheiden, meinten die Unterinstanzen. Der Oberste Gerichtshof (OGH) aber sieht das nun anders.
Das afghanische Zivilgesetzbuch trat 1977 in Kraft, als Afghanistan Republik war. Es überdauerte die Taliban-Herrschaft von 1992 bis 2001 und blieb auch nach der nunmehr erneuten Machtübernahme der Taliban formal in Geltung. Doch man müsse sich die Praxis anschauen, meinte der OGH mit Blick auf Experteneinschätzungen. „Große Teile der Bevölkerung sind nicht bereit, Behörden durch die Registrierung von Ehen in vermeintlich rein private und zum Teil ungesetzliche Praktiken wie Kinder-, Zwangs-, Austauschehen und Ehen zur Schuldentilgung Einblick nehmen zu lassen.“ Nur fünf Prozent aller Ehen in Afghanistan seien registriert. „Insbesondere das Eherecht basiert aber neben dem kodifizierten Recht auf Bestimmungen des islamischen Rechts und dem örtlichen Gewohnheitsrecht.“
Das afghanische Gesetz zur Eheregistrierung sei „praktisch totes Recht“, meinte der OGH (4 Ob 85/23p). Und der Mann weise zu Recht darauf hin, dass seit der neuen Machtübernahme der Taliban nur von einem Mullah getraute Paare als verheiratet angesehen werden. Der Mann könne daher seine Ehe jetzt in Afghanistan gar nicht mehr nachträglich registrieren lassen, weswegen man ihm hierzulande die Scheidung nicht wegen der fehlenden staatlichen Beurkundung allein verwehren dürfe. Der Fall geht daher zurück an die unterste Instanz: Sie soll nun einmal die Frau fragen, ob sie sich als verheiratet betrachtet."