31. Dezember 2025 – Von November 1989 bis Juni 1994 erlebte ich die russische Transformation live in Moskau. Auf den Zerfall der Sowjetunion folgten die Unabhängigkeitserklärungen der Sowjetrepubliken, die Loslösung der „Bruderstaaten“ des Ostblocks und das Ende des Militärbündnisses Warschauer Pakt. Auf die politische Transformation folgte die wirtschaftliche. Das bedeutete: erstmals massiver Import von Konsumgütern aus Amerika, Europa und China; danach die Privatisierung unter Jelzin nach dem Modell der „Chikago Boys“ mit dem Ergebnis, dass sich wenige Oligarchen – meist ehemalige Komsomolzen – die Industriebetriebe unter den Nagel gerissen haben. Das Ende des Kommunismus öffnete dem Raubtierkapitalismus Tür und Tor.

2025 erlebte ich das Jahr der deutschen Transformation – wieder mitten drin, denn als EU-Mitglied gilt: mitgehangen und -gefangen. Durch Trump abgenabelt von der Schutzmacht USA, etablierte Deutschlands Kanzler Merz die Kriegshetze gegen Putins Russland als neue Staatsdoktrin. Die Demontage der deutschen Wirtschaft, die bereits zu Beginn dieses Jahrzehnts mit dem EU-Green-Deal (Hauptverantwortliche ist die Deutsche Ursula von der Leyen) eingleitet wurde, erreichte heuer ihren Höhepunkt (früher hätte man gesagt: Tiefpunkt) durch Umstellung auf Kriegswirtschaft und Aufnahme gigantischer zusätzlicher Staatsschulden von 800 Milliarden Euro. Dieser Schuldenberg wurde von der Deutschland-Propaganda umbenannt und umgedeutet zum „Sondervermögen“. George Orwells hat in 1984 die derzeit gültigen Leitsätze vorweg genommen: „Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke.“
Einer der wenigen Staatsmänner, die sich für einen Dialog mit Russland engagieren, ist der frühere Berater von Helmut Kohl, Horst Teltschik. Er hat im Oktober 2025 sein neues Buch „Die 329 Tage zur deutschen Einigung“ vorgestellt und nutzte die Gelegenheit, um die Schlüsselfrage zu stellen: „Wie können wir Präsident Putin gewinnen, eine friedliche Lösung zu akzeptieren und eine gesamteuropäische Friedensperiode einzuleiten?“ Eine Frage, für die sich die Kriegstreiber 2025 nicht nur nicht interessieren; diese Frage wird vielmehr als russische Propaganada, wenn nicht sogar als Verrat an den deutschen Kriegsplänen betrachtet.
Teltschik fordert unbeeindruckt von der herrschenden Kriegsrhetorik: „Ich bin der Meinung, dass wir Wege suchen müssen, um bilateral wie multilateral das Gespräch mit Russland wieder in Gang zu bringen. Ich halte das für unverzichtbar. Es geht nicht darum, ob wir Putin mögen oder nicht. Die Frage ist: Wie können wir es erreichen? Ich würde heute versuchen, eine Gesprächsebene zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Russland, zwischen der EU und Russland und der NATO und Russland zu entwickeln.“ (Quelle: Diplo.news)
Mehrfach zitierte Hugo Portisch den ehemaligen Kanzler-Berater in seinem Buch „Russland und wir“, das 2020 erschienen ist.
Der Journalist zeichnet den Bogen von der Besiedlung Sibiriens, die er mit der Kolonialisierung Amerikas durch GB, Frankreich, Spanien und Portugal vergleicht. Das ist zwar hilfreich zum Verständnis der Aufteilung der Welt bis Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist jedoch irreführend, da Sibirien bis an den Pazifik nicht durch Niederwerfung indigener Völker erobert, sondern von den Russen lediglich durch eigene Besiedlungs- und Verbannungspolitik bewohnbar gemacht wurde, denn: da war kaum jemand, den man vertreiben konnte. Lediglich am Amur hat der sibirische Gouverneur des Zaren die Chinesen trickreich, aber gewaltlos am Vormarsch in den Norden gehindert.
Aufschlussreich ist das Urteil von Portisch: „Russland ist Europa“. Sein Buch, das 2020, ein paar Monate vor seinem Tod, erschienen ist, kann nicht als historische Abhandlung, sondern kursorische Sammlung seiner Eindrücke betrachtet werden. 1967 veröffentlichte er das Buch „So sah ich Sibirien“ und 2020 schrieb er: „Wer heute nach Sibirien kommt, hat Europa nicht verlassen, sondern sich nur von einem Punkt Europas nach einem anderen Punkt Europas begeben.“ Er begründet dies mit dem Vordringen der europäischen Russen nach Sibirien bis an den Pazifik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ab 1853 konnte Gouverneur Murawjow im Bündis mit dem Marineoffizier Newelskoj, der den Amur vom Pazifik kommend aufwärts segelte, riesige Landflächen östlich des Baikalsees für Russland vereinnahmen.
Damals wusste man nicht, welche Schätze sich unter der sibirischen Taiga befinden. So gilt seither und heute umso mehr: Russland ist eine Weltmacht, auch wenn Obama „es offiziell auf den Rang einer ‚Regionalmacht‘ heruntergestuft hat.“ (122) Es folgte die Russland-Politik Bidens, der jegliche Verbindung zwischen EU und Russland kappen wollte. Symptomatisch: die Sprengung der Gas-Pipeline Nordstream kurz vor Inbetriebnahme. 2025 hat Trump eine Kehrtwende um 180 Grad vollzogen und damit die EudSSR ebenso verprellt wie Russland als Weltmacht de facto wieder anerkannt. Typisch Trump: die Anerkennung Russlands als politischen Player hinderte den Alleinherrscher der USA nicht daran, russische Rohstofflieferungen nach Europa weiterhin zu hintertreiben.
Portisch übersieht die demokratischen Schwächen Russlands nicht, betont aber: „Eine ganz schlimme Taktik von Russland-skeptischen Medien und Politikern ist es, Leute, die sich um ein Verständnis mit Putin bemühen, sofort zu verdächtigen, westliche Ideen zu verraten, schon weil sie versuchen, ‚Putin zu verstehen‘. […] Verstehen heißt ja nicht, die gleiche Meinung zu teilen oder alles zu akzeptieren, was man versteht. Aber man muss verstehen, um zu wissen, was bei Verhandlungen wichtig und erreichbar ist.“
[Anmerkung HTH: ich war immer Querdenker, bevor und nachdem dieser Begriff diffamiert wurde. Ich war immer Putinversteher – und mehr als das: ich verstehe 150 Millionen Russeb und alle Anghörigen der ehemaligen Sowjetunion, die russisch sprechen.]
In seiner kursorischen Betrachtung ist Portisch leider ein historischer Fehler unterlaufen (und es ist schade, dass im Verlag kein Lektor zu finden war, der diesen Fehler korrigiert hätte): „Als die Sowjetunion vor ihrem Zusammenbruch stand, gab es eine Reihe einflussreicher amerikanischer Berater, die aus der neoliberalen Schule Chicagos kamen, der viel zitierten Chicago-Boys, die Putin vor allem einen grundsätzlichen Rat gaben: Wolle man Russland retten, so müsste man die gesamte verstaatlichte Wirtschaft Russlands über Nacht privatisieren, und danach die Preiskontrollen aufgeben. Das würde schon dafür sorgen, dass sich die Wirtschaft Russlands durch freie Konkurrenz und Tüchtigkeit praktisch über Nacht erhole. Und genau das tat Putin.“
Wahr ist vielmehr, dass Jelzin und sein engster Kreis von 1991 bis 1999 für die Privatisierung mit allen negativen Folgen verantwortlich sind: Preisfreigabe und Hyperinflation, Herausbildung einer Oligarchen-Kaste durch weitgehend unkontrollierte Privatisierung, bei gleichzeitiger Verarmung großer Teile der Bevölkerung. Erst als Jelzin das Ruder am 31. Dezember 1999 an Putin übergab (der erst im Mai 1999 zum Ministerpräsidenten aufstiegen war), konnte Putin beginnen, das Chaos, das die Raubtierkapitalisten angerichtet hatten, wieder aufzuräumen.
Alle Russen, die die Jelzin-Ära noch miterlebt haben, stehen deshalb bis heute hinter Putin, weil er klar gemacht hat, dass sich die Wirtschaft den Interessen der Politik, und somit die Oligarchen den Interessen der Polis unterzuordnen haben. Mit Chodorkowski statuierte Putin ein Exempel. Das war nicht gerecht, aber notwendig. Wer Putin unterstellt, er sei autoritär, hat recht. Wer Putin unterstellt, er sei kein Demokrat, soll zunächst mal erklären, was er unter Demokratie versteht und wie er/sie bislang Demokratie praktiziert hat. Diese Frage richtet sich an alle Politikdarsteller der EU-Staaten, beginnend mit Ursula van der Leyen bis hinunter zu den Abgeordneten aller Parlamente der EU-Staaten.
Sapere aude!
