Schüssel diffamiert Neutralität als Ideologie

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2. Juli 2023 - Seit Ausbruch des Russisch-Ukrainischen Krieges haben Österreichs Regierungspolitiker und viele Intellektuelle ein neues Lieblingsthema: die Unterstützung der Ukraine "zur Verteidigung unserer Werte" und gleichzeitig die Abschaffung eines Grundwertes der österreichischen Souveränität: der Neutralität! Nun bekommt diese Allianz ein neues Mitglied: Ex-Kanzler und Ex-Außenminister Wolfgang Schüssel, der sich im Rotary-Magazin (1.7.23) den Artikel "Neutralität ist kein Schutz" publiziert hat.

Schuessel und Putin

Wenn man schon in einer Zeitschrift publiziert, die niemand kennt, so muss man zumindest "renommierte" Medien zitieren, um eigenen Argumenten mehr Gewicht zu verleihen. So bringt Schüssel die Unterstellung des Economist: "Jedes Land auf dem Kontinent, das sich in dieser Frage (UkraineKrieg, Anm.) neutral erklärt, bekundet damit, dass ihm seine eigene Sicherheit nicht sonderlich am Herzen liegt." Weiters zitiert er die NZZ zustimmend: "Die Welt braucht keine neu trale Schweiz mehr." Und was für die Schweiz gilt, das - so Schüssels Implikation - gilt für Österreich ebenso.

Mit Hinweis auf die Novelle des Artikel 23j B-VG kommt Schüssel zu der zweifelhaften Schlussfolgerung: "Die Neutralität gilt nicht mehr. Wir haben zwar seit unserem EU-Beitritt 1995 unsere Hausaufgaben gemacht und die förmliche Verpflichtung übernommen, an der Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik der EU (Gasp) mitzuwirken. Mit dem einstimmig verabschiedeten Lissabon-Vertrag (in Kraft seit 2009) wurde eine wechselseitige Beistandsverpflichtung bei einem bewaffneten Angriff vereinbart. In der österreichischen Bundesverfassung wurde dem durch die Novelle des Artikels 23 j Rechnung getragen. Einfach gesagt wird damit die Neutralität für den gesamten Bereich der Gasp und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ohne jede Einschränkung außer Kraft gesetzt. Anders formuliert: Bei jedem EU-Beschluss (wie auch bei einem UN- oder OSZE-Mandat) gilt die Neutralität nicht mehr. Vielleicht wäre es hilfreich, diese Zusammenhänge der Öffentlichkeit deutlicher zu machen. Denn der russische Angriff auf die Ukraine hat wohl endgültig alle Illusionen zunichtegemacht, dass das neutrale Österreich eine ungefährdete friedliche Insel wäre."

Mit dieser Interpretation der österreichischen Verfassung wird er wohl euphorische Zustimmung bei den Initiatoren von "unseresicherheit.org" finden, bei der sich die wichtigsten Wichtigmacher der Nation zusammen gefunden haben, unter ihnen Rudolf Fussi, Irmgard Griss, Robert Menasse, Robert Misik, Antonella Mei-Pochtler. Mit zwei öffentlichen Briefen sind sie Anfang 2022 an den Bundesminister, die Bundesregierung, den Nationalrat und sogar an die Bevölkerung getreten (siehe ethos.at 19.5.22) Auch wenn hier eine "offene Debatte über den NATO-Beitritt" gefordert wird, so determinieren die Argumente der Unterzeichner das Ergebnis, und zwar die Forderung des Beitritts Österreichs zur NATO.

Die Alternativlosigkeit der NATO ist auch das Leitmotiv von Schüssels Artikel: "Schweden und Finnland haben sich innerhalb weniger Wochen nach dem 24. Februar 2022, der die Sicherheitspolitik Europas nachhaltig verändert hat, für die Aufgabe ihrer Bündnisfreiheit und für einen Nato-Beitritt entschieden. [...] die enge Kooperation mit EU-Partnern und Synergien in der Zusammenarbeit mit der Nato im Rahmen der Partnership for Peace (PfP) sind jedenfalls unerlässlich."

Zum Standard der Propaganda-Retorik gehören Formulierungen wie "russischer Überfall" und das Bekenntnis "Österreich hilft der Ukraine politisch, humanitär und wirtschaftlich und trägt solidarisch alle Sanktionen gegen Russland mit". Eine infame, und bislang einzigartige Entgleisung in der Diskussion für oder gegen Neutralität ist die Gleichsetzung der Neutralität mit einer Ideologie. Schüssel empfiehlt die Bündsfreiheit "als Weg aus dem Elfenbeinturm der Neu tra li tätsideo lo gie" (sic! Genau in dieser Typgrafie, die in dem Kontext kein Fehler der Schreibsoftware sein kann, sondern offenbar ein Versuch der Verschleierung, um den Begriff Neutralitätsideologie unauffindbar für die Suchmaschinen zu machen. Man muss davon ausgehen, dass Schüssel intelligent genug ist, zu wissen, dass er mit seinem Neologismus all jene, die redlich und mit guten Gründen für die Neutralität eintreten, als Vertreter einer ominösen Ideologie diffamiert, und diese Diffamierung mit einem kleinen Trick bewusst verdeckt.)

Nachsatz 1: Schüssel hat nach Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges erklärt, dass er sein Mandat bei dem russischen Erdöl-Konzern Lukoil nicht zurücklegen werde. Das Unternehmen sei an der Londoner Börse notiert und keine Staatsfirma (Quelle: ORF.at 24.2.22) Bis 4. März 2022 hat der Ex-Kanzler, der mit seiner Pension offenbar nicht das Auslangen findet, gebraucht, um sich neu zu orientieren und seine gut bezahlte Position doch aufzugeben. Ein Bericht in der Wiener-Zeitung darüber ist zwar noch auf google auffindbar, aber auf der Seite wienerzeitung.at nicht mehr abrufbar. Das Wahrheitsministerium, das seit 1. Juli die Wiener Zeitung regiert, hat damit dem Ex-Kanzler, der in der Neutralitäts- und NATO-Frage auf Regierungslinie ist, die Referenz erwiesen: "Seite wurde entfernt. Diese Seite ist nicht mehr verfügbar."

Update 4. Juli 2023 zu Nachsatz 1 von Dieter Knoflach via fischundfleisch: "Hier der angeblich nicht-existente Artikel der Wiener Zeitung über Schüssels Ausscheiden bei Lukoil:

https://www.tagblatt-wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/2139794-Ex-Bundeskanzler-Schuessel-scheidet-bei-Lukoil-aus.html

Dieser Artikel enthält auch die Passage: "Als "in höchstem Maße überfällig" bezeichnete die SPÖ den angekündigten Schritt. "Dass Ex-Kanzler Schüssel neun Tage gebraucht hat, um sein höchst umstrittenes Engagement bei Lukoil endlich zu beenden, lässt tief blicken", so Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch, der den "enormen Druck der Öffentlichkeit" als Grund für das Ausscheiden des früheren Kanzlers sieht. (apa)". So gesehen ist es keineswegs so, dass die Wiener Zeitung nun zensuriert würde, oder einer angeblichen ÖVP-Message-Control unterworfen wurde.

Resümee (ethos.at 19.5.22): Die NATO wurde als Abwehr des Westens gegen die militärische Macht des Ostblocks geschaffen. Den Warschauer Pakt gibt es seit mehr als 30 Jahren nicht mehr. Bis zum Fall des eisernen Vorhangs hatte die NATO 16 Mitglieder, seit 1999 sind 14 neue Mitglieder dazu gekommen, die meisten davon EU-Mitglieder. Wer eine wirklich offene Diskussion will, sollte auch die Option ins Auge fassen, dass sich die gesamte EU von der US-dominierten NATO verabschiedet und endlich ein eigenes Verteidigungsbündnis entwickelt.

Siehe auch: Neutralitätsbruch: Panzertransport durch Österreich 20.4.2023 - (Presseaussendung der Gewerkschafter*innen gegen Atomenergie und Krieg)

Siehe auch: Unendliche Geschichte: Eurofighter (5.5.23 ethos.at)

Nachsatz 2: Man darf gespannt sein, wer dem Ex-Kanzler applaudiert. Erste Ovationen erteilen die NEOS, konkret Lukas Sustala, Direktor des NEOS Lab (Parteiakademie der NEOS): "Den Unterschied zwischen Wolfgang Schüssel und der heutigen ÖVP in Sachen Sicherheitspolitik möchte ich Klavierspielen können. (Quelle Twitter) 

Nachsatz 3: Ziemlich genau 40 Jahre nach Ronald Reagans "Star-Wars-Program" SDI Strategic Defense Initiative hat die EU ihre Sky Shield Initiative erfunden. Es passt genau zu diesem Artikel, dass die österreichische Regierung Anfang Juli diese Initiative propagiert, u.a. mit der Aussage von Außenminister Schallenberg, dass Sky Shield mit der österreichischen Neutralität vereinbar sei (Quelle: ORF.at 2.7.23)

 


 

Die zwei folgenden Zitate eines Parteifreundes seien Wolfgang Schüssel ins Stammbuch geschrieben

Christoph Leitl zitiert in seiner politischen und persönlichen Zeitreise „Europa und ich“ den „Brief nach Brüssel“ des damaligen Außenministers Alois Mock vom 17. Juli 1989: »Herr Präsident! Im Namen der Republik Österreich habe ich die Ehre unter Bezugnahme auf Artikel 237 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den Antrag auf Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu stellen.« Im weiteren Text erläutert das offizielle Österreich, dass es »auch als Mitglied der Europäischen Gemeinschaften aufgrund des Beitrittsvertrages in der Lage sein wird, die ihm aus seinem Status als immerwährend neutraler Staat erfließenden rechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen und seine Neutralitätspolitik als spezifischen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in Europa fortzusetzen«. (S. 83)

Leitl Schüssel

FOTOS: Christoph Leitl © Kucera / Verlag + Wolfgang Schüssel © Christophe Licoppe / Wikimedia Commons

Angesichts steigender Kriegsgefahren sieht Leitl Österreich „doppelt in der Pflicht: als Teil des Friedensnobelpreisträgers Europäische Union und als neutrales Land. Neutralität im europäischen Kontext beweist ihren Sinn dann, wenn wir sie in der Förderung von Begegnungen und Dialog nützen. Wäre das nicht einen Versuch wert? Wer einen Versuch wagt, hat zumindest eine Chance. Wer keinen Versuch riskiert, ist dazu verurteilt, einer Entwicklung, die andere steuern, zu folgen. Mit allen Konsequenzen und Turbulenzen. Noch nie war eine aktive und engagierte Neutralität Österreichs so gefragt wie jetzt, mit der wir unserer Verantwortung sowohl für Österreich als auch für Europa gerecht werden könnten. Dazu möchte ich nochmals aus dem im Jahr 1989 der Europäischen Union übergebenen Beitrittsansuchen zitieren, in dem es heißt, Öster reich werde »seine Neutralitätspolitik als spezifischen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in Europa fortsetzen«. Dem ist nichts hinzuzufügen. Machen müssen wir es.“ (S150)

Zitate aus: Christoph Leitl: Europa und ich. Eine politische und persönliche Zeitreise

Verlag Ecowing, Erscheinungstermin: 21.3.2024