Dalai Lama: Das Buch der Freiheit

Am 17. November 1950 wurde dem Dalai Lama die weltliche Herrschaft über Tibet übertragen. Tenzin Gyatso, so sein Mönchsname, war damals gerade erst 15 Jahre und offensichtlich von dieser Aufgabe überfordert, zumal Tibet kurz davor Chinas Volksbefreiungsarmee in Tibet zur "friedlichen Befreiung" des Landes einmarschiert war. "Vom Kommunismus hatte ich absolut keine Ahnung, außer, daß die Bevölkerung der Mongolei sehr darunter gelitten hatte", bringt der Dalai Lama seine damalige kindliche Sicht zum Ausdruck. Auch gesteht er in seinen Memoiren: "Ich entwickelte eine richtige Begeisterung für die Möglichkeiten einer Vereinigung Tibets mit der Volksrepublik China. Je mehr ich mich mit dem Marxismus beschäftigte, desto besser gefiel er mir."

Dalai Lama Tenzin Gyatso

Foto: Tenzin Gyatso der 14. Dalai Lama während eines Besuchs in Wiesbaden im Juli 2015, CC BY-SA 3.0

1954 wurde der Dalai Lama nach China eingeladen, wo er mit dem "höchst beeindruckenden Menschen" Mao Zedong mindestens zehnmal persönlich zusammentraf: "Er benötigte keine aufwendige Kleidung. Obwohl er so heruntergekommen aussah, lag in seinem Auftreten etwas Gebieterisches und Überzeugendes. Allein schon seine Gegenwart gebot Respekt. Ich fühlte auch, daß er durch und durch ungekünstelt und äußerst entschlossen war." Nach einer China-Rundreise war der Dalai Lama "sehr davon beeindruckt, was die Chinesen auf dem Gebiet der Schwerindustrie geleistet hatten." Erst bei seinem letzten Treffen schockierte Mao den traditionellen Führer Tibets mit der Aussage "Sie haben eine gute Einstellung. Aber die Religion ist Gift".

"Nachdem Mao diese verhängnisvollen Worte ausgesprochen hatte, beugte ich mich vor, als wollte ich etwas aufschreiben, in Wirklichkeit aber, um mein Gesicht zu verbergen. Ich hoffte, daß er das Entsetzen nicht spürte, das in mir aufstieg. Es hätte vielleicht sein Vertrauen in mich zerstört. [...] An die Stelle von Erstaunen und Angst trat nun Verwirrung. Wie konnte er mich nur so falsch eingeschätzt haben? Wie konnte es ihm nur in den Sinn gekommen sein, daß ich nicht bis ins Innerste religiös war. Was hatte ihn veranlaßt so zu denken?"

Noch bis 1959 hielt Dalai Lama die Stellung in Lhasa in der Hoffnung, China würde das 17-Punkte-Programm einhalten. "Trotz der Tatsache, daß ich meine Meinung über Mao revidieren mußte, fand ich noch immer, daß er ein großartiger Führer und vor allem auch ein aufrichtiger Mensch war. [...] es gab gute Gründe optimistisch zu sein. Außerdem war ich der Überzeugung, daß eine positive Haltung das einzig Vernünftige war. Es war sinnlos, eine negative Einstellung zu hegen; das macht eine schlechte Lage nur noch schlimmer. Mein Optimismus wurde aber nur von wenigen in meinem Gefolge geteilt."

Die Volksbefreiungsarmee in Tibet wurde ständig aufgestockt, in Lhasa waren bald so viele chinesische Soldaten wie Einheimische. Kloster wurden bombardiert, Menschen gefoltert und hingerichtet, sogar Frauen und Kinder. Beschwerdebriefe des Dalai Lama an Mao blieben unbeantwortet. "Jetzt fing ich an zu begreifen, daß die Worte Maos einem Regenbogen glichen: Sie waren schön, doch ohne Substanz", schreibt der Dalai Lama im "Buch der Freiheit", so der Titel seiner Memoiren. Seine persönliche Freiheit fand er nach seiner Flucht in Dharamsala, Indien, wo er den Sitz seiner Exilregierung einrichtete.

Nach dem Tod Maos versuchten die Chinesen den Dalai Lama zurück nach Lhasa zu holen. Doch er war kein naiver Junge mehr und ließ die Versprechungen und Propagandaschriften der neuen chinesischen Führung von eigenen Untersuchungskommissionen prüfen, die das "volle Ausmaß der chinesischen Ausplünderung Tibets" ans Licht brachten. Lobsang Samten, der Bruder des Dalai Lama, war Mitglied einer dieser Kommissionen und ist bald nach der Rückkehr von seiner Reise nach Tibet verstorben. Er litt "nach jener Reise oft an schweren Depressionen. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß er an gebrochenem Herzen starb."

Auch wenn die Exil-Tibeter von Indien und vielen Ländern unterstützt und aufgenommen wurden, so konnte die Exilregierung nie internationale Anerkennung finden. Erst 1985 schickten 91 Mitglieder des US-Kongress' einen Brief an Li Xiannian, in dem sie direkte Verhandlungen der chinesischen Regierung mit der Exilregierung Tibets befürworteten. Der Dalai Lama schöpfte wieder einmal Hoffnung: "Zum ersten mal wurde Tibet offiziell politisch unterstützt. Für mich war dies ein ermutigendes Zeichen dafür, daß die Gerechtigkeit unserer Sache endlich international anerkannt wurde." Zwei Jahre später konnte der Dalai-Lama im Capitol seinen Fünf-Punkte-Friedensplan vorlegen. China verurteilte seine Rede aufs schärfste. Noch bis 2011 war der Dalai Lama Vorsitzender der Exil-Regierung.

Nur einmal äußert der Optimist Zweifel an sich und der Menschheit: "Überschätze ich vielleicht die Bereitschaft der Menschheit der Wahrheit ins Gesicht zu schauen? Ich glaube, es bedurfte erst des Beweises der Kulturrevolution und dann der Fernsehbilder über das Massaker auf dem Tiananmen-Platz im Jahre 1989, bevor die Weltöffentlichkeit begriff, wie grausam und verlogen die chinesischen Kommunisten sind." In paar Monate nach der Niederschlagung der Studentenrevolte in Bejing erhielt der Dalai Lama den Friedensnobelpreis. Die Nachricht erhielt er bei einem Aufenthalt in den USA. Er sieht den Preis als Auszeichnung dem tibetischen Volkes und als Bestätigung seiner Grundhaltung: "Die Macht, die auf Gewehren basiert, ist nur von kurzer Dauer. Am Ende triumphiert die Lieber der Menschheit für Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie."

Tibet, das vor der Okkupation durch China nur vier Jahrzehnte als selbstständiger Staat bestehen konnte, ist heute wichtiger Uran- und Lithium-Lieferant Chinas. Das mächtige Land legitimiert seine Politik längst nicht mehr mit der "Befreiung von den imperialistischen Mächten", sondern damit, dass Tibet nie ein eigenständiger Staat war. Heute leben noch rund fünf Millionen Tibeter auf dem Dach der Welt - und ebenso viele Chinesen. Nach Angaben des Dalai Lama haben "fast eineinviertel Millionen Tibeter durch Hinrichtung, Folter, Verhungern oder Selbstmord ihr Leben verloren".

Dalai Lama

Das Buch der Freiheit

Verlagsgruppe Lübbe, 1990

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