8. Mai 2022 - Ein Lehrerkind aus Sankt Christophen, einem tiefschwarzem Dorf 40 Kilometer von Wien, das den Aufstieg zum Bürgermeister im tiefroten Wien schafft - das ist Michael Häupl. Der Titel seiner Autobiografie, "Freundschaft", bezieht sich nicht auf seine vielzitierte und kommentierte Freundschaft mit dem niederösterreichischen Landeshauptmann Erwin Pröll. Die wird in dem Buch genau einmal erwähnt, und das nur in einem Nebensatz: "Zwischen dem Wiener Wirtschaftskammerpräsidenten Walter Nettig und mir hatte sich im Laufe der Zeit eine besondere Form der Freundschaft entwickelt – wie zu Erwin Pröll."
"Freundschaft" bezieht sich naturgemäß auf den traditionellen Gruß der Sozialisten, den Häupl spätestens seit seiner Studienzeiten beim VSStÖ, später als Wiener Landesvorsitzender der Jungen Generation, dann Gemeinderat, Umwelt-Stadtrat und schließlich Bürgermeister wohl tausendfach verwendet hat. Und man kann ihm konzedieren, dass er Freundschaft auch gelebt hat, basierend auf den vier programmatischen Grundwerten der Sozialdemokratie: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität (für alle Parteimitglieder).
Ideologie hat Häupl für alle seine politischen Ämter nicht benötigt, abgesehen von seinen politischen Anfängen: "Jeder im VSStÖ hat sich seinen Theorie-Schwerpunkt gesucht. Josef Cap hat sich mit dem 1938 auf Stalins Befehl ermordeten Revolutionär Nikolai Bucharin beschäftigt. Ich habe gemeinsam mit Sigi Mattl eine Seminararbeit über Philosophie und Staatstheorie bei Max Adler geschrieben. Nachträglich muss ich konstatieren: Es war ein dogmatischer Schmarren der Sonderklasse. Oder sagen wir es freundlich: ein intellektueller Irrweg."
Diese kleine Anekdote kann als typisch für die Politik von Häupl betrachtet werden, die noch getragen war von sozialdemokratischen Prinzipien, die Freundschaft auch durch Kritik zum Ausdruck bringen konnten. Dogmatismus vermeidet er weitgehend, außer in einem Punkt: bei der Ausgrenzung der FPÖ. Dass er zur Selbstironie fähig ist, macht ihn sympathisch und mildert so manche Watschen, die er ausgeteilt hat.
"Als Wiener Bürgermeister ist es ganz gut, wenn man Schmäh hat, aber vom Schmäh allein kann man nicht leben", bekennt Häupl. Doch "The Best of" Häupls Sprüchen vermisst man in seinem Buch. Seine Sager sind keine Nebensächlichkeiten, sie sollten sogar Gegenstand historischer Studien werden, um zu untersuchen, wie sich der Wiener Bürgermeister immunisiert hat gegen die Rezepte der Spin-Doktoren, die heutzutage den Politikern Medientauglichkeit einimpfen. Immerhin war er mit 23-einhalb Amtsjahren der längst dienende Wiener Bürgermeister. "Ich hatte ja nie angenommen, dass meine Amtszeit so lange dauern würde. Nur Josef Georg Hörl, Bürgermeister zwischen 1773 und 1804, war länger im Amt als ich. Aber der musste auch nicht gewählt werden."
Exakt dem Bild eines medien-tauglichen Politikers hat dagegen der Kurzzeit-Kanzler Christian Kern entsprochen, den hochbezahlte "PR-Profis" gekonnt zum Affen gemacht haben. Häupl in freundschaftlicher Zurückhaltung: "Man hätte sich in diesem Wahlkampf des Jahres 2017 wahrscheinlich einiges sparen können. Wenn ich schon einen aus der Wirtschaft kommenden und mit der entsprechenden Kompetenz ausgestatteten Kanzler wie Christian Kern als Spitzenkandidaten habe, dann muss ich das entsprechend darstellen und ihn nicht für Werbefilmchen als Pizzaverkäufer durch die Gegend schicken."
Ziemlich ratlos über den abrupten Abgang Kerns nach der gescheiterten Nationalratswahl zeigt sich Häupl auch aus der Distanz mehrerer Jahre: "Kern sagte, er habe die Kanzlerschaft verloren und deshalb gehe er jetzt. Meinem Politikverständnis widersprach das völlig. Ich verstand es nicht. Überdies erfuhren wir es alle aus den Medien. [...] Es ist eine Geschichte, die auch für mich persönlich schmerzhaft ist, denn ich glaube, dass Kerns Kanzlerschaft vom Prinzip her nicht schlecht angelegt war."
Die Liste der Kanzler, die der Häupl als Wiener Bürgermeister (1994-2018) kommen und gehen sah, ist lang: Franz Vranitzky (bis 1997), Viktor Klima (bis 2000), Wolfgang Schüssel (bis 2007), Alfred Gusenbauer (bis 2008), Werner Faymann (bis 2016), Christian Kern (bis 2017) und Sebastian Kurz. Abgesehen von Kurz findet er für alle freundliche, wenn auch nicht immer freundschaftliche Kommentare. Die Freundschaft zu den SP-Kanzlern betrachtet er offenbar als seine Pflicht, umso interessanter ist die Kür, seine Sicht die VP-Kanzler.
Kurz der "Sozialistenfresser"
Gleichzeitig mit Wolfgang Schüssel erhielt Häupl einen Orden des scheidenden Landeshauptmanns von Südtirol. Er erinnert sich: "Schüssel hielt damals eine brillante Dankesrede. Sie war durch und durch proeuropäisch, ich dachte jedes Mal daran zurück, wenn ich die Volten des späteren Herrn Bundeskanzlers Sebastian Kurz in der Europafrage hörte. Er sollte sich einmal die Rede Schüssels von damals anhören, das wäre eine echte Schulung, dachte ich mir dann."
Weiters über den jüngsten Kanzler der zweiten Republik: "Mit Persönlichkeiten wie Reinhold Mitterlehner oder Josef Pröll können Sozialdemokraten durchaus koalieren, wenn es nicht ständig Querschüsse aus den eigenen Lagern gibt. Schwierig wurde es, als der spätere Herr Bundeskanzler in der Bundesregierung mit seinen spalterischen Aktionen begann. Seither sind SPÖ und ÖVP immer weiter auseinandergedriftet, weil von Beginn an völlig klar war: Sebastian Kurz will die SPÖ nicht. Das ist keine bösartige Unterstellung, das ist ein Befund.
Kurz ist ein Sozialistenfresser. Ich verwende dieses Wort, auch wenn es sehr böse klang, als ich es das erste Mal sagte. Ich verwende es nicht als Beschimpfung, wie er glaubt, sondern als Befund. Es ist einfach eine Tatsachenfeststellung. Das zeigte sich ja nach der von ihm im Herbst 2017 gewonnenen Nationalratswahl.
Der Plan von Sebastian Kurz ging jedenfalls voll auf. Er wurde Kanzler und machte eine Koalition mit der FPÖ. Seine Positionen, etwa in der Flüchtlingsfrage, unterschieden sich von jenen der Freiheitlichen ohnehin nur in Details. Dass er versuchte, mit all dem zu brechen, wofür die ÖVP stand, verstehe ich sogar bis zu einem gewissen Grad, diese war ja nicht eben mit Erfolgen verwöhnt. Heute wissen wir, mit welchen üblen Tricks er den Weg ins Kanzleramt geschafft hat."
Die Zeitenwende
Das Jahr 1983 bezeichnet Häupl als Zeitenwende der SPÖ. "Dieses Jahr 1983 war eine Zäsur. Die SPÖ hatte bei den Nationalratswahlen die absolute Mehrheit verloren, Bruno Kreisky zog sich zurück, fädelte aber noch die Koalition mit der FPÖ ein. Auch für mich persönlich war das Jahr 1983 ein Einschnitt: Ich bekam ein Mandat im Wiener Landtag. Gleichzeitig zogen meine Freunde aus der VSStÖ-Zeit, Gitti Ederer und Josef Cap, in den Nationalrat ein, Cap mit einer Vorzugsstimmen-Kampagne, weil er auf keinen sicheren Listenplatz gesetzt worden war."
Gerade mal elf Jahre, bis 1994, hat Häupl bis an die Spitze gebraucht. Als Bürgermeister und Chef über alle Institutionen der Stadt, des Landes und der Partei hatte er danach in 23 Jahre sicher mehr Macht in seiner Hand, als so mancher Kurzzeitkanzler. Die Grundsätzliche Problematik dieser Machtfülle war offenbar nicht Gegenstand von Häupls Gesprächen mit dem Journalisten Herbert Lackner, der das Buch "Freundschaft" redigiert hat. Damit hat Lackner vielleicht dem Ex-Bürgermeister einen Freundschaftsdienst erwiesen, aber sicher nicht den Menschen dieses Landes und unserer Demokratie auch nicht.
Ein kritischer Journalist hätte gefragt, wozu der Machtapparat rund um Häupl jährlich 100 Millionen Euro für Propaganada benötigt. Sind Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität im täglichen Leben der Wiener nicht aufgrund der Stadtpolitik an allen Ecken und Enden sichtbar? Müssen diese Errungenschaften erst sichtbar gemacht werden - in wöchentlichen Postillen an alle Haushalte der Stadt und in täglichen Sendungen im Regional-TV und Internet? Häupl ist zu intelligent, um seine Informationen aus den eigenen Propagandamedien zu beziehen, aber leider auch zu abghoben, um zu erkennen, dass er damit die Abgehängten (Copyright: Hans Rauscher) schon längst nicht mehr erreicht.
Ein kritischer Journalist hätte gefragt, wie es passieren konnte, dass die allmächtige SPÖ so viele Menschen abgehängt und an die FPÖ verloren hat, wie es mit echter Demokratie vereinbar ist, dass Menschen, die in Wien etwas erreichen wollen, entweder abhängig sind von der SPÖ, oder abgehängt werden von den Institutionen, in denen die SPÖ etwas zu sagen hat. Den Aufschwung der FPÖ nur den primitivsten fremdenfeindlichen Emotionen der Prolos zuzuschreiben, sollte eigentlich weit unter dem Niveau von Häupl sein. Das ehrenwerte Proletariat der SPÖ-Oberschicht, personifiziert in den Parteiführern Vranitzky und Häupl, hat darauf keine Antworten entwickelt, sondern nur abgehoben reagiert: "Es hat ihn [Vranitzky] 2015 sehr beeindruckt, dass ich mit meinem Haltungswahlkampf – gegen Ausländerfeindlichkeit und für Großzügigkeit in der damals aktuellen Flüchtlingskrise – nahezu 40 Prozent erreicht und die Freiheitlichen doch deutlich auf Distanz gehalten habe." Haltung ist Herrschaftsmoral, Demut ist Sklavenmoral - sagt Nietzsche. Diesen Philosophen hat Häupl mit Sicherheit nicht gelesen.
Ausgrenzen und auf Distanz halten - der Herr Bürgermeister hat sich offenbar daran gewöhnt, Demokratie in geschlossenen Gesellschaften, d.h. in jenen Institutionen zu üben, in denen die SPÖ etwas zu sagen hat, ohne sich die Frage zu stellen, warum immer mehr Menschen unseres Landes in diesen Institutionen keinen Platz mehr finden. Die zentrale Frage der Demokratie von heute lautet: wie ist es möglich, dass sich der Parteien- und Staatsapparat immer mehr einmauert, dass sich Häupl und Co als Hüter der "Festung Demokratie" wähnen, während sie gleichzeitig tausende Bewegungen dieses Landes ausgrenzen. Direkt (wie die FPÖ, die schon im System ist) und indirekt, wie beispielsweise hunderte Kleinparteien, denen man die Hürde zur Teilnahme an der Demokratie (nicht nur an den Wahlen!) extrem hoch setzt, um zu verhindern, dass frischer Wind in die "Festung der Demokratie" rein kommt.
Die Zeitenwende, die - wie Häupl richtig schreibt - mit dem Ende der Ära Kreisky in der SPÖ eingeleitet wurde, war eine Wende der Partei, die für Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität gekämpft hat, hin zu einer Partei, die sich als einzig legitimen Bewahrer von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität in diesem Lande sieht. Dies war die Wende von einer progressiven zu einer konservativen Partei. Am Ende dieser Entwicklung, man kann sie mit dem Ende der Ära Häupl ansetzen, geht es nicht mehr um die Bewahrung, und schon längst nicht mehr um die Verteidigung der ehemaligen Grundwerte, sondern nur noch um die Wahrung der Besitzstände der Partei. Aus der Klassenpartei wurde zwar keine Standespartei, aber eine Partei mit Standesdünkel.
Deshalb braucht die SPÖ heute keine Ideologie mehr. Die SPÖ ist, so wie auch die ÖVP, zur ideologiefreien Zone geworden. Die legendäre Männerfreundschaft Häupl-Pröll zweigt, was Freundschaft wirklich bedeutet: man gönnt dem anderen in seinem Bundesland, was man sich selbst im eigenen niemals verwehren würde. Das sind nicht nur die jeweiligen Ämter der Partei, sondern so gut wie alle staatlichen Ämter, die es in den jeweiligen Bundesländern zu besetzen gibt. Natürlich demokratisch, also nach den Gesetzen, die sich die Parteien in den vergangenen Jahrzehnten geschrieben haben und nach den Ausschreibungen, die Parteikader für jede einzelne Position verfasst haben. Mit dieser Geisteshaltung - nur was man besetzt hält, kann man besitzen - wurde die SPÖ von ihren heutigen Führern und Kadern zu einer Besitzstandspartei, der die Bewahrung und Verteidigung ihrer Pfründe wichtiger ist als die Weiterentwicklung unserer Demokratie auf Basis von: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität!
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