Polli Gert: Schattenwelten

Gert Polli war der erste Vorsitzende des BVT (Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung), das 2002 gegründet und 2021 wieder aufgelöst bzw. in die neu geschaffene Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) überführt wurde. Bereits nach fünf Jahren wurde Polli, der nach seiner Ausbildung an der Militärakademie Wiener Neustadt sein Handwerk beim Heeres-Nachrichtendienst gelernt hat, von seinem Posten abgelöst. So zieht er schon in der Einleitung seines Buches, das im Ares-Verlag erschienen ist, das Resümee: "Der Umstieg vom Militär in den zivilen Sektor kam einem Himmelfahrtskommando gleich. Aus heutiger Sicht war für mich der Wechsel vom Militär ins Innenministerium ein nicht mehr wiedergutzumachender Fehler. [...] Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Spitze einer solchen Organisation mit permanenten externen und internen Anfeindungen zu rechnen hat, die mitunter in langwierigen und absurden Ermittlungen und Strafverfahren münden. Das alles ist der Schattenwelt zu verdanken, deren Handeln nicht immer im Interesse der Republik liegt und nicht so ohne Weiteres den Weg in die Öffentlichkeit findet."

Polli Schattenwelten Ares

Über die Schatten, insbesondere jene Personen, die ihre Schatten werfen, ohne selbst gesehen zu werden, erfährt man in diesem Buch allerdings ziemlich wenig. Die Welt der Geheimdienste hatte wohl selten einen "Geheimdienstchef", der so viel nicht wusste oder gar nicht wissen wollte. So erfährt der Leser über das Treiben der ausländischen Nachrichtendienst in Österreich: "Man weiht uns nicht ein – und wir sind dafür auch noch dankbar. So funktioniert Spionageabwehr in Österreich im Kern."

Effiziente Spionageabwehr betrieb schon das Heeres-Nachrichtenamt mit der Anschaffung der Verschlüsselungssoftware der Schweizer Firma Crypto AG, die auch 120 andere Regierungen weltweit verkauft wurde. So konnten alle locker bei den anderen mitlesen. Zu guter Letzt stellte sich heraus, dass die Crypto AG eine Tarfirma des CIA des BND war. "Jedenfalls hat der Staatsschutz, die für die Spionageabwehr zuständige Stelle im Innenministerium, davon nichts mitbekommen", berichtet Polli.

Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, ist offenbar das Motto vom "Geheimdienstchef" Polli (im Jahr 2022, zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches, schon längst Ex, aber das macht sich nicht so gut am Cover). So stieß er offenbar ohne Briefing auf das Rote Telefon, "eine sichere direkte Verbindung zwischen den Leitern der Dienste des Berner Clubs. Der Berner Club ist eine informelle Plattform der Sicherheits- und Nachrichtendienste in Europa. Das allerdings wusste ich damals noch nicht." Das Verhältnis zu seinem obersten Chef, Innenminister Ernst Strasser, war nie das beste. "Das mündete in eine der seltsamsten mündlichen Weisungen, die ich als Direktor BVT je erhielt: 'Die Amerikaner bekommen alles, was sie wollen', ließ mich der Minister wissen. Was das aber bedeuten sollte, konnte ich mir damals noch nicht erklären."

"Ich weiß nicht, was passiert ist, nachdem Brown 2005 abberufen worden war", bekennt sich Polli zur Ahnungslosigkeit. Lyons Brown war 2001 bis 2005 US-Botschafter in Wien, Strasser war von 2000 bis 2004 österreichischer Innenminister. Seine Großzügigkeit "alles was sie wollen" dürfte Strasser jedenfalls 2003 noch weitherziger ausgelegt haben, als er Präsident des Vereins der Österreichisch-Russischen Freundschaftsgesellschaft wurde. Für den Innenminister gab es offenbar keine Frage der Unvereinbarkeit, ebenso wenig dürfte das den damaligen Kanzler Wolfgang Schüssel und den damaligen Bundespräsidenten Thomas Klestil gestört haben.

Polli enthüllt immerhin einen Brief von Innenminister Strasser an den Chef des russischen Geheimdienstes FSB, Nikolai Platonowitsch Patruschew "möge doch die Präsidentschaft der Russisch-Österreichischen Gesellschaft in Moskau übernehmen, während er selbst die Österreich-Russische Gesellschaft in Wien leiten würde." Wenn man sich daran erinnert, dass im Jahr der größten Finanzkrise seit dem 2. Weltkrieg, 2020, der österreichische Finanzminister - ein mittlerweile verwelktes Blümlein - so ganz nebenbei Wahlkampf für das Amt des Wiener Bürgermeisters gemacht hat, so sieht man, dass die moralische Verkommenheit in der ÖVP schon mehrere Jahrzehnte alt ist. Skurril nur der Nachsatz des damaligen Geheimdienstchefs: " Ob Patruschew jemals darauf geantwortet hat, ist mir nicht bekannt."

Strasser ist unfreiwillig aber medienwirksam über seinen Schatten gesprungen, das ist allgemein bekannt. Warum Blümel über seinen Schatten springen musste und warum seit Jahresbeginn 2022 ein gutes Dutzend ÖVP-Führungskader in Bund und Land ihren "freiwilligen" Rückzug angetreten haben oder zurück getreten wurden, ist mir [dem Rezensenten des Buches] nicht bekannt - aber jeder Österreicher mit Urteilskraft kann sich seine eigene Meinung darüber bilden.

Noch einen Schattenmenschen dieses Landes führt Gert Polli vor: "Peter Pilz war eine schillernde Figur der österreichischen Innenpolitik. Man nannte ihn, nicht einmal hinter vorgehaltener Hand, Mister Untersuchungsausschuss. Der Mann hatte Talent und politisches Gespür. Wenn er einmal Witterung aufgenommen hatte, war er nicht zu stoppen. Er war der Liebling der Presse, seine Geschichten und angeblichen Enthüllungen waren legendär, und die Presse lebte schon seit Jahren davon. [...] Kam Pilz einer unangenehmen Wahrheit zu nah, wurden ihm Informationen zugespielt, die er enthusiastisch weitertrieb und die irgendwann im Nichts endeten. Ein Stöckchen, das geworfen wurde, das ihn nicht nur ablenkte, sondern ganz und gar in Besitz nahm. Selbst ausländische Nachrichtendienste nutzten ihn exzessiv, ohne dass er misstrauisch wurde. Er prahlte sogar mit seinen CIA-Kontakten. Im nachrichtendienstlichen Zirkeln wurde er als „Stöckchenmann“ bezeichnet. [...] Der Mann hat die Republik viele Millionen Euro gekostet und war berühmt als Totengräber so mancher Karriere, auch meiner, wie ich später vermutete."

Resümee: Als Kurzzeit-Geheimdienstchef und in seinem ganzen beruflichen Leben war Gert R. Polli ein Mister Ahnungslos, der von einem Fettnäpfchen ins nächste getreten ist. Das ist so ziemlich die größte Enthüllung des Buches. Der Titel "Schattenwelten. Österreichs Geheimdienstchef erzählt" verspricht somit mehr, als der Autor einlösen kann. Die besten Teile des Buches - durchaus unterhaltsam geschrieben - sind seine persönlichen Erinnerungen, beginnend mit seinen unglücklichen Jahren als Tischlerlehrling, seinem Wechsel zum Berufssoldaten und einer Abenteuerreise auf dem Kajak ans Schwarze Meer, die schon in Ungarn abgebrochen werden musste. Psychostress, Mobbing am Arbeitsplatz, seine Qualen am Jakobsweg, sogar Liebesgeschichten und Morde streift der Autor, der sicher das Zeug dazu hat, einen Krimi zu schreiben. Dafür muss er allerdings noch lernen, Themen, die er anschneidet, um einen Spannungsbogen aufzubauen, irgendwann im Buch auch einzulösen. So deutet er an, dass sich in seiner Kurzzeit-Ehe mit einer Türkin noch Material für einen eigenen Roman aufgestaut hat. Man darf hoffen, dass er für diesen Roman einen besseren Lektor findet als für das vorliegende Buch. Seine Andeutungen zu dem Projekt sind jedenfalls viel versprechend.

Gert R. Polli
SCHATTENWELTEN. Österreichs Geheimdienstchef erzählt

Ares Verlag, 2022

Ergänzung 24.11.23: Manfred Matzka (ab 1989 Kabinettschef des Bundesministers für Inneres Franz Löschnak wurde 1993 Leiter der Sektion für Fremden-, Asyl-, Pass-, Staatsbürgerschafts- und Migrationswesen und war Koordinator der Schengen- und EU-Angelegenheiten des Ressorts) schreibt in seinem Buch "Schauplätze der Macht" (2023): "Nicht alle Teile des Ressorts sind allerdings so mächtig, wie sie es gerne wären oder wie es ihnen nachgesagt wird. Wer sich jemals intensiver mit dem 'Geheimdienst' im Innenressort – Staatspolizei, BVT, DSN oder wie immer die Bezeichnungen lauteten – auseinandergesetzt hat, weiß, dass hier ein recht zahnloser Tiger sitzt. Viel Bürokratie erzeugt da geradezu hanebüchene Ergebnisse – etwa Lageberichte, die man auf Basis einiger Qualitätsmedien und des Internets selber schreiben könnte. Ein Wust interner Intrigen hemmt die Institution – nachzuverfolgen an der sogenannten BVT-Affäre 2016, und kleinkrämerisch Vormärzliches beschäftigt die Leute. Auch ich konnte 1990 als Kabinettschef meinen StaPo-Akt lesen und habe herzlich darüber gelacht. Man soll das aber auch nicht verharmlosen, besonders dann nicht, wenn politische Gegner des Ressortchefs bespitzelt, Netzwerke im halbseidenen Bereich gesponnen oder notwendige Untersuchungen torpediert und unbegründete Exekutivmaßnahmen aus dubiosen Gründen forciert werden. Für all das gibt es von Olah bis heute zahlreiche, auch gerichtskundige Beispielsfälle."