„Von Denis Scheck in den Müll geworfen“, rezensiert Roger Willemsen den Rezensor. Nach dem Tod des Literaturpapstes Marcel Reich-Ranicki konnte diese Stellung nicht mehr nachbesetzt werden. Aber Deutschlands Literaturgemeinde hat in Denis Scheck ihren Oberinquisitor gefunden, der Bestseller in den Himmel lobt oder – nein, nicht verteufelt, aber symbolisch in den Müll schmeißt. Mit einem entsprechenden Kommentar: „Für sein neues Buch [Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament.] ist Roger Willemsen dahin gegangen, wo’s wehtut. Ein Jahr hat er sich zu intellektuellem Pfahlsitzen im Zentrum der vom Volke ausgehenden Macht verdonnert und die Debatten im Deutschen Bundestag mitverfolgt. Für einen an quecksilbrige Denkbewegungen und virtuose Sprachakrobatik gewohnten Mann wie Willemsen sicher kein leichter Weg. Das Ergebnis sind Innenansichten aus dem deutschen Politikbetrieb, deren Erkenntnistiefe niemanden kaltlassen wird: „Merkel hat einen Fleck am Revers entdeckt, rubbelt, hebt ihre rote Henkeltasche an, hält ihren gelben Kuli aufrecht. … Merkel schmiegt jetzt die Wange in eine Hand. … Merkel ist inzwischen ins Innere ihrer Tasche zurückgetaucht.“ Dieses Buch hat der deutsche Politikbetrieb verdient.“
Die Beobachtung des scheinbar Nebensächlichen gehört zur Attitüde des Buches, denn im Nebensächlichen, das von den tagesaktuellen Medien ausgeblendet wird, enthüllen sich Gesinnung und Haltung. Die Grund-Haltung der Player im Hohen Haus – der Regierungsmitglieder ebenso wie der Abgeordneten – lässt sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Ignoranz. Denn während Merkel in ihrer Handtasche kramt, steht jemand hinter dem Pult und spricht zur Regierung, zu den Kollegen und Kolleginnen – aber die haben fast immer etwas Wichtigeres zu tun. Die Abgeordneten sprechen natürlich auch zu den Medien, die zumindest beflissen aufzeichnen. Und am Ende sprechen sie zum Volk, das sie repräsentieren. Doch können sie es auch erreichen?
Dass parlare im Parlament zu einer Einbahnstraße verkommt, zu einem reinen Schattenkampf, beobachtet Willemsen immer wieder: „Sie kommen aus den Ausschüssen, hauen sich das dort Gesagte effekthascherisch noch einmal um die Ohren und verlassen, kaum ist die Simulation einer entscheidenden Debatte vorbei, den Raum.“
„Ich habe lange Phasen erlebt, in denen kein einziger Abgeordneter bei dem war, was vorne gesprochen wurde.“
„Niemand scheint bei der Sache, und versuchte man es, es wäre vergeblich. Der Lärmpegel ist zu hoch. Jetzt scheint selbst [Bundestagspräsident Norbert] Lammert hilflos. Auch die Kanzlerin hat zehn Minuten nach Betreten des Raums noch keine Minute zugehört.“
Und so weiter bis ans Ende des Buches. Nach der Wahl 2013 gibt es im Winter einen Regierungswechsel von CDU/CSU+FDP zu CDU/CSU+SPD, doch unverändert bleibt das Prinzip der Ignoranz im Hohen Haus.
Natürlich beschäftigt sich Willemsen auch mit den Ursachen dieser Ignoranz, mit der Tatsache, dass in den Ausschüssen bereits die eigentlichen Entscheidungen getroffen werden, was die Diskussionen im Plenum eigentlich überflüssig macht. Genau das ist die Haltung, die sich in der Ignoranz den Rednern gegenüber manifestiert. Willemsen: „Die Währung parlamentarischer Missbilligung heißt Aufmerksamkeitsentzug.“ Schlimm daran ist nicht die gegenseitige Missachtung von Parteifreunden und Parteifeinden, sondern die Missachtung des Volkes, welches das Hohe Haus eigentlich repräsentieren soll!
Würde man das Buch rein formal (quantitativ) taxieren, so müsste man es als „linkslastig“ bezeichnen, denn es sind vorwiegend Positionen der Linken, die in längeren Passagen zitiert werden. Inhaltlich ist aber leicht nachvollziehbar, dass Willemsen bei all den hohlen Phrasen, die er ein Jahr lang ertragen musste, Sisyphos-Qualen erlitten hat, so dass er klar nachvollziehbare Argumente der Linken und deren Esprit immer wieder als Höhepunkt der Sitzungen erlebt haben musste.
Es wäre interessant, wie Willemsen heute die AfD kommentieren würde. Doch die AfD wurde erst 2013 gegründet und ist erstmals 2017 in den Bundestag eingezogen. Roger Willemsen ist 2016 an Krebs verstorben. Im Nachwort zur Auflage, die 2017 erschienen ist, schreibt er: „Die Stabilität einer Gesellschaft ist auch ablesbar an der Stabilität der Zeichenordnungen, und diese sagen für das Parlament: Wir regieren, ihr seid regierbar. Beides verlangt nach dauernder Infragestellung, im Aktuellen so sehr wie im Prinzipiellen. Auch deshalb wünschte ich mir, das Staffelholz dieses Projektes an eine Autorin, einen Autor weiterzugeben.“
Das Buch beginnt und endet mit den Neujahrsansprachen der Kanzlerin. Am 31. Dezember 2012 nimmt sie Stellung zu einer Bombardierung in Afghanistan, wo unter Deutscher Verantwortung 142 Zivilisten umgekommen sind: „Wenn es zivile Opfer gegeben haben sollte, dann werde ich das natürlich zutiefst bedauern.“ Willemsen entlarvt das „konjunktivische Mitleid: Wenn tot, dann traurig, wenn traurig, dann ‚zutiefst‘, und wenn ‚zutiefst‘, dann ‚natürlich‘!“ Ein Jahr später: „Da ist sie also wieder, die Hüterin des großen Sowohl-als-auch: Das Kleine und das Große, das Beglückende und das Erschütternde, das Weltpolitische und das Privatmenschliche, alles rafft sie unter den Mantel ihrer Fürsorge. … Zuletzt hat mir die Kanzlerin dann noch ‚Gottes Segen‘ gewünscht. … Zeit für mich, die wirklich politischen Orte wieder anderswo zu suchen. Auch im Parlament, vor allem aber außerhalb.“
"Das Hohe Haus"
Szenische Lesung mit Roger Willemsen aus dem österreichischen Parlament
Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament.
Frankfurt am Main, 2015