"Die ganze Geistesgeschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Diebstählen. [...] Alexander bestiehlt Philipp, Augustinus bestiehlt Paulus, Giotto bestiehlt Cimabue, Schiller bestiehlt Shakespeare, Schopenhauer bestiehlt Kant. Und wenn einmal eine Stagnation eintritt, so liegt der Grund immer darin, daß zu wenig gestohlen wird. Im Mittelalter wurden nur die Kirchenväter und Aristoteles bestohlen: das war zu wenig. In der Renaissance wurde alles zusammengestohlen, was an Literaturresten vorhanden war: daher der ungeheure geistige Auftrieb, der damals die europäische Menschheit erfaßte. Und wenn ein großer Künstler oder Denker sich nicht durchsetzen kann, so liegt das immer daran, daß er zu wenig Diebe findet. Sokrates hatte das seltene Glück, in Plato einen ganz skrupellosen Dieb zu finden, der sein Handwerk von Grund aus verstand: ohne Plato wäre er unbekannt.“
Heute ein Plagiat von Friedells epochaler Kulturgeschichte zu fabrizieren, wäre so leicht wie nie zu vor. Denn sein Werk ist vollständig im Internet auf dem Projekt Gutenberg abrufbar.
Friedell ist nicht nur ein genialer Geschichten-Erzähler und Dichter, sondern kann auch als Begründer einer neuen Geschichtsphilosophie betrachtet werden. Er meint: „Alle Dinge haben ihre Philosophie: Der erste dieser Grundpfeiler besteht in unserer Auffassung vom Wesen der Geschichtschreibung. Wir gehen von der Überzeugung aus, daß sie sowohl einen künstlerischen wie einen moralischen Charakter hat; und daraus folgt, daß sie keinen wissenschaftlichen Charakter hat.“ Kunst (insbesondere Dichtkunst) und Moral (insbesondere Sitten, Gewohnheiten und Verhaltensweisen) stehen somit in der Betrachtung Friedells immer im Vordergrund, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft treten in den Hintergrund, bleiben aber natürlich auch bei Friedell der rote Faden seiner Erzählungen.
Im Gegensatz zur wissenschaftlichen, akademischen Historikern sieht Friedell in Anekdoten und Legenden, die in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich gedeutet werden, das Wesen der Geschichtschreibung: „Jedes Zeitalter hat ein bestimmtes nur ihm eigentümliches Bild von allen Vergangenheiten, die seinem Bewußtsein zugänglich sind. Die Legende ist nicht etwa eine der Formen, sondern die einzige Form, in der wir Geschichte überhaupt denken, vorstellen, nacherleben können. Alle Geschichte ist Sage, Mythos und als solcher das Produkt des jeweiligen Standes unserer geistigen Potenzen: unseres Auffassungsvermögens, unserer Gestaltungskraft, unseres Weltgefühls.“ Darüber hinaus spielen Anekdoten eine bedeutende Rolle: „Die Geschichte ist ein großer Konvexspiegel, in dem die Züge der Vergangenheit mächtiger und verzerrter, aber um so eindrucksvoller und deutlicher hervortreten. Mein Versuch intendiert nicht eine Statistik, sondern eine Anekdotik der Neuzeit... Eine Universalgeschichte läßt sich nur zusammensetzen aus einer möglichst großen Anzahl von dilettantischen Untersuchungen, inkompetenten Urteilen, mangelhaften Informationen.“ Geschichtschreibung, ja die Geschichte selbst, ist letztlich eine besondere Form der Dichtkunst: „Die Geschichte der verschiedenen Arten des Sehens ist die Geschichte der Welt.
Wie viele Solitäre der Geschichte ist der Egon Friedell (Geburtsname Egon Friedmann) ein Solitär der Geschichtschreibung. Er hat sein Abitur erst beim vierten Anlauf geschafft, dagegen hat er sein Philosophie-Studium 1904 schon nach neun Semestern mit einer Disseration über Novalis abgschlossen. „Geboren am 21.1.1878 in Wien, zweimal in Österreich und zweimal in Preußen maturiert, beim viertenmal glänzend bestanden. In verhältnismäßig kurzer Zeit in Wien zum Doktor der Philosophie promoviert, wodurch ich die nötige Vorbildung zur artistischen Leitung des Kabaretts ‚Fledermaus’ erlangte“, schrieb Friedell selbstironisch und Felix Salten kommentierte: „Da stand nun Egon Friedell, Doktor der Philosophie, Hofnarr des Publikums und, wie die meisten Hofnarren, dem Gebieter weit überlegen.“
Seine Narrenfreiheit konnte sich Friedell dank seiner Erbschaft durchaus leisten. Nach dem 1. Weltkrieg vernichtete allerdings die Inflation sein Vermögen. Doch als Journalist, Schriftsteller und Kulturphilosoph, sowie Schauspieler, Kabarettist und Conférencier hatte er weiterhin sein Auskommen. Auf der Flucht vor der SA sprang Friedell am 16. 3. 1938 vom Balkon seiner Wiener Wohnung in den Tod. Sein epochales Werk „Kulturgeschichte der Neuzeit“, veröffentlicht 1925 bis 1931 in drei Bänden, hat überlebt, ist jedoch – wohl aufgrund des Umfangs von 1700 Seiten – im Bewusstsein unserer Zeit nicht so lebendig wie es sein sollte.
Foto gemeinfrei, Egon Friedell 1931
Egon Friedell
Kulturgeschichte der Neuzeit: Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg
Gebundene Ausgabe: 1600 Seiten
Verlag: C.H.Beck
ISBN-13: 978-3406636417
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