"Die österreichische Philosophin Isolde Charim wird mit dem diesjährigen Essay-Preis 'Tractatus' des Philosophicums Lech ausgezeichnet. Sie erhält den mit 25.000 Euro dotierten Preis exemplarisch für ihr Werk 'Die Qualen des Narzissmus', mit dem sie unter anderem die Mechanismen der freiwilligen Unterwerfung in der Gesellschaft entlarvt. Die Verleihung erfolgt am 22. September im Rahmen des Philosophicums, das sich heuer mit dem Thema 'Alles wird gut' auseinandersetzt", berichtet DiePresse.com (6.9.23)
Der Verlag Zsonlay (Hanser) schreibt über das Buch, das im September 2022 erschienen ist: Nach „Ich und die Anderen“ geht die Philosophin Isolde Charim in ihrem neuen Buch der Spaltung der Gesellschaft auf den Grund. Wie kommt es, dass wir uns den Verhältnissen unterordnen? Oder mit Spinoza gefragt: Wie kommt es, dass „die Menschen für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil“? Diese Frage gilt es zu allen Zeiten neu zu stellen, erst recht jedoch in Zeiten von Krisen und Verunsicherungen. Die Antwort heute muss lauten: Es ist der Narzissmus, der Narzissmus als gesellschaftliche Forderung an jeden Einzelnen: Du musst mehr werden, als du bist, du musst zu deinem Ideal werden. Was aber bedeutet es für die Gesellschaft, wenn dieses antigesellschaftliche Prinzip zur herrschenden Ideologie wird? Mit beeindruckender Klarheit erklärt die Philosophin Isolde Charim, was uns dazu bringt, uns freiwillig den „Qualen des Narzissmus“ zu unterwerfen.
Im Interview mit der Zeitschrift Philomag beantwortet Charim die Frage: Was genau meinen Sie mit Narzissmus?
Im Unterschied zum Alltagsverständnis meine ich mit Narzissmus nicht einfach Egozentrik oder übertriebene Selbstliebe, sondern einen ganz präzisen Begriff, den ich aus der psychoanalytischen Theorie übernehme. Diese versteht Narzissmus als eine Unterordnung unters Ich-Ideal – das ist jene Instanz der Psyche, die eine bessere Version unserer selbst darstellt. Ich borge mir diesen Begriff aus, jedoch nicht, um einen Defekt, eine Pathologie zu beschreiben, sondern unsere neue Normalität.
Es beschreibt also keinen Mangel, sondern ein Funktionieren. Ist das in dieser Form ein neues Phänomen?
Wir haben lange Zeit in Gesellschaften gelebt, die dem Über-Ich, also der verinnerlichten moralischen Autorität, untergeordnet waren. Das heißt, in Gesellschaften, die viele Hemmungen aufgeboten haben, um den Narzissmus einzuhegen. Etwa durch die Pflicht als Einschränkung der Selbstliebe und durch die moralische Verurteilung selbstsüchtiger Begierden. Meine These ist, dass wir in einer ganz neuartigen Gesellschaft leben, in der der Narzissmus von einem zu bekämpfenden Übel zu einem Antriebsmodus geworden ist. Wir funktionieren heute über die Herrschaft des Ich-Ideals. Es gibt jedoch nicht nur den psychischen Narzissmus in jedem Einzelnen, sondern auch, und das ist neu, den objektiven Narzissmus. Dieser kommt von außen an das Subjekt und ist in den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst eingeschrieben.