Manfred Stangl verfasst mit "Seliger" etwas für die (post-)moderne Literatur völlig Unbekanntes und damit wahrhaft Neues, nämlich einen ganzheitlichen Entwicklungsroman. Der Weg vom sinn- und sprachzerstörenden Nihilisten hin zum Adepten der Stille wird nachgezeichnet, der Natur und Blumen folgt, bis er staunend in Gott versinkt – bis einzig Glückseligkeit ist, wenn Atman Brahman wird.
So gesehen kann man das Buch nicht im üblichen Sinne kritisieren, sondern nur versuchen, es so tief wie möglich in sich aufzunehmen. Folgende Auszüge sollen "Lust auf mehr" machen. Diese konsumistische Formulierung entspricht zwar nicht der Gesinnung des Autors, möge aber im positiven Sinne aufgefasst werden.
"In allen Allen ist es mir zu eng", erinnert sich der Autor an einen Spruch von Kurt Schwitters. (21)
"Längst haben wir die Grenze überschritten; es gibt kein Zurück, kein markiges Vorwärts - nur noch ein abwärts: halten wir nicht rasch inne, wird die Menschheit wie Staubkörner verwehn..." (36)
"Warum, schimpfte ich, warum nur und ballte die Pfote und schüttelte sie und reckte sie anklagend und steif in den aufkommenden Wind. Da säuselte er föhnig: Seliger, was bejammerst du die Macht dieser schwarz gekleideten Männer und Frauen, die sich für die Priester halten der neuen Zeit, diese Adepten des Nichts sind so wenig gläubig, dass sie nicht einmal geradeheraus den Ideen nachfolgen, die sie vertreten. Lass sie reden, schreiben, sich inszenieren, sarkastisch sein oder in eisige Distanz fliehen - geh du hinaus in die Blumen, lass die Vögel deine Priester sein und den Wald die im Sturm knarrende Kanzel, zu der du aufblickst falls du Erbauung brauchst." (45 f)
"Er schlenderte am Südtirolerplatz umehr, stöberte in den Bücherkisten der Gewerkschaftsbuchhandlung, nahm einen der Bände interessiert aus einer Schachtel, blätterte hinein. 'Das Zeitalter des Narzissmus'. M. bezahlt, schritt zur nahen Scherbe und begann zu lesen. Von Seite zu Seite nahm sein Erstaunen zu. Christopher Lasch beschrieb, wie umfassend unsere Gesellschaft, das Kulturleben, die Erziehung, die einzelnen Personen vom Narzissmus durchdrungen und geknebelt würden. [...] Hier wurde seine Psyche beschrieben. Der Hang zur Übertreibung, das Einzigartigkeitsgetue, die innere Leere, die Panikzustände. Setzte er seine Befindlichkeit literarisch um, entstanden nebulös in der Zeit und dem Raum hängende Bilder, die eines mit dem anderen kaum in Verbindung standen, die in das Vakuum seiner grenzenlosen Existenz hineingebrüllt waren, aber bodenlos und himmellos blieben." (54)
[Anmerkung HTH: 2022 (32 Jahre nach Lasch, dessen "The Culture of Narcissism" 1979 erschien und 1980 in auf Deutsch heraus kam) publizierte Isode Charim "Die Qualen des Narzissmus", für das sie 2023 den Tractatus-Preis erhielt.]
"M. erlebte hautnah, wie die Verklausungen des falschen Seins barsten, diesen narzisstischen Damm, der den Fluss des Lebens zurückhielt. Wie eine Sintflut ergossen sich die lang zurückgestauten Tränen in eine durch zart grünende Einsicht und junge Bäumchen spärlich bewachsene Steppe." (93 f)
Bei Meister Eckhart kann man lesen: "Wer sich seiner selbst völlig bloß wird, frei jeglichen Wollens und Habens, der schafft Platz, auf dass das Göttliche vollständig in ihn einkehren kann." (245)
Manfred Stangl
Seliger. Ganzheitlicher Entwicklungsroman
edition sonne und mond, 2023, 256 Seiten
ISBN: 978-3-903492-04-2, 14,40 Euro