„Franz Kafka (gelegentlich tschechisch František Kafka, hebräischer Name: אנשיל Anschel; * 3. Juli 1883 in Prag, Österreich-Ungarn; † 3. Juni 1924 in Kierling, Österreich) war einer der bedeutendsten Vertreter der Prager deutschen Literatur und der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts überhaupt“, weiß wikipedia und „enteignet“ damit die Österreichische Literatur – ein bislang wenig beachteter Aspekt der political correctness, die Kehrseite angeblich nicht legitimer „Aneignung“ fremder Kulturgüter. Die Nationalitätenfrage soll hier nicht überstrapaziert werden, doch es ist geradezu kafkaesk, dass Wiki einleitend auf die jüdische Herkunft Kafkas verweist, um im dritten Absatz zu erklären: „Für Kafka, einen gebürtigen Böhmen deutscher Sprache, in Wirklichkeit weder Tscheche noch Deutscher, war es nicht leicht, eine kulturelle Identität zu finden.“ Eh kloaa, würde eine Wiener sagen, er war ein echter Österreicher.
Dass auch Kafkas Leben teilweise kafkaesk verlief, die Charaktere seiner Romane naturgemäß aus eigenen Erfahrungen leben, zeigt folgender Tagebucheintrag vom 2. August 1914: „Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt – Nachmittag Schwimmschule.“
Zu den unvollendeten Romanen, die dank Max Brod nicht verbrannt sondern postum veröffentlicht wurden, zählt „Das Schloß“. Die den Roman dominierende, aber den Umständen völlig ausgelieferte Hauptfigur ist „K.“. Er kommt in ein Dorf, in das er vom „Schloss“ als Landvermesser berufen wurde. Schon der Einstieg des Romans schildert die undurchschaubaren Verflechtungen von Sachverhalten und Vermutungen, die nur durch ein eigenes Adjektiv zureichend charakterisiert werden konnten: kafkaesk!
HIER DER WORTLAUT (übernommen aus dem Projekt Gutenberg):
Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.
Dann ging er, ein Nachtlager suchen; im Wirtshaus war man noch wach, der Wirt hatte zwar kein Zimmer zu vermieten, aber er wollte, von dem späten Gast äußerst überrascht und verwirrt, K. in der Wirtsstube auf einem Strohsack schlafen lassen. K. war damit einverstanden. Einige Bauern waren noch beim Bier, aber er wollte sich mit niemandem unterhalten, holte selbst den Strohsack vom Dachboden und legte sich in der Nähe des Ofens hin. Warm war es, die Bauern waren still, ein wenig prüfte er sie noch mit den müden Augen, dann schlief er ein.
Aber kurze Zeit darauf wurde er schon geweckt. Ein junger Mann, städtisch angezogen, mit schauspielerhaftem Gesicht, die Augen schmal, die Augenbrauen stark, stand mit dem Wirt neben ihm. Die Bauern waren auch noch da, einige hatten ihre Sessel herumgedreht, um besser zu sehen und zu hören. Der junge Mensch entschuldigte sich sehr höflich, K. geweckt zu haben, stellte sich als Sohn des Schloßkastellans vor und sagte dann: »Dieses Dorf ist Besitz des Schlosses, wer hier wohnt oder übernachtet, wohnt oder übernachtet gewissermaßen im Schloß. Niemand darf das ohne gräfliche Erlaubnis. Sie aber haben eine solche Erlaubnis nicht oder haben sie wenigstens nicht vorgezeigt.«
K. hatte sich halb aufgerichtet, hatte die Haare zurechtgestrichen, blickte die Leute von unten her an und sagte: »In welches Dorf habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein Schloß?«
»Allerdings«, sagte der junge Mann langsam, während hier und dort einer den Kopf über K. schüttelte, »das Schloß des Herrn Grafen Westwest.«
»Und man muß die Erlaubnis zum Übernachten haben?« fragte K., als wolle er sich davon überzeugen, ob er die früheren Mitteilungen nicht vielleicht geträumt hätte.
»Die Erlaubnis muß man haben«, war die Antwort, und es lag darin ein großer Spott für K., als der junge Mann mit ausgestrecktem Arm den Wirt und die Gäste fragte: »Oder muß man etwa die Erlaubnis nicht haben?«
»Dann werde ich mir also die Erlaubnis holen müssen«, sagte K. gähnend und schob die Decke von sich, als wolle er aufstehen.
»Ja von wem denn?« fragte der junge Mann.
»Vom Herrn Grafen«, sagte K., »es wird nichts anderes übrigbleiben.«
»Jetzt um Mitternacht die Erlaubnis vom Herrn Grafen holen?« rief der junge Mann und trat einen Schritt zurück.
»Ist das nicht möglich?« fragte K. gleichmütig. »Warum haben Sie mich also geweckt?«
Wikipedia über das Romanfragment: „Im Schloss erzeugt Kafka Zweifel an der Stellung des Protagonisten K. als „Landvermesser“ und dem Inhalt dieses Begriffes selbst und schafft so Interpretationsspielraum. Nur bruchstückhaft erfährt K. und mit ihm der Leser im Laufe des Romans mehr über die Beamten des Schlosses und ihre Beziehungen zu den Dorfbewohnern. Die allgegenwärtige, aber gleichzeitig unzugängliche, faszinierende und bedrückende Macht des Schlosses über das Dorf und seine Menschen wird dabei immer deutlicher. Trotz all seiner Bemühungen, in dieser Welt heimisch zu werden und seine Situation zu klären, erhält K. keinen Zugang zu den maßgeblichen Stellen in der Schlossverwaltung, wie auch der Angeklagte Josef K. im Process niemals auch nur die Anklageschrift zu Gesicht bekommt.“
Diese Darstellung trifft die „Handlung“, aber nicht die Psychologie und schon gar nicht die Psychose des Werks. K. gelangt gewissermaßen als Rationalist in eine Welt des Irrationalen. Anders gesagt: Sein faktenbasiertes Selbstbewusstsein wird ständig konfrontiert und konterkariert mit unbewussten und unterbewussten Wahrnehmungen der Dorfbewohner, voller Vermutungen, Spekulationen und moralischer Wertungen, die mit seinen bisherigen Erfahrungen schwer oder gar nicht vereinbar sind.
K. übernimmt genau genommen drei verschiedene Rollen - sein Scheitern ist demnach nicht einfach, sondern gleich dreifach.
- K. erweist sich als Kämpfer gegen die Mühlen der Bürokratie (wie schon die Einleitung verdeutlicht).
- K. übernimmt unbewusst die Rolle eines Psychotherapeuten in tiefenpsychologischen Gesprächen. Die langatmigen Ausführungen der (vorwiegend weiblichen) Romanfiguren sind literarisch betrachtet „unnatürlich“, weit entfernt von gesprochener Rede, wirken aber authentisch und lebendig wie Gesprächsprotokolle aus Sigmund Freuds Praxis.
- K. übernimmt die Rolle eines zugereisten Casanova, genauer gesagt; er stolpert in diese Rolle, ohne sie bewusst (rational) gewählt zu haben. „K.“ könnte in dem Fall typischer Weise für „Kafkanova“ stehen.