+ Laut Sinus-Analyse sieht nur ein Drittel der Bevölkerung Deutschland demokratisch regiert
+ Presseinformation der SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH [mit Anmerkungen von HTH, Chefredakteur von ethos.at]
Hamburg (pts015/07.10.2025) - Nur knapp ein Drittel der Deutschen ist fest überzeugt, dass das Land demokratisch regiert wird. Dabei hält eine große Mehrheit der Deutschen (84 Prozent) es für wichtig, in einem demokratisch regierten Land zu leben, 59 Prozent sogar für "absolut wichtig". Dies sind die Ergebnisse einer repräsentativen Studie des Sinus-Instituts im Auftrag von Greenpeace.
"Dieses klare Bekenntnis verdeutlicht die Verankerung demokratischer Grundwerte. Für Greenpeace ist das wichtig, weil nur in einer stabilen Demokratie eine lebendige Zivilgesellschaft wirksam werden kann", sagt Alexander Lurz, Greenpeace-Experte für Frieden. "Die Kluft zwischen Anspruch und erlebter Realität birgt jedoch ein Risiko für die Legitimation demokratischer Institutionen. Politik und Gesellschaft müssen sich darauf verständigen, wie Demokratie gestaltet werden soll. Sonst stehen sich Gruppen gegenüber, die alle 'Demokratie' fordern, dabei aber Unterschiedliches meinen."
Wie Demokratie wahrgenommen wird, hängt stärker mit der Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Milieus zusammen als mit klassischen demografischen Faktoren wie Alter oder Einkommen. Das zeigt die Analyse auf Basis des Gesellschaftsmodells der Sinus-Milieus, das die deutsche Bevölkerung nach Werten, Lebensstilen und sozialer Lage in zehn Gruppen einteilt. Besonders skeptisch äußern sich traditionell-bürgerliche Milieus und die gesellschaftliche Mitte, während die modernen Leit- und Zukunftsmilieus deutlich positiver auf den Zustand der Demokratie blicken. Unterschiede zeigen sich auch entlang politischer Tendenzen: Unter Grünen-Anhänger:innen sehen 61 Prozent Deutschland als demokratisch regiert, bei AfD-Sympathisant:innen sind es nur 13 Prozent.
Zwei Sichtweisen auf Demokratie
Die Studie zeigt: In Deutschland gibt es kein einheitliches Verständnis von Demokratie. Ein Teil der Bevölkerung betont dabei vor allem die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung sowie den Schutz von Minderheiten und Institutionen. Ein anderer Teil versteht Demokratie stärker als die unmittelbare Durchsetzung des "Volkswillens" und betrachtet staatliche Kontrolle und Institutionen eher skeptisch. Diese Unterschiede zeigen sich auch zwischen den Milieus: die Leit- und Zukunftsmilieus orientieren sich eher am rechtsstaatlich-institutionellen Modell, während die Milieus der Mitte häufiger ein direktdemokratisches Verständnis vertreten. Politisch neigen Anhänger:innen von Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien stärker zum erstgenannten Modell, während sich bei AfD- und BSW-Sympathisant:innen häufiger das zweite Verständnis findet.
[Anmerkung HTH: Es kommt nicht darauf an, was Menschen unter Demokratie „verstehen“ – dazu gibt es wohl so viele Meinungen wie Bewohner des Landes. Es kommt darauf an, was Demokratie dem Wesen nach ist und wie Demokratie in der Praxis realisiert wird. Heutzutage kann man sogar von „Experten“ hören, man könne Demokratie nicht „definieren“. Zu meiner Zeit habe ich noch im Gymnasium gelernt: Demokratie bedeutet Gewaltenteilung. Laut Karl Popper definiert sich die Qualität der Demokratie darin, wie gut die Gewaltenteilung funktioniert, d.h. im Idealfall: Exekutive, Legislative, Judikative agieren unabhängig voneinander und kontrollieren einander. Und dazu kommt die Offenheit des Systems. Die Realität 2025 (in DE genauso wie im Rest der EU-Staaten): Filz statt Gewaltenteilung, geschlossene Anstalten statt offener Gesellschaft. Resümee: Eine Demokratie-Studie sollte nicht nur Meinungen abfragen, sondern imstande sein, in den Fragestellungen zu differenzieren, was Demokratie dem Wesen nach ist und wie sie tatsächlich von unseren Politik-Darstellern praktiziert wird.]
Scharfe Kritik, aber wenig Engagement
Zwei Drittel der Befragten geben an, dass sie sich bereits für die Demokratie engagieren oder dies künftig tun würden. Besonders hoch ist die Bereitschaft in den Leit- und Zukunftsmilieus sowie bei Anhänger:innen von Grünen, SPD, Linke und Volt. CDU/CSU- und FDP-Sympathisant:innen liegen im Mittelfeld: 69 Prozent sind oder wären aktiv, 49 Prozent engagieren sich noch nicht, können es sich aber vorstellen. Zurückhaltend sind AfD- und BSW-Sympathisant:innen: Nur 16 beziehungsweise 24 Prozent sind aktiv, fast die Hälfte lehnt Engagement ausdrücklich ab. Auffällig ist, dass gerade diese Gruppen, die den Zustand der Demokratie am kritischsten sehen, am wenigsten bereit sind, sie zu verteidigen.
[Anmerkung HTH: ARD-Media kann man entnehmen: „Unterschieden wird in die so genannten Leitmilieus (Konservativ-Gehobenes Milieu, Postmaterielles Milieu, Milieu der Performer), die Zukunftsmilieus (Expeditives Milieu, Neo-Ökologisches Milieu), den Modernen Mainstream (Milieu der Adaptiv-Pragmatischen Mitte, Konsum-Hedonistisches Milieu, Prekäres Milieu) und den Traditionellen Mainstream (Nostalgisch-Bürgerliches Milieu, Traditionelles Milieu).“ Diese Differenzierung trägt sogar den Namen des Meinungsforschungsinstituts: „Sinus-Milieus“.
AI / KI serviert folgende Definitionen von „Milieu“:
1. soziales Umfeld, Umgebung, in der ein Mensch lebt und die ihn prägt, z.B. "das soziale Milieu", "in einem kleinbürgerlichen Milieu aufwachsen"
2. Lebensraum von Pflanzen, Tieren, Kleinstlebewesen u. Ä. (in dem sie gedeihen, wachsen, der für sie lebensnotwendig ist)
3. a. Lebensbereich, Welt der Prostituierten und Zuhälter. b. Stadtteil, Bereich, in dem Prostitution betrieben wird.
Zum Verständnis der „Sinus-Milieus“ orientiert man sich am besten an 3 a und b: Milieus sind die Lebensbereiche wo, und die Personengruppen an die sich Menschen verkaufen um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Faustisch formuliert: Milieu sind Ort und Zeit, wo und wann die Menschen ihre Seele verkaufen.]
"Die Deutschen bekennen sich klar zur Demokratie – doch zeigt sich im Verständnis von Demokratie eine überraschend große Kluft", fasst Silke Borgstedt, Geschäftsführerin des Sinus-Instituts, die Ergebnisse zusammen. "Während Leit- und Zukunftsmilieus und Sympathisant:innen der Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien die Demokratie aktiv stützen, herrscht in großen Teilen der Mitte Ernüchterung und Misstrauen, verbunden mit einer geringen Bereitschaft, sich aktiv einzubringen. Demokratische Resilienz bedeutet daher nicht nur Gefahrenabwehr, sondern insbesondere auch Brücken zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu bauen und demokratische Prozesse weiterzuentwickeln und zukunftsfähig zu machen."
[Anmerkung HTH: Hier werden „Milieus“ pauschal abgestempelt: hier die aktiven Kämpfer für die Demokratie, dort die misstrauische, passive Masse. Mit derartigen Schablonen wird es nicht möglich sein, „Brücken zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu bauen“. Abgesehen davon wird die viel zitierte Spaltung der Gesellschaft in der Regel, so auch hier, falsch dargestellt. Die Spaltung verläuft nicht zwischen „Milieus“, „Klassen“ oder Parteien, nicht zwischen links und rechts oder oben und unten! Die Spaltung verläuft zwischen Staat und Gesellschaft. Die Spaltung verläuft zwischen Systemerhaltern, die direkt und indirekt gut davon leben, dass der Staat so ist wie er ist (nämlich ein Selbstbedienungsladen für dieses „Establishment“) und Systemkritikern, die für eine bessere Demokratie kämpfen (u.a. in tausenden Parteien und Organisationen, die von den Systemmedien einfach ignoriert werden und „vom Staat“ keine Subventionen erhlten).]
Methodischer Hinweis
Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage des SINUS-Instituts im Online-Access-Panel von horizoom GmbH. Für diese Befragung wurden im Juli 2025 insgesamt 2.022 Personen in einer repräsentativen Stichprobe befragt, quotiert nach Geschlecht, Alter, Bildung, und Region. Die Stichprobe bildet die deutschsprachige Bevölkerung ab 16 Jahren hinsichtlich der Quotenmerkmale ab.
Über das SINUS-Institut
Die SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH mit Standorten in Heidelberg und Berlin ist seit über 40 Jahren Spezialist für psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung und Beratung. Das Institut entwickelt Strategien für Unternehmen und Institutionen, die den soziokulturellen Wandel als Erfolgsfaktor nutzen.
Ein zentrales Tool dafür sind die Sinus-Milieus - ein Gesellschafts- und Zielgruppenmodell, das Menschen nach ihren Lebenswelten in "Gruppen Gleichgesinnter" zusammenfasst. Die Sinus-Milieus zählen seit Jahrzehnten zu den bekanntesten und einflussreichsten Segmentationsansätzen und sind mittlerweile für über 50 Länder verfügbar. SINUS kooperiert eng mit den Schwesterunternehmen INTEGRAL Markt- und Meinungsforschung in Wien und OPINION Market Research & Consulting, Nürnberg (INTEGRAL-SINUS-OPINION Gruppe).
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