Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990
(C.H. Beck Verlagsinformation) - Seit dem 24. Februar 2022 steht die deutsche Russlandpolitik vor einem Scherbenhaufen. Ihre Strategien sind gescheitert. Ihre Grundüberzeugungen erschüttert. In Deutschland und international wird heftig über sie gestritten. War sie von Anfang an verfehlt? Wie weit reichte der Einfluss Russlands und seiner Netzwerke? Befand sich die Bundesrepublik auf einem Sonderweg? Bastian Matteo Scianna hat bislang unzugängliche Archivbestände ausgewertet und legt die erste wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung zu einem der umstrittensten Themen der deutschen Zeitgeschichte vor.
Bastian Matteo Scianna hatte Zugang zu unbekanntem Archivmaterial aus dem In- und Ausland, unter anderem zu den Akten des Kanzleramts unter Helmut Kohl, zu den Protokollen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion oder Gesprächsmitschriften aus britischen und amerikanischen Quellen. Seine grundlegende Analyse zeigt, dass die Geschichte viel komplexer ist als manchmal dargestellt. Die deutsch-russischen Beziehungen waren besonders und genossen einen hohen Stellenwert. Es fuhr daher ein Sonderzug nach Moskau. Doch stand die Bundesrepublik in Europa keineswegs allein und war nicht nur "blind und naiv", wie manche Kritiker behaupten. Andere Länder glaubten ebenfalls an «Wandel durch Handel» und wollten mit Russland zusammenarbeiten: Die "Utopie der Verflechtung" war keinesfalls ausschließlich Made in Germany. Auch andernorts folgte man internationalen Interessen und erkannte zugleich die Grenzen des eigenen Einflusses auf die Entscheidungen des Kremls. Dass Deutschland heute so stark in der Kritik steht, ist trotzdem teilweise gerechtfertigt: Denn man hatte keinen Plan B und keine Strategie für den Ernstfall. Die Bundeswehr verkümmerte. Die Ukraine wurde nicht aufgerüstet. Dialog, Entspannung und Einbindung waren noble Versuche, die aber ohne eine glaubwürdige Abschreckungspolitik in der Luft hingen und am Ende zusammen mit energiepolitischen Irrwegen die Sicherheit Europas gefährdeten.
Kommetar HTH: Das besondere Verdienst des jungen Historikers (seit Oktober 2023 Privatdozent an der Universität Potdsam) liegt in der Auswertung zahlreicher Quellen, die bislang nicht zugänglich waren. Nun will Scianna nicht nur die „Chronik der Ereignisse“ der deutschen Russlandpolitik seit 1990 skizzieren, sondern auch eine historische Bewertung vornehmen. Dies ist ihm aus „Sicht des Westens“ bestens gelungen.
Ein Wissenschafter sollte nicht nur die Sicht seiner Auftraggeber (Scianna war Habilitationsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung) einnehmen, sondern auch die des „Gegners“ wenn schon nicht übernehmen, so zumindest objektiv darstellen. Doch das ist aufgrund der ausschließlich westlichen Quellen, die Scianna ausgewertet hat, unmöglich. Von 4042 Quellenangaben sind genau zwei (!) russischer Herkunft: Ein Artikel von Wladimir Putin in der NYT, sowie ein Bericht über Merkels Besuch bei Putin auf der Regierungsseite kremlin.ru.
Mit seinen Leitfragen gibt der Historiker einleitend die Richtung vor: „Welche Ziele verfolgte die deutsche Russlandpolitik? War man naiv oder gab man sich wider besseres Wissen Illusionen hin? Besaß man einen ‚Plan B‘? Wie sollte man Russland einbinden, wenn es offensichtlich nicht in die bestehende Ordnung eingebunden werden wollte und sie vielmehr mit Füßen trat?“ Die letzte seiner „Leitfragen“ impliziert eine Wertung, genauer gesagt eine Desavouierung: dass „die bestehende Ordnung“ die des Westens ist, an der nicht gerüttelt werden darf, das kann für Bush, Obama, Merkl und Co. „offensichtlich“ sein, sollte für einen Wissenschaftler aber trotzdem oder gerade deshalb Gegenstand kritischer Betrachtung bleiben. Diese kann (oder will?) Scianna nicht leisten. Genau genommen desavouiert Scianna damit nicht Russland, das diese Ordnung „mit Füßen trat“, sondern die Wissenschaft als Vertreter dieser von den Verfassungen besonders geschützten Branche (Artikel 5 Grundgesetz Deutschlands, Artikel 17 StGG Österreichs).
Der „Sonderzug“ von Berlin nach Moskau endet an der EU-Außengrenze, wo die Umspurung auf die breiteren russischen Schienen erfolgt. Scianna steigt an der Grenze aus und überlässt die genauere Betrachtung der Strecke von Brest bis Moskau den russischen Lokomotivführern. Im Wissen um die jeweils begrenzten Perspektiven kann man im „Sonderzug nach Moskau“ aufschlussreiche Informationen über drei Schlüsselfragen finden, obwohl diese nicht zu Sciannas „Leitfragen“ zählen:
1. Hat die NATO den Angriff Russlands provoziert?
2. Haben die USA Nordstream (NS-2) gesprengt?
3. Gab es in Deutschland je eine Ukrainepolitik?
Immerhin lautet der Untertitel des Buches korrekt „Geschichte der deutschen Russlandpolitik“ und nicht etwa „Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen“. Doch der „Sonderzug“ ist letztlich nicht mehr als eine „halbe Geschichte“. Scianna ist an der UNI Potsdam Mitglied der „DFG Forschungsgruppe Militärische Gewaltkulturen - Illegitime militärische Gewalt von der Frühen Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg“. Gemäß dieser Betrachtung gibt es auch „legitime militärische Gewalt“. Demgemäß könnte der „Angriffskrieg“ Russlands auch aus der Sicht eines „Präventivschlags“ analysiert werden und die „völkerrechtswidrige Krim-Annexion 2014“ würde zumindest einen Diskurs über jene Teile des Völkerrechts erfordern, die diese Beurteilung stützen und gegen jene Argumente abwägen, die eine Sezession der Krim als interne Angelegenheit der Ukraine betrachten, wieGabriele Krone-Schmalz in ihrem „Buch Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens“, das 2015 im C.H. Beck-Verlag und 2023 im Westend Verlag in einer erweiterten Neuaflage erschienen ist.
Update 23.11.2024 – Da Scianna mit der ständigen Wiederholung der Phrase vom „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands“ auf dem Gleis der westlichen Leitmedien unterwegs ist, und diese auf der Schiene der westlichen Politpropaganda, ist es hier notwendig eine überspitzte Gegenthese zu formulieren. Es ist legitim, diese als Verschwörungstheorie zu bezeichnen – mit der Prämisse, dass eine Verschwörungstheorie eine Theorie wie jede andere ist. Das impliziert nicht, dass diese Gegenthese zum gültigen (aber nicht automatisch richtigen) EU-Narrativ (das nach Trump kein US-Narrativ mehr bleiben wird) ungültig (oder automatisch falsch) ist, sondern nur, dass diese Verschwörungstheorie (gemäß Karl Popper so wie jede andere Theorie) falsifizierbar ist.
Die Verschwörungstheorie lautet: Die NATO benötigt den Krieg in der Ukraine dringender als Russland.
Prämisse 1: Russland verfolgt mit dem Einmarsch in die Ukraine eine illegitime imperialistische Machtpolitik. Die Implikation dieser Aussage lautet: „Amerika verfolgt mit der NATO-Osterweiterung keine illegitime imperialistische Machtpolitik“. Diese Implikation ist allerdings gleichbedeutend mit der Aussage: „Amerika verfolgt mit der NATO-Osterweiterung seine legitime imperialistische Machtpolitik (und wer das nicht akzeptiert, stellt die bestehende monopolare Weltordnung der NATO-Staaten – illegitimer Weise – in Frage).“
Prämisse 2: Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis. Dieses Verteidigungsbündnis "des Westens" wurde legitimer Weise als Schutzwall gegen den kommunistischen „Ostblock“ gegründet. Es ist unerheblich, dass die NATO bereits am 4. April 1949 und der Warschauer Pakt erst am 14. Mai 1955 (einen Tag vor dem Staatsvertrag Österreichs) unterzeichnet wurde. Beide Militärbündnisse waren eine Antwort auf die damalige – von beiden Seiten geteilte – Einschätzung der gegenseitigen Bedrohung. Erheblich ist: der Warschauer Pakt wurde nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ am 31. März 1991 aufgelöst; und: die NATO begann mit dem Beitritt von Ostdeutschland zum NATO-Staat BRD (irrtümlich oft als "Wiedervereinigung" bezeichnet) eine massive Expansionspolitik von damals 16 auf heute 32 Mitglieder! Das alles unter dem euphemistischen Titel „Verteidigungsbündnis“.
Conclusio: Ein Verteidigungsbündnis hat keinen Zweck, wenn es keinen Feind gibt. Ein Verteidigungsbündnis, das drei Jahrzehnte lang wächst, ohne dass ein Feind am Horizont erscheint, führt sich selbst ad absurdum. So geriet die NATO in Argumentationsnotstand. Feinde an der Peripherie schwächten das Bündnis, anstatt es zu stärken (Beispiel Irak). So musste ein Feind her, und zwar im Zentrum der NATO-Staaten. Ein Feind in Europa, das konnte nur Russland sein. Das Bruderland Ukraine (mit Belarus und Russland Gründungsmitglied der GUS nach dem Zerfall der UdSSR) mit fast 2.000 Kilometern gemeinsamer Grenzen, wurde taktisch geschickt zur Spielwiese der NATO aufgebaut, indem man den jungen Staat strategisch bewusst vor der Tür der NATO zappeln ließ. Die Ukraine war nach der Unabhängigkeitserklärung ständiger Herd von Unruhen (nicht nur als Spielwiese von US-Geheimdiensten, sondern auch infolge der Geburtswehen der Ukraine als Nation / Siehe Yaroslav Hrytsak, Ukraine. Biografie einer bedrängten Nation).
Die Ukraine war der ideale Nährboden, auf dem die Saat der NATO-Feindbild-Propaganda Wurzeln schlagen und aufblühen konnte. Die „schönsten Blüten“ dieser Propaganda reproduzieren Medien und Wissenschafter aus Europa (SIEHE „Schwarzbuch Putin"). Nun, nach dem Wahlsieg von Donald Trump, sind die NATO-Pflanzen in der Ukraine verblüht und es wird sich zeigen, dass sie keine Früchte tragen werden. Es wird sich weisen, dass der Vormarsch der NATO an die direkten Grenzen Russlands eine Fehlentscheidung war.
Dies bestätigt die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihren soeben erschienen Memoiren, die ein großes Versprechen, das größte aller politischen Systeme, auf die Titelseite hebt: „Freiheit“. (SIEHE Berliner Morgenpost 21.11.2024)