Hrytsak Yaroslav: Ukraine

Biographie einer bedrängten Nation

(C.H. Beck Verlagsinformation, 2024) - So wie es ein Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen, so braucht es eine Welt, um die Geschichte einer Nation zu erklären. Yaroslav Hrytsak, einer der einflussreichsten ukrainischen Historiker der Gegenwart, bettet die Geschichte der Ukraine in die Geschichte Europas und ihre globalen Zusammenhänge ein und zeigt die vielfältigen Wechselwirkungen. Sein Buch wurde in der Ukraine zum Bestseller und erklärte der angegriffenen Nation, woher sie kam, was sie prägte und woran ihre Widerstandskraft gegenüber der russischen Aggression lag. Und es setzte ihr ein Ziel: die liberale Demokratie des Westens.

Hrytsak Buch Cover

Foto CC BY-SA 3.0 Ярослав Грицак: Ярослав Грицак на першому занятті вуличного університету у Львові 22.04.2012 р. читає лекцію "Як подолати історію?"

In den letzten Jahren ist im Westen viel über die Geschichte der Ukraine geschrieben worden - aber zumeist von westlichen oder im Westen lebenden und lehrenden Historikern. Yaroslav Hrytsaks Werk bietet die Perspektive aus der Ukraine. Es seziert die Mythen der russischen Propaganda, bewahrt sich aber auch einen kritischen Blick für ukrainische Legenden und Übertreibungen. Wenn Staaten Pässe hätten, würde darin 1914 als Geburtsjahr der Ukraine eingetragen, schreibt Hrytsak. Gleichzeitig aber wäre diese moderne Staatsbildung nicht denkbar gewesen ohne die lange Geschichte der ukrainischen Nationsbildung. Daher setzt dieses Buch mit der Geschichte der Rus ein und spannt den Bogen bis in die Gegenwart, wo sich die Ukraine von einer ethnischen zu einer zivilgesellschaftlichen Nation gewandet hat, deren politische Kultur sich fundamental von der Russlands unterscheidet. Eine faszinierende und moderne Geschichte der Ukraine, erzählt von einem ihrer prominentesten Intellektuellen.

Kommentar HTH: Der Historiker Yaroslav Hrytsak legt in seiner programmatischen Einleitung das Konzept seines Buches offen: „Es gibt kein Patentrezept für die Geschichtsschreibung. Jeder Historiker geht nach eigenem Gutdünken vor. Ich will einige Kriterien für das nennen, was mir wichtig erscheint.Zunächst ist mein Ideal eine Geschichte ohne Namen und Daten. Ich ziehe eine Darstellung vor, die danach trachtet, die Prozesse aufzuzeigen, die sich hinter isolierten Ereignissen verbergen. So eine Darstellung zeichnet keine detaillierte Straßenkarte, aber kann als Kompass dienen und hilft uns, den richtigen Weg zu finden.“ Natürlich kann man die Geschichte eines Landes und die Geschichte der Nation (insbesondere den langjährigen Prozess des „Nation Building“) nicht isoliert betrachten, allein mit dem Fokus auf die geografischen Grenzen der heutigen Ukraine.

Hrytsak erläutert: „Wie weit der Rahmen nach Osten oder Westen ausgedehnt werden muss, ist eine offene Frage, über die Historiker bereits seit mehreren Generationen diskutieren. Ich schlage eine radikale Lösung vor: Der ganze Erdball soll der Rahmen sein. Globale Geschichte heißt nicht einfach nur, die geographische Reichweite möglichst weit auszudehnen. Zuallererst umfasst sie eine Suche nach den Zusammenhängen, die die globalisierte heutige Welt überhaupt ermöglichten. Ich werde diesen Zusammenhängen nachspüren, um eine der Hauptthesen dieses Buches zu untermauern: Die Ukraine entstand als ein Ergebnis der Globalisierung und des Aufstiegs des Westens, die mit der Entdeckung Amerikas im Jahr 1492 begannen. So gesehen, verdient es Kolumbus, zu einer der Hauptfiguren der ukrainischen Geschichte gezählt zu werden.“

Der Autor hält Skepsis für angebracht – auch in Hinblick auf seine eigene Forschung: „Ich erhebe an keiner Stelle den Anspruch auf absolute Richtigkeit. Im Gegenteil, der Zweifel ist meine geistige Heimat“. Das schließt jedoch nicht aus, dass er auch eine Mission verfolgt. Doch in in wissenschaftlicher Redlichkeit (die heute weitgehend verloren gegangen ist), legt er offen, woran er glaubt, worin seine Befangenheit liegt: „ Ich möchte die Ukraine als eine liberale Demokratie sehen. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben, um zu zeigen, dass dieses Ziel nicht nur wünschenswert, sondern auch erreichbar ist.“

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