Spiel Hilde: Die hellen und die finsteren Zeiten

Der Titel „Die hellen und die finsteren Zeiten“ (erschienen 1989) erinnert wohl nicht zufällig an die Memoiren von Bruno Kreisky „Zwischen den Zeiten“, die den gleichen Zeitraum umfassen (erschienen 1986). Der direkte Vergleich gelingt nicht ohne ein Klischee zu bemühen: hier die sensible, bürgerliche Schriftstellerin, die nach dem Brand des deutschen Reichstages der SDAP beitritt, und die Zeitgeschichte in selbst erlebte Geschichten einbettet; ihr erster Roman erschien am Tag des Reichstagsbrandes. Da der bürgerliche Politiker, der die Sozialdemokratie in früher Jugend für sich entdeckt und seiner Mission folgt, an der Geschichte der Arbeiterbewegung mitzuschreiben. Der größte Unterschied der beiden überzeugten Sozialdemokraten steckt jedoch in der emotionslosen Abkürzung SDAP für Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die Spiel ständig, Kreisky nie verwendet.

An Bruno Kreisky (1911 – 1990) erinnert sich Hilde Spiel (1911 - 1990) nur in zwei Randbemerkungen. Nicht nebenbei, aber ohne Absicht setzt die Autorin einem ihrer Lehrer ein beeindruckendes Denkmal: Moritz Schlick (1882 – 1936). Ein Denkmal, das man mit Absicht setzt, ist schwer, aus Marmor oder zumindest aus Bronze. Das Denkmal Schlicks weht jedoch wie ein Windhauch durch das Buch von Hilde Spiels Jugenderinnerungen. Es ist kein Klischee, wenn ich behaupte: dieses Denkmal zieht wie sein Geist durch ein Schloss! Die folgenden Originalzitate können ihm ein Fundament verleihen.

„Ein Kind, von kosmischen Ängsten geplagt, eine junge Person, verstört von den widersprüchlichen Theorien und Ideologien, die ihr fortwährend angeboten werden, sieht sich mit einem Schlag aus der Wirrnis befreit. Frühmorgens, im großen Hörsaal der Philosophischen Fakultät, gehen täglich von der Figur des wahrhaft weisen, wahrhaft guten Menschen Erhellung, Beruhigung, Zuversicht, Lebenslenkung aus. Moritz Schlick liebt und wiederholt häufig das Wort von Kant, David Hume habe ihn aus seinem ‚dogmatischen Schlummer erweckt‘. Nicht anders empfindet die Studentin im ersten Semester [Herbst 1930], was sich mit ihr begibt. Die Denknormen des logischen Positivismus, obschon mittlerweile gewiß in manchem überholt, insgesamt als platt, banal, einseitig abzuwerten, wie es die neuen Dunkelmänner und Verächter der kritischen Vernunft – nicht anders als die ‚Mythologen des zwanzigsten Jahrhunderts‘ zu Schlicks Lebzeiten – nun wieder tun, wird ihr im Alter als eine der traurigsten Entwicklungen der Epoche erschienen.

Hätte sich der Mann, der das Haupt des ‚Wiener Kreises‘ war, nicht vom ersten Augenblick an als human, bescheiden, in der Darlegung seiner radikalen Ansichten von äußerster Behutsamkeit erwiesen – wäre man ihm dann weniger willig gefolgt? Das mag sein. Dennoch ist das Charisma eines Lehrers Teil seiner Lehre, erleichtert den Zugang zu ihr, der anders langwieriger verliefe, verleiht ihr aber auch, wenn es in einer Aura der Güte und Menschenfreundlichkeit geschieht, erhöhte Glaubwürdigkeit. Ein Eiferer gegen Gott, gegen Plato, gegen Nietzsche oder Marx hätte uns zunächst mißtrauisch gemacht, wenn nicht abgestoßen. Dieser milde Mentor überzeugte uns durch seine eigene klare, aufrichtige Persönlichkeit von der Klarheit und Aufrichtigkeit seines Denkens. […] Obschon die Ethik der logischen Positivisten, von ihren Gegnern am meisten angefochten, keine Axiome aufstellte und moralisches Verhalten nur auf Grund von utilitaristischen Grundsätzen für möglich hielt, hat Schlick uns durch sein eigenes Beispiel gültige Lebensregeln des Anstands und der gegenseitigen Achtung vermittelt. Zu meinem eigenen Staunen hat es für mich nie mehr anderer, religiös oder ideologisch unterbauter, bedurft. Den frommen Menschen unter seinen Schülern wollte er dies Stütze keineswegs nehmen, er ließ Freiraum für ihren Glauben, wenn sie nur nicht darauf beharrten, es könne bewiesen werden, was nicht beweisbar ist. […]

„Am 22. Juni [1936] fuhr ich mit der Elektrischen, dem ‚Einundsiebziger‘, zur Stadt und blickte zufällig über die Schulter eines Nebenstehenden auf die Schlagzeile seiner Zeitung. ‚Der Philosoph Moritz Schlick erschossen.‘ Noch heute spüre ich, wie mir die Knie wankten, der Kopf zu schwindeln begann. Ohne meinen Willen rannen mir mitten in der überfüllten Straßenbahn die Tränen herunter. Ich stieg aus und lehnte lange an einer Hauswand. Es war der tiefste Schmerz, nicht vergleichbar mit bisherigem Liebeskummer, der mir zugestoßen war. Ich schrieb eine erste Danksagung an den großen Mann in der Neuen Freien Presse, in der ich ihn unser aller menschliches Vorbild nannte – ‚keiner, der bei ihm nicht zugleich mit der Klarheit im Denken auch den Wunsch nach Sauberkeit im moralischen Empfinden aufgenommen hätte‘. Aber die Presse des Ständestaates verzerrte sogleich sein Bild.

Das Wochenblatt Die schönere Zukunft rief ihm dieses nach: ‚Der Jude ist der geborene Ametaphysiker, er liebt in der Philosophie den Logozismus, den Mathematizismus, den Formalismus und Positivismus, also lauter Eigenschaften, die Schlick in höchstem Maße in sich vereinigte.‘ Und ein anonymer ‚Professor Austriacus‘ sah voraus, der Mord würde einer ‚wirklich befriedigenden Lösung der Judenfragen dienen‘. All das, während die Nazipartei noch illegal war! Im Linzer Volksblatt gab es die authentischen klerikoautoritären Töne. Schlick haben ‚Edelporzellan des Volkstums‘ verdorben, ‚heimathörige Schollenkinder, edlen Wuchs aus dem geistigen Kraftreservoir unseres Bauernstandes‘. Zum ‚Muß-Juden‘ erklärt, seine wahrhaft liberale Haltung dem ‚Austro-Marxismus‘ zugerechnet, wurde er zu einem schuldigen Ermordeten gestempelt, dessen Mörder in Wahrheit unschuldig war. Dieser, Hans Nelböck, ein ‚studierter‘ Bauernsohn, der vom Klinikchef Pötzl als ‚schizoider Psychopath‘ eingestuft wurde, hatte die Tat aus unbegründeter Eifersucht begangen, aber als Rache für den Verlust seines religiösen Glaubens durch Schlicks Lehren dargestellt. Das ersparte ihm die Todesstrafe. Er wurde drei Monate in die Irrenanstalt Steinhof gesteckt und saß dann zwei Jahre in Haft. Ein halbes Jahr nach dem deutschen Einmarsch war er frei.“

„Im Juli [1939] eine Weile lang allein in Cornwall, in Fowey, in einer alten Rectory: dort wurde die Schlickschülerin gezwungen an Geister zu glauben. Gegen Abend, zwischen zwei geöffneten Fenstern im Bett des ‚master bedroom‘ liegend, spürte ich, aus meinem Buch aufgeschreckt, eine unsichtbare Gegenwart bei dem linken Fenster herein und nach einer Umkreisung des Zimmers beim rechten wieder hinausfliegen. Das Pfarrhaus war als Ort des Spuks bekannt. Auf den britischen Inseln lernen auch Rationalisten, sich mit unerklärlichen Materialisierungen abzufinden.“

Hilde Spiel

Die hellen und die finsteren Zeiten. Erinnerungen 1911-1946

München 1989