Ther Philipp: Eine Geschichte des neoliberalen Europa

Die Revolutionen in Osteuropa 1989 und die Transformation der kommunistischen Regime ist Gegenstand des vielfach ausgezeichneten Buches von Philipp Ther, Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte an der UNI Wien. Es ist durchaus problematisch, wenn ein Historiker über die Geschichte schreibt, die er selbst mit erlebt hat. So besteht die Gefahr, eigene Erlebnisse zu stark zu gewichten. Ther ist sich dieser Problematik bewusst und sieht sein Werk als Bestandsaufnahme 25 Jahren nach dem Ende des Kommunismus in Osteuropa.

Subjektivismus vermeidet Ther weitgehend indem er seine historischen Beschreibungen mit den Wirtschaftspolitischen Theorien verknüpft, die die Veränderungen angetrieben haben. Demnach sind die Schöpfer der „neuen Ordnung auf dem alten Kontinent“ nicht nur die ehemaligen Dissidenten und die neuen Kapitalisten, sondern auch die Ideologen des Neoliberalismus. Ther formuliert explizit die Grundthese seiner Untersuchung, „dass die Verknüpfung dieser Debatten [von Reformpolitikern und Medien], das Scheitern der graduellen Reformen im Ostblock und das Ende der östlichen Systemkonkurrenz eine Hegemonie des Neoliberalismus zur Folge hatten.“ Die Chicago School rund um Milton Friedman und die „Dogmen des Washington Consensus“ (Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung) sind somit ständige Begleiter von Thers Untersuchungen.

Am Anfang diskutiert Ther die Frage, ob 1989/90 eine Veränderung losgetreten wurde, die als „Revolution“ bezeichnet werden kann, denn Revolutionen werden meist mit illegitimer Machtergreifung und nachfolgendem Terror gleichgesetzt. Beispiele dafür sind 1789 in Frankreich und 1917 in Russland. „Diese beiden extremen Fälle sollten nicht unbedingt als Maßstab dafür gelten, ob eine Revolution wirklich revolutionär war. Die meisten Fälle brachten einen zwar tiefen, aber doch nur teilweisen und nicht totalen Bruch mit sich. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Revolutionen von 1989-91 und die postrevolutionäre Transformation mit früheren Prozessen ähnlicher Tragweite vergleichbar sind.“ Der Begriff der „Samtenen Revolution“ - geprägt von den Demonstranten in Prag – passt durchaus auf alle Nachfolgestaaten Osteuropas. Eine gewaltsame Hinrichtung des kommunistischen Diktators erfolgte nur in Rumänien.

Akademisch mögen die terminologischen Fragen klingen, ob das Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Kommunismus als Epoche von Transformation, Wende oder Wandel bezeichnet werden soll. Die Tendenz ist jedoch eindeutig: die Wende war, wie besonders Deutschland demonstriert hat, eine Einbahnstraße. Die DDR wurde von der BRD inhaliert, die „Wiedervereinigung“ war keine Synthese, kein Zusammenwachsen zweier Systeme. „Das liegt daran, dass in der alten Bundesrepublik keine ostdeutschen Einflüsse erwünscht waren“, schreibt der Autor im Kapitel „Kotransformation“. Und weiter: „Helmut Kohl lehnte die Forderungen einiger DDR-Oppositioneller, die Vereinigung zu Veränderungen am Grundgesetz und im Sinne einer Demokratisierung zu nutzen, rundweg ab.“

Kohl hat den „dritten Weg“ ausgeschlossen. „Dies drückt sich nicht zuletzt in der verfassungsrechtlichen Regelung der ‚Wiedervereinigung‘ aus, die nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik als ‚Beitritt‘ der fünf neuen Bundesländer vollzogen wurde und nicht wie eigentlich vorgesehen nach Artikel 146, wonach die Deutschen sich ‚nach Vollendung der Einheit‘ eine neue Verfassung geben sollten."

Artikel 146 ist der Schlussartikel des Deutschen Grundgesetzes aus dem Jahr 1949 und lautet: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Der Artikel 23 definierte damals den Gültigkeitsbereich des Grundgesetzes durch taxative Aufzählung der damaligen Bundesländer der BRD und dem Schlussatz: „In anderen Teilen ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ Heute regelt der Artikel 23 die Pflichten Deutschlands gegenüber der Europäischen Union. Absatz (1) „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen.“

Niemand wäre 1990 oder später ernsthaft auf die Idee gekommen, den Zusammenschluss der beiden Länder als „Anschluss“ der DDR zu bezeichnen. Sehr schnell waren dagegen die Politiker Deutschlands 2014, allen voran der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble, die Sezession der Krim von der Ukraine als „Anschluss“ an Russland zu diffamieren. Sehr bewusst mit der Assoziation des Anschlusses Österreichs an Nazi-Deutschland, sehr bewusst mit dem impliziten und expliziten Vergleich von Putin mit Hitler (Siehe ZEIT 23.3.2014).

Der Krim-Konflikt ist das einzige Thema, bei dem der Historiker seine persönlichen Präferenzen für die Ukraine nicht verbergen kann oder will: „die Krim dürfte nach derzeitigem Stand dauerhaft verloren sein.“ Die russische Seite würde wohl „verloren“ durch „gewonnen“ ersetzen – aber an sich stimmt es.

Die Entwicklung Deutschlands war aus Sicht der „Ziehtochter“ des Kanzlers der Wiedervereinigung sicher „alternativlos“. Dieser Begriff gehörte nicht zum Sprachschatz von Helmut Kohl, doch Philipp Ther erinnert daran, dass bereits die Pionierin des Neoliberalismus in Europa, Margret Thatcher, den Slogan „There is no alternative“ (S. 87) in ihrer Regierungszeit 1979 bis 1990 etabliert hat. Dieser Slogan, so der Historiker, gilt auch „für Ostmitteleuropa in den frühen neunziger Jahren, für die Sozial und arbeitsmarktreformen in Deutschland ab 2001 und in jüngster Zeit für die Sparprogramme in den südeuropäischen EU-Staaten. Die jeweiligen Einschnitte wurden stets als notwendig, unausweichlich oder alternativlos präsentiert. […] Nach wie vor werden Reformen von Politikern und Experten verordnet, die vom Schreibtisch aus in sicheren Arbeitsverhältnissen agieren und daher von einer Liberalisierung, dem Verkauf von Staatsunternehmen oder sozialen Einschnitten persönlich kaum betroffen wären. Diese apolitische Ausrichtung der Transformationsdiskurse und die Distanz der Experten zu den von ihnen ausgelösten Prozessen gehören zu den Kernbestandteilen des Neoliberalismus.“ (S. 88)

Resümee: Ich kann mir vorstellen, dass Historiker in 50 Jahren das Buch von Pilipp Ther als „unwissenschaftlich“ kritisieren werden. Nicht nur deshalb, weil sich die Vorstellungen von Geschichte als Wissenschaft laufend ändern. Das Geschichts-Verständnis, das der Dichter, Philosoph und Kulturologe Egon Friedell mit seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (erschienen erstmals in drei Bänden 1927 bis 1931) geprägt hat, ist offenbar im akademischen Bereich angekommen: Geschichte erzählt Geschichten. Mehr noch: Geschichtsschreibung ist eine Form von Dichtung; manchmal im Sinne von „freier Erfindung“ (Empathie steht über Chronologie), aber meist im Sinne von „Verdichtung“ von Fakten, quasi eine Fokussierung durch ein Fernrohr, das Blicke in die Vergangenheit erlaubt. So wird man dem Autor dieses Buches in 50 Jahren vielleicht vorwerfen, er habe einen Zwitter aus Ideologiegeschichte, Transformationsgeschichte und Osteuropa-Geschichte geschaffen, alle Themen beliebig vermischt, anstatt einen Bereich systematisch (enzyklopädisch) abzuarbeiten.

Philipp Ther

Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa.

Aktualisierte Ausgabe, Berlin 2016

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