Hengstschläger Markus: Die Durchschnittsfalle

Der Autor des Buches tappt selbst in die Durchschnittsfalle

"Mantra (Sanskrit: Spruch, Lied, Hymne‘) bezeichnet eine heilige Silbe, ein heiliges Wort oder einen heiligen Vers. Diese sind 'Klangkörper' einer spirituellen Kraft, die sich durch meist repetitives Rezitieren im Diesseits manifestieren soll. ... Mantras können entweder sprechend, flüsternd, singend oder in Gedanken rezitiert werden. Sie können auch aufgeschrieben (Likhita-Japa) und in dieser Form sogar gegessen werden."

Dieses Wikipedia-Wissen als Einleitung einer Rezension des Sachbuches "Die Durchschnittsfalle. Gene - Talente - Chancen" (ecowin, 2012) von Markus Hengstschläger scheint deplatziert. Doch der Autor, der als Wissenschafter eine steile Karriere hinter sich hat, liefert im "Buchliebling 2012, Kategorie Sachbuch" nur wenige wissenschaftliche Erkenntnisse, aber umso mehr Behauptungen, die immer wieder kehren und so den Charakter von Mantras annehmen.

Hengstschlaeger zahnlos

Die sieben wichigsten Mantras des Talenteforschers:

1. Talente (= Begabungen = Anlagen = Leistungsvoraussetzungen) lassen sich eigentlich nicht messen.

2. Nur durch üben, üben, üben werden Talente zu Leistungen.

3. Talente müssen durch harte Arbeit in besondere Leistungen (= Erfolg) verwandelt werden.

4. Nur der Erfolg zählt (ist messbar).

5. Ebenso wichtig wie Gene sind die Umweltbedingungen.

6. Niemand kennt die Probleme von morgen und daher bietet die Förderung bestmgölicher Individualität den besten Ansatz, vorbereitet zu sein.

7. Die Lösung aller zukünftigen Probleme: Individualität!

Dazu kommen sieben axiomatische Behauptungen, die Hengstschläger nicht explizit als "Axiome" bezeichnet, sondern beliebig mal als "Grundsatz", mal als "Dogma" oder gar als "Postulat". Oft ist nicht einmal klar, ob es sich um Prämissen oder Schlussfolgerungen handelt. Diese philosophischen Unterscheidungen trifft der Autor nicht.

1. "Genetisch gesehen gibt es keine Rassen. Genetisch gesehen gibt es auch keinen Durchschnitt. Genetisch gesehen gib es eigentlich nur Individualität. [...] Genetisch gesehen können zwei weiße Menschen weniger verwandt sein als ein weißer und ein schwarzer. Genetisch gesehen gibt es daher so viele Rassen, wie es Menschen auf der Welt gibt. Jeder ist individuell" (41f)

2. "Die Evolution leistet sich Individualität, auch wenn vielleicht wirklich zum aktuellen Zeitpunkt nicht ganz klar ist, in welchem Ausmaß bestimmte individuelle Varianten und Ansätze gebraucht werden können. Natürlich geht die Biologie im Sinne des Prinzips 'Survivial of the fittest' rücksichtslos mit jenen Varianten um, die keine Vorteile, ja sogar Nachteile haben." (47) [Anm. HTH: Biologie ist die Lehre/Wissenschaft der belebten Materie bzw. "Lebenskunde". Hengstschläger meint hier wohl die Natur, nicht die Biologie - ein Beispiel für den schnoddringen Umgang des Autors mit der Sprache.]

3. "Der Mensch mit all seinen Eigenschaften ist niemals auf seine Gene reduzierbar - er ist das Produkt der Wechselwirkung wischen Genetik und Umwelt." (51)

4. "Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen (so sie nicht eineiige Zwillinge sind) auf unserem Planeten leben, die zufällig die gleiche Sequenz in ihrer DNA haben, sich in der Sequenz ihres Erbguts also nicht unterscheiden, ist praktisch, theoretisch und überhaupt nahezu null. Jeder Mensch ist genetisch anders, individuell. Das ist ein Dogma, auf dem dieses Buch aufbaut. [...] die genetische Individualität des Menschen beträgt nur etwa 0,1 Prozent Ihre Erbanlagen unterscheiden sich von denen Ihres Nachbarn um nur ungefähr (eben plus/minus) 0,1 Prozent - der Rest ist gleich." (53f)

5. "Das Postulat der großen Bedeutung der Individualität gilt auch für die Gegenwart. (58)

6. "Die Grundthese dieses Buches lautet, dass die Elite jeder Einzelne von uns ist (sein kann) und es folglich so viele Eliten wie Menschen gibt. [...] Niemand kennt die Probleme von morgen und daher bietet die Förderung bestmöglicher Individualität den besten Ansatz, vorbereitet zu sein."(65)

7. "Was wir wahrnehmen und messen können, ist nicht Talent, sondern Erfolg oder eben auch Misserfolg. Zu diesem wichtigen Schluss sind wir bereits gekommen. Für Erfolg müssen die individuellen Leistungsvoraussetzungen des Einzelnen entdeckt und durch harte Arbeit in eine besondere Leistung umgesetzt werden. Einmal spielen Gene eine geringe Rolle und ein ander Mal entscheiden sie aber mit - je nachdem, wovon wir gerade sprechen."

Die schwammige Formulierung von "Axiom 7" (irrtümlich als Schlussfolgerung bezeichnet) bringt die substanziellen Schwächen der folgenden Kapitel auf den Punkt.

EXKURS: Axiome sind Grundsätze, die keiner weiteren Beweisführung bedürfen. Dass dies auf die oben zitierten Aussagen zutrifft, darf bezweifelt werden und muss im Einzelfall geprüft und begründet werden. Fakt jedoch ist, dass Hengstschläger diese Aussagen wie Axiome in den Raum stellt und wie Axiome behandelt. Deshalb die Relativierung "axiomatische Behauptungen". Grundsätzlich muss man feststellen, dass Hengstschläger keine sprachphilosophischen Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen Aussageformen trifft (und Begriffe wie "Dogma", "Postulat", "Schluss" usw. deshalb oft falsch verwendet).

Aufbauend auf seinen "Axiomen" beschäftigt sich Hengstschläger mit den Lebensbereichen Sport und Handwerk, Kunst, Wissenschaft, Management und Politik. Dabei geht es immer um "Erfolg", ohne dass der Begriff definiert oder Faktoren des Erfolgs analysiert werden. Implizit vorausgesetzt wird lediglich, dass "Survival of the fittest (SOF)" als Erfolg betrachtet wird.

Die primitive Formel "SOF = Erfolg" mag in der Pflanzen- und Tierwelt gelten (soweit sie sich autonom, nicht von Menschen manipuliert, entfalten können oder konnten), aber nicht in der Menschenwelt, die sich von "der Natur" prinzipiell unterscheidet durch "die Kultur" und "die Zivilisation". So ist es kein Zufall, dass das Kapitel"Management und Politik" mit einem Witz endet, aber genau genommen als Ganzes ein Witz ist: "Es dürfte für einen Politiker wichtig sein, jene Versprechen, die er vor der Wahl macht, nach der Wahl wieder schnell vergessen zu können." (143) Die Politik ist vermutlich der Hauptgrund für die außergewöhnlichen Erfolge auf der Karrierleiter des Autors. Dieses Kapitel im Buch "ganz kurz" zu halten, erinnern an Verdrängung.

Gene - Talente - Chancen - so der Untertitel von Hengstschlägers Buch. Genetisch bedingte Talente tragen maximal 50 Prozent zu den Erfolgen eines Menschen bei, wobei die Genetiker aber nicht wissen, welche Gene genau, oder welche Kombinatioin von Genen. Das ist immerhin eine Erkenntnis. Aber dafür hätte man keinen Genetiker benötigt, allein die sprachphilosophische Differenzierung der Begriffe würde klar stellen, dass der Begriff "Talent" zu einer andere Kategorie gehört, wie "Haarfarbe", "Augenfarbe", "Stimmlage" u.a. rein biologische Merkmale. Völlig unreflektiert bleibt der dritte Schlüsselbegriff "Chancen". Diesen Begriff kann man als Genetiker mit "Talente" gleichsetzen (wer das Talent zum Singen mitbringt, hat Chancen ein Sänger zu werden). Philosophisch ist der Begriff jedoch wesentlich breiter gefasst, was in der demokratipolitischen Forderung nach Chancen-Gleichheit deutlich wird. Chancen zu thematisieren, aber dann doch nicht darüber zu reflektieren und die Chancengleichheit zu ignorieren - das gelingt dem Autor der "Durchschnittsfalle."

Auf außergewöhnliche Erfolge kann Markus Hengstschläger selbst verweisen: seit seinem 35. Lebensjahr ist er Professor an der medizinischen Universität Wien und war daneben auch noch stellvertretender Vorsitzender des Rates für Forschung und Technologieentwicklung sowie Mitglied des Universitätsrats der Johannes-Kepler-Universität Linz. Er ist immer noch Vorsitzender der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramts sowie wissenschaftlicher Leiter des Think Tanks Academia Superior. Daneben findet er noch Zeit für Ö1-Sendungen als "Radiodoktor" und als von der Regierung ernanntes Mitglied des ORF-Publikumsrats. So viel Erfolg bedürfte gemäß der Theorien des Gentechnikers nicht nur eine Individualität, sondern mehrere Indivudualitäten gleichzeitig.

Will man dem Herrn Professor keine gespaltene Persönlichkeit unterstellen, so muss man zumindest die These prüfen, dass er in die "Durchschnittsfalle" getappt ist. Denn wer so viele Funktionen in staatlichen Organisationen inne hat, der kann dazu nur gelangen, wenn er sich dem dort geforderten Mittelmaß anpasst, also dem Durchschnitt. Diese Anpassungsfähigkeit hat Hengstschläger nach Ausbruch der Corona-Herrschaft unter Beweis gestellt; eine kritische Aussage gegen die zahlreichen medizinisch nicht tragbaren und demokratiepolitisch vernichtenden Maßnahmen der Regierung sucht man vergeblich. Nicht einmal Kritik an der Unterdrückung kritischer wissenschaftlicher Thesen von herausragenden Individualitäten (Persönlichkeiten) wurde von Hengstschläger geübt. Das "Axiom" 5 (irrtümlich als Postulat bezeichnet), nämlich die große "Bedeutung der Individualität gilt auch für die Gegenwart", hat Hengstschläger entweder vergessen (eher unwahrscheinlich) oder gezielt unterdrückt (ziemlich wahrscheinlich). Hengstschlägers ewiges "Individualitäts-Mantra" hat sich letztlich in seinen eigenen Wirkungsbereichen als zahnlos erwiesen.

Zumindest darf der Leser des Buches sicher sein, dass der Streit, ob besondere Leistungen in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen durch genetische Veranlagung oder durch Erziehung (Umwelteinflüsse) verursacht wurden, endgültig beantwortet ist: sowohl als auch. "Noch vor einigen Jahren musste man stets in den Medien von 'ein Gen für homosexualität', 'das Intelligenz-Gen' oder 'ein Gen für Aggressivität' hören. Das ist Unsinn. So komplexe Anlagen des Menschen sind einerseits mit Sicherheit von vielen verschiedenen Genen mit beeinflusst und außerdem stets multifaktoriell, als durch das Zusammenspiel von Genetik und Umwelt geprägt. Für die Diskussion, die wir in diesem Buch führen, ist zu sagen, dass es natürlich auch nicht ein Begabungs-Gen gibt. [...] Begabungen sind multifaktorielle Anlagen." (86) Der Faktor Macht, bzw Nähe zu den Mächtigen, bleibt in den Untersuchungen von Hengstschläge ausgespart. Bei Konrad Lorenz könnte er lernen, dass Selbstreflexion ein wichtiger Bestandteil wissenschaftlicher Reflexionen sein sollte, zumindest in den Humanwissenschaften.