Steiner Rudolf: Die Philosophie der Freiheit

Im Jahr1894 konnte Rudolf Steiner (geb. 1861 ind Kraljevec, damals KuK Monarchie, Königreich Ungarn - gest. 1925 in Dornach, Schweiz) die "Philosophie der Freiheit" mit dem Untertitel "Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode" publizieren. Die redigierte Neuauflage 1918 trägt den Untertitel "Grundzüge einer modernen Weltanschauung", wobei das Buch in zwei Hauptteile "Wissenschaft der Freiheit" und "Die Wirklichkeit der Freiheit" gegliedert ist. Steiner hat mehr als ein Jahrzehnt an dem Buch gearbeitet und sich in dem für die Anthroposophie grundlegenden Werk mit den wesentlichen geistigen Strömungen seiner Zeit auseinander gesetzt: Nietzsche, Schopenhauer, Haeckel, Darwin ebenso wie Hamerling, Hartmann Schelling, Fichte und natürlich auch Goethe. 1890-1896 war Steiner in Weimar für die Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes verantwortlich.

Steiner GeburtshausDonji Kraljevec Croatia

Foto: Geburtshaus Rudolf Steiners in Donji Kraljevec (wikipedia)

Den "Grundtrieb zur Wissenschaft" begründet Steiner einleitend mit dem berühmten Zitat aus Goethes Faust "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,…." das er so interpretiert: "Wir scheinen zur Unzufriedenheit geboren. Nur ein besonderer Fall dieser Unzufriedenheit ist unser Erkenntnisdrang. … Nirgends sind wir mit dem zufrieden, was die Natur vor unseren Sinnen ausbreitet. Wir suchen überall nach dem, was wir Erklärung der Tatsachen nennen. … Das Universum erscheint uns in den zwei Gegensätzen: Ich und Welt." (31f)

Was "scheint" und "uns erscheint" bewegt sich immer im Dunstkreis von Illusionen, oder okkulten, mysteriösen Spekulationen, die Steiner strikt ablehnt. Es erscheint daher inkonsistent, dass er dualistische Denkweisen, die Erkenntnis klar von Spekulationen abgrenzen, nicht akzeptiert. Wer Steiner folgen will, muss dessen Position einnehmen: Steiner vertritt einen Monismus, der die Trennung von materieller und geistiger Welt überwindet und daher in logischer Konsequenz die Erkenntnis der geistigen Welt "nach naturwissenschaftlicher Methode" fordert.

Bezugnehmend auf Goethes Diktum „Die Menschen sind alle in ihr [der Natur] und sie in allen“, interpretiert Steiner: „So wahr es ist, dass wir uns der Natur entfremdet haben, so wahr ist es, dass wir fühlen: Wir sind in ihr und gehören zu ihr. Es kann nur ihr eigenes Wirken sein, das auch in uns lebt. … Wir können die Natur außer uns nur finden, wenn wir sie in uns erst kennen. Das ihr Gleiche in unserem eigenen Inneren wird uns der Führer sein. Damit ist uns unsere Bahn vorgezeichnet. Wir wollen keine Spekulationen anstellen über die Wechselwirkung von Natur und Geist. Wir wollen aber hinuntersteigen in die Tiefen unseres eigenen Wesens, um da jene Elemente zu finden, die wir herübergerettet haben bei unserer Flucht aus der Natur.“ (39 f)

Im Kapitel „Die Konsequenzen des Monismus“ erklärt Steiner: "Die einheitliche Welterklärung oder der hier gemeinte Monismus entnimmt der menschlichen Erfahrung die Prinzipien, die er zur Erklärung der Welt braucht. … Er [der Monismus] lehnt ab, durch abstrakte Schlussfolgerungen die letzten Gründe für die dem Wahrnehmen und Denken vorliegenden Welt außerhalb derselben zu suchen.“ (295) „Der Monismus sucht zu der Erfahrung kein Unerfahrbares (Jenseitiges), sondern sieht in Begriff und Wahrnehmung das Wirkliche. Er spinnt aus bloßen abstrakten Begriffen keine Metaphysik, … Er ruft aber in dem Menschen die Überzeugung hervor, dass er in der Welt der Wirklichkeit lebt und nicht außerhalb seiner Welt eine unerlebbare höhere Wirklichkeit zu suchen hat. Er hält davon ab, das absolut Wirkliche anderswo als in der Erfahrung zu suchen, …" (299)

Wissenschaft ist für Steiner die Sicht auf das Ganze ("die totale Wirklichkeit" 297), die kosmische Einheit von Geist, Seele und Materie. Damit steht er, wie sich in seinen späteren Schriften zeigt, in der Tradition der indischen Veden, aber im Widerspruch zu jenen Wissenschaften, die "der Westen" (im Sinne von Niall Ferguson) seit der Aufklärung etabliert hat und die sich seit dem 20. Jahrhundert immer weiter ein Richtung Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen entwickelt haben.

Die heute gängige Methode der einzelwissenschaftlichen Reduktion ist mit der ganzheitlichen, philosophischen Weltanschauung von Rudolf Steiner prinzipiell nicht vereinbar. Um beispielsweise die Gene des Menschen zu erforschen, reduzieren Genetiker und Gentechniker den Menschen auf seine Gene. (Wenn solche Wissenschafter versuchen, ihre mikroskopischen Erkenntnisse in den Makrokosmos, oder gar in rein biologisch nicht darstellbare Gesellschaftssysteme und - entwicklungen zu übertragen, dann ist das zum Scheitern verurteilt. Ein Beispiel dafür ist "Die Durchschnittsfalle" des Genetikers Markus Hengstschläger.)

Die Reduktion ist eine legitime Methode der Naturwissenschaften. Als Methode einer ganzheitlichen Betrachtung führt sie zum Reduktionismus und deformiert die entsprechende Weltanschauung damit zu einer Ideologie, die zur Grundlage eines Totalitarismus werden kann. Das ist das Gegenteil der von Steiner geforderten Betrachtung der "totalen Wirklichkeit". Die totale Wirklichkeit als philosophische Weltanschauung kann nur Bestand haben, wenn sie offen ist, im Gegensatz zu jeder Form des Totalitarismus, der dem Wesen nach ein geschlossenes System ist.

Steiners Weltanschauung ist auch unvereinbar mit Kants Kritik der reinen Vernunft, in der er die "Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können" begründet hat. Die Unterscheidung zwischen Physik als wissenschaftliche Erkenntnis der materiellen Welt und Metaphysik als Wissenschaft, die sich mit der Bedingung der Möglichkeiten dieser Erkenntnisse beschäftigt, ist eine Errungenschaft der Aufklärung, die logisch zum Dualismus und an die "Grenzen der Erkenntnis" führt. Steiner selbst überwindet die Positionen Kants nicht, sondern nimmt eine vorkantianische Position ein, die neuen Spekulationen Tür und Tor öffnet.

Eine Gesamtbewertung von Steiners Weltanschauung aufgrund der "Philosophie der Freiheit" ist nicht möglich. Doch angesichts der Entwicklung der Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in den vergangenen 100 Jahren, muss man zur Erkenntnis gelangen:

1. die Wissenschaft, wie sie heute praktiziert wird, ist eine Fehlentwicklung;

2. Rudolf Steiners Begriff der Wissenschaft („Seelische Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode“) basiert auf einem falschen Konzept.

Nach Steiner gilt: Jede Wissenschaft ist Naturwissenschaft, weil die Natur alles umfasst: Körper, Geist und Seele des Menschen. Damit ist Steiner konsequent monistisch, aber inkonsequent wissenschaftlich. So schreibt Steiner ziemlich ominös: "Das ist die eigentümliche Natur des Denkens, dass der Denkende das Denken vergisst, während er es ausübt. Nicht das Denken beschäftigt ihn, sondern der Gegenstand des Denkens, den er beobachtet." (48) Und weiter: "Erst wenn der Philosoph das absolut Letzte als sein Erstes ansehen wird kann er zum Ziel kommen. Dieses absolut Letzte, zu dem es die Weltentwicklung gebracht hat, ist aber das Denken."

Das Denken bezeichnet üblicher Weise einen Prozess, der von vielen Faktoren beeinflusst (materiellen Dingen, Phantasien, Theorien usw) und zu vielen Ergebnissen führen kann: zu Urteil und Fehlurteil, Entscheidung und Fehlentscheidung, Phantasieprodukten oder konkreten Plänen usw. Dem gegenüber sind Geist und Seele, wenn sie auch eine Einheit mit dem Körper bilden, so doch eigene "Entitäten" (zumindest aber Gegenstände der Erkenntnis). Wenn nicht jeder Geistesblitz als Intuition zu bezeichnen ist, wie Steiner bestätigt, so muss ein Geist "gegeben" sein, wenn die wahre Intuition direkt aus dem Geist kommen soll. Nur mit einem Geist als "Entität" kann man die Intuition von einer bloßen Vorstellung, die den eigenen Wünschen oder Erfahrungen entspringt, unterscheiden.

Für Kant ist die "reine Vernunft" das oberste Erkenntnisvermögen, die Vernunft ist (gemäß seiner "Kritik") sowohl "Gegenstand der Erkenntnis, als auch Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis". Der Mensch ist ebenso fähig zur Reflexion wie auch zur Selbstreflexion, zur Kritik und Selbstkritik (wobei letztere bei den meisten Menschen unterentwickelt sind). Verstand, Vernunft, Urteil, Bewusstsein, Erkenntnis, Spekulation, Begriffe a priori und a posteriori, Kategorien, Ideen usw sind bei Immanuel Kant nicht einfach zu verstehen, aber deutlich differenziert. Bei Steiner bleibt das Denken im Vergleich dazu ominös. Er unterscheidet zwischen wahren Intuitionen, die aus dem Geist kommen, sowie Intuitionen, die in Wahrheit nur Projektionen früherer Erfahrungen oder (egoistischer) Wünsche sind. Aber er liefert keine Methoden, um "richtige" von "falschen" Intuitionen zu unterscheiden. insbesondere die Differenz zwischen Intuition und Illusion müsste klarer getroffen werden. Somit muss man Steiners Denkungsart als "vor-kantianisch" bezeichnen, in der die Metaphysik eine Disziplin für frei-assoziatives, aber keineswegs systematisch-wissenschaftliches Denken war.

Anhänger Steiners werden wohl bemerken, dem Autor dieser Rezension sei es nicht gelungen, Rudolf Steiner zu folgen. Das ist richtig.