Zur Frage, wie die Gegenwart mit der Vergangenheit zusammenhängt schreibt der britische Historiker Niall Ferguson: „Der Historiker ist kein Naturwissenschafter. Aus seinen Beobachtungen können keine allgemein gültigen Gesetze für gesellschaftliche und politische Abläufe abgeleitet werden, (…). Die eigentliche Funktion der historischen Erkenntnis besteht darin, die Menschen über die Gegenwart aufzuklären, da der sichtbare Inhalt der Vergangenheit ein 'für das ungeschulte Auge nicht auf Anhieb erkennbarer' Bestandteil der Gegenwart ist und einen Teil von ihr darstellt.“
Das Zitat stammt aus seinem Buch „Der Westen und der Rest der Welt“ - nicht gerade ein politisch korrekter Titel. Politisch korrekt wäre der Titel „Der Westen, der Norden, der Süden und der Osten“, denn wie kommt denn der Rest der Welt dazu, sich als "Rest der Welt" diffamieren zu lassen? Doch Ferguson hat einen Grund, genauer gesagt eine Arbeitshypothese, die der Titel seines Buches impliziert. Darin möchte der Professor für Geschichte an der Harvard University zeigen, „dass es sechs Bereiche von neuartigen Institutionen und die damit verbundenen Ideen und Verhaltensweisen waren, die den Westen vom Rest der Welt unterschieden und seine globale Macht begründeten.“
Diese „Institutionen und damit verbundenen Ideen und Verhaltensweisen“ fasst Ferguson in sechs Schlagworte und Themenbereiche:
Wettbewerb,
Eigentumsrechte,
Wissenschaft,
Medizin,
Konsumgesellschaft,
Arbeitsethik,
die somit implizit zu Grundwerten jener Zivilisation erklärt werden, die Ferguson als „der Westen“ bezeichnet. Nur dank dieser Grundwerte konnte der Westen (das Abendland) in den vergangenen 500 Jahren seine Überlegenheit gegenüber China, Orient und Afrika aufbauen, so Ferguson.
Den Ursprung des Wettbewerbs findet der Historiker in der Zerrissenheit des Kontinents: „Im 14. Jahrhundert gab es in Europa etwa tausend Staatsgebilde, und zwei Jahrhunderte später existierten immer noch etwa 500 mehr oder weniger unabhängige staatliche Einheiten. (…) vor allem sorgte der innereuropäische Konflikt, der sich über Generationen hinzog, dafür, dass kein europäischer Monarch je stark genug wurde, um die Seefahrt in ferne Länder zu unterbinden. (…) Die europäischen Monarchen förderten allesamt Handel, Eroberung und Kolonisierung, um im Wettbewerb nicht ins Hintertreffen zu geraten.“ Dagegen ist China zum „Reich der Mittelmäßigkeit verkommen, das den von anderen Völkern hervorgebrachten Neuerungen feindselig gegenüberstand.“
Wettbewerb bedeutet in der politischen Realität der vergangenen 500 Jahre auch, dass Konflikte mit Kriegen und Millionen unschuldiger Menschenopfer ausgetragen wurden. So betrachtet war das „Heilige Römische Reich“, das in dieser Periode weite Teile Europas beherrschte, ein geniales Marketinginstrument. „Heilig“ klingt nach Seligkeit, Einheit und Frieden. De facto konnte das „Reich“ aber keinen einzigen Konflikt zwischen den Königen und Fürsten dieses Reiches verhindern. Marketingprofis unserer Zeit würden daher sagen: Das „Heilige Römische Reich“ war eine Dachmarke, die das Image der Habsburger über Jahrhunderte positiv geprägt hat, und zwar bis zur letzten großen Auseinandersetzung der europäischen Monarchien, den 1. Weltkrieg.
Angesichts der wissenschaftlichen Leistungen Europas von Paracelsus über Kopernikus, Galileo, Descartes, Newton bis de Lavoisier kritisiert Ferguson die Kritiker des Eurozentrismus: „Gemessen am Maßstab der Wissenschaftlichkeit war die wissenschaftliche Revolution ein durch und durch eurozentristisches Phänomen.“ Im gleichen Absatz rückt er jene Theorien zurecht, die den Islam als Vorreiter der europäischen Wissenschaften sehen: „Im Gegensatz dazu gab es im Osmanischen Reich im selben Zeitraum keinerlei wissenschaftliche Fortschritte.“ Ferguson beschreibt damit den Zeitraum von 1530 bis 1789 und erwähnt ein unglaubliches aber typisches Ereignis: „Den Osmanen war die Schrift heilig. Die Schreibfeder genoss religiöse Verehrung, … Im Jahr 1515 erließ Sultan Selim I. ein Dekret, mit dem die Verwendung der Druckerpresse unter Androhung der Todesstrafe verboten wurde.“
Das Kapitel über Eigentum beginnt Ferguson mit einem Zitat des Philosophen John Locke, der 1669 die „Fundamental Constitutions of Carolina“ geschrieben und wesentlich geprägt hat: „Freiheit heißt aber nicht … eine Freiheit für jeden zu tun, was ihm gefällt … sondern eine Freiheit innerhalb der erlaubten Grenzen jener Gesetze, denen er untersteht, über seine Person, seine Handlungsweise, seinen Besitz und sein gesamtes Eigentum zu verfügen und damit zu tun, was ihm gefällt, ohne dabei dem eigenmächtigen Willen eines anderen unterworfen zu sein, sondern frei dem eigenen zu folgen.“ Locke verknüpft hier Freiheit und Eigentum in der für die USA bis heute typischen Weise und sieht sogar das „hauptsächliche Ziel“ jedes Staatswesen in der Erhaltung des Privateigentums.
Dass das Eigentumsrecht der europäischen Siedler mit der Enteignung der Indianer einher ging, und die Vermehrung des Reichtums hart erarbeitet war, nämlich auf dem Rücken der afrikanischen Sklaven, hat Ferguson natürlich auch bemerkt und kritisch analysiert. Allerdings weist er auch darauf hin, dass ein Sklavenmarkt wie jeder Markt nur dort funktionieren kann, wo es Käufer und Verkäufer gibt. „Die afrikanischen Sklavenverkäufer … belieferten die Europäer genauso bereitwillig wie die traditionellen arabischen Kunden.“ (Ergänzung 13.6.2020: NZZ berichtet über Sklavenhandel - das blutige Kapitel des britischen Wohlstandes.)
Beim Thema Medizin sieht Ferguson den Kolonialismus und den 1. Weltkrieg als Triebfeder des Fortschritts, denn ohne Kolonialismus gäbe es keine Tropenmedizin und Hygiene, und ohne Weltkrieg weniger Fortschritte in der Chirurgie. In der Entwicklung der Konsumgesellschaft bemerkt Ferguson, dass die Industrielle Revolution im Kern eine Textil-Industrielle Revolution war, die mit der Automatisierung der Webstühle begann, die aber erst mit der Erfindung der Nähmaschine durch Isaac Merrit Singer im Jahr 1850 richtig abheben konnte, und mit der Erfindung der Jeans, die sich Levi Strauss 1873 patentieren ließ, ihren Höhepunkt fand. Schließlich hat die Umwertung des Begriffs der Arbeit durch die protestantische Arbeitsethik zu abschließenden Festigung der westlichen Zivilisation beigetragen: „Im Verlauf der Geschichte hatten die Menschen meist gearbeitet, um zu leben. Die Protestanten lebten jetzt jedoch, um zu arbeiten.“
Foto: CC BY 2.0, Niall Ferguson, Chatham House 2011
Nial Ferguson
Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen.
Berlin, 2011