9. Juni 2024 - Es gibt Weißbücher, die bestenfalls dazu da sind, das Wissen über einen Bereich zu erweitern und zu vertiefen; sie können aber auch dazu dienen, dunkle Machenschaften weißzuwaschen. Und es gibt Schwarzbücher, die dazu da sind, Phänomene oder Personen anzuschwärzen; insbesondere die Person, die man für die Ursache eines Phänomens hält. Zu dieser Textgattung gehört das „Schwarzbuch Putin“, laut Untertitel „mit Beiträgen internationaler Experten.“ Herausgeber: Stéphane Courtois und Galia Ackerman. Erschienen im französischen Original bereits 2022, wenige Monate nach dem Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges. Die deutsche Übersetzung liegt seit Jänner 2023 vor und ist seit April 2024 als Taschenbuch verfügbar.
"Die nationalen Leidenschaften haben die Gemeinschaft der Geister zerstört, [...]. Die Wissenschaftler, die zu Vertretern der radikalsten nationalen Traditionen geworden sind, haben den Sinn für die Gemeinschaft verloren", schrieb Albert Einstein kurz nach Gründung des Völkerbundes 1919. Ab 1922 unterstütze Einstein die Arbeit des Instituts für geistige Zusammenarbeit, das ab 1926 zu einer staatlich finanzierten Einrichtung Frankreichs und zu einem Organ des Völkerbundes wurde. Skeptisch schrieb Einstein: „Ich habe täglich Gelegenheit zu bemerken, daß das größte Hindernis, dem die Arbeit unserer Kommission begegnet, der Mangel an Vertrauen in deren politische Objektivität ist. Alles müßte geschehen, um jenes Vertrauen zu festigen; und alles müßte unterlassen werden, was jenes Vertrauen schädigen könnte.“
100 Jahre später mangelt es nicht mehr an politischer Objektivität der Wissenschafter. Es ist geradezu selbstverständlich geworden, dass sich diese selbst zu Organen der Politpropaganda degradiert haben, die einseitig die subjektiven Interessen ihrer Machthaber verfechten. Die Freiheit der Wissenschaften wird in Österreich seit 1867 durch das Staatsgrundgesetz garantiert und basiert in anderen Staaten Europas auf ähnlichen Grundlagen. Das Gleiche gilt für die Freiheit der Medien und die Freiheit der Kunst. Es ist geradezu kafkaesk, dass Wissenschafter, Journalisten und Künstler diese Freiheit längst nicht mehr in Anspruch nehmen, sondern unterwürfig den ominösen Mächten im „Schloß“ und deren ungeschriebenen Gesetzen dienen.
Man darf Coutois/Ackerman & Co nicht ankreiden, dass die Aufsätze des Sammelbandes mit dem 24. Februar 2022 beginnen und enden. Dass sie von einem Angriffskrieg sprechen und drei Jahrzehnte der CIA- und Nato-Provokationen einfach ausblenden, kann man für eine schnelle Bestandsaufnahme sechs Monate nach dem Einmarsch der russischen Truppen auch noch akzeptieren. Sogar die eine oder andere polemische Spitzfindigkeit wäre angebracht. Dass die Autoren jedoch unter dem Deckmantel von "Experten" ausschließlich mit Propaganda-Methoden und Propaganda-Rhetorik arbeiten, sagt deutlich mehr über den Zustand der Wissenschafter aus, als sie angeblich über Putin verraten.
„Mit drei Wahnideen, die Putins Regime zu irreparablen politischen Fehlern veranlassten, vergiftete es sich selbst: Der große Chef und seine Spießgesellen – die Putin-Bande, die sich in den Jahren 1991 bis 1996 in Sankt Petersburg bildete und die seit 2000 an der Macht ist – haben keinen Moment mit diesem bewaffneten Massenwiderstand des ukrainischen Volkes gerechnet, […] Ähnlich hatte auch Hitler – ohne die beiden gleichsetzen zu wollen – im September 1939 nicht damit gerechnet, dass Frankreich und Großbritannien wegen Polen in den Krieg ziehen und dass die Vereinigten Staaten eingreifen würden“. (456)
Die Prämisse, dass Putin ein Psychopath mit Wahnideen sei, wird nicht ansatzweise in Frage gestellt. Diese Unterstellung wird nicht als wissenschaftliche These gegen eine Antithese gesetzt und verhandelt, sondern suggestiv vorausgesetzt. Der Vergleich mit Hitler – mit dem man Putin nicht „gleichsetzen“ wolle – folgt auf dem Fuß. Diese Wendung ist so plump, dass man sie nicht weiter erläutern muss. DassWissenschafter auf dieses Niveau sinken, ist bedenklich als Zeugnis unseres Zeitgeistes.
Was sind nun die drei „Wahnideen“, die Putin angeblich antreiben?
1. „Wiederherstellung der geoplitischen Größe der UdSSR“ ist, wenn man dies geographisch interpretiert, eine freie Erfindung. Dass Putin die politische Bedeutung Russlands und seiner Verbündeten nicht unter den Scheffel stellt, dass er Russland in Augenhöhe mit den USA sieht, daraus leiten die Schwarzbuch-Autoren die „zweite Wahnidee“ ab, die
2. um die „Mythologie von der Größe des reaktionären Zarenreichs“ kreist. „Er stützt sich dabei auf eine ultranationalistische Geopolitik der Einflusszonen, die vorsieht, dass nur bestimmte Länder, wie Russland, wirklich souverän sind“. Wer meint, dass nur die USA das Recht haben, EU-Europa und die Nato-Staaten als Vasallen zu betrachten, dass einzig und allein die USA eine weltweite „Mission“ auf unserem Planeten zu erfüllen haben (eine Position, die Henry Kissinger bis ins hohe Alter immer wieder publiziert hat, und alle, ohne Ausnahme alle! Präsidenten der USA bis heute vertreten haben), der muss wohl zu dem Schluss kommen, dass ein zweiter Politiker auf diesem kleinen Planeten, der dieselben Rechte für sein Land einfordert, dem Wahn verfallen ist.
3. „Die dritte Wahnidee ist die Fantasievorstellung von der Einheit der russischen und ukrainischen ‚Brüder‘ und ‚Brüdervölker‘“. Diesem Wahn sind – noch bis zur Eskalation des Ukraine-Russland-Konfliktes 2022 – zumindest 90 Prozent der ethnischen Russen und Ukrainer aufgesessen. Demnach muss es sich – in der Diktion der Schwarzbuchautoren - um einen Massenwahn handeln und es stellt sich die Frage, warum ausgerechnet die Europäer und Amerikaner glauben, die Russen und Ukrainer von dieser „Wahnidee“ heilen zu müssen.
Einleitend bekennen die Autoren, dass sie schon „Ende Februar 2022 entschieden hatten, das Schwarzbuch Putin - unsere einzige sinnvolle Antwort auf den russischen Angriff auf die Ukraine - zu entwickeln.“ Nach „23 Jahren Putinismus“ sehen sie dessen Stärken in seiner Propaganda und einer „furchterregend effizienten Desinformation“. Die Antwort auf Propaganda kann nur Gegenpropaganda sein. Dazu gehört, dass „ukrainische Neonazis“ konsequent unter Anführungszeichen geschrieben werden, dazu gehört, dass Russland auch für die Katastrophen im Einflussbereich der USA verantwortlich sind, weil „das russische Regime seine Bemühungen vervielfachte, die Eliten im Westen zu korrumpieren, insbesondere durch die Abhängigkeit von Gas und Erdöl“, dazu gehört die „strategische Unfähigkeit der russischen Armee, deren Führung noch immer einem Modell aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs anhängt – veraltete Militärausrüstung, sehr hohe Opferzahlen, barbarische Brutalität der Soldaten und, vor allem, völkermörderische Absichten.“
Mein Vater, geboren 1930, hatte das Glück, für den Krieg zu jung zu sein und diesen im steirischen Mürztal körperlich unbeschadet zu überstehen. Seine einzige Kriegserinnerung, die er bei Besuchen meiner russischen Freunde fallweise erzählte, bestand in der Bemerkung: „Ich war sehr verwundert, als ich nach dem Krieg festgestellt habe, dass die Russen ebensolche Menschen sind wie wir.“ Das „Schwarzbuch Putin“ hat das Potenzial, die heutigen Jugendlichen in der selben Art zu Indoktrinieren, wie es den Lehrern meines Vaters mit der Jugend in den 1930er Jahre gelungen ist. Doch die Jubelmeldungen mancher Medien werden die Massen nich terreichen; ja nicht einmal die außenpolitischen Berater der österreichischen Altparteien, die – so wie immer in Wahljahren – ausschließlich mit sich selbst beschäftigt sind. Bestenfalls damit, sich selbst als "Demokraten" zu beweihräuchern und Russland als "demokratisch unterentwickelt" abzukanzeln.
Medien-Higlights: Über „Unverzichtbare Aufklärungslektüre“ schrieb die-tagespost.de. Das Handelsblatt.com kommentiert: „Lesenswert sind vor allem die Schlüsse, die die Herausgeber aus dem Gesamtbild der Beiträge der einzelnen Autorinnen und Autoren ziehen [...] durch eher akademische Einordnungen hebt sich das Buch in seiner Tiefe erfrischend von Teilen der Schwemme an Neuerscheinungen ab, die seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 die Buchhandlungen füllen.“ FAZ.de erinnert daran, dass der Co-Herausgeber Stéphane Courtois schon 1997 bekannt wurde mit dem „Schwarzbuch der kommunistischen Verbrechen“. In dieser Tradition ist klar, worum es geht: „Seine Bilanz: Hundert Millionen Tote, Stalin (und Mao) genauso übel wie Hitler. Und jetzt Putin.“
Ergänzung 12. Juli 2024 - Wer gegen die ungeschriebenen Gesetze der Kriegspropaganda versucht, zwischen den Parteien zu vermitteln, wird umgehend diffamiert und sogar bedroht: „Nach seinem Alleingang bei Putin und in China ist Orbán der EU ein Dorn im Auge. Offenbar werden beim Gipfel in Washington Strafmaßnahmen diskutiert“, berichtet merkur.de
Ergänzung 31. Oktober 2024 - Zumindest in Frankreiich dürfte die Freiheit der Wissenschaften noch höher sein als im deutschsprachigen Raum. Die NZZ.ch (30.10.2024) den französischen Historiker Emmanuel Todd: „Die Russen werden diesen Krieg gewinnen. Und im Westen stellt man sich blind und redet über den Frieden. … Der streitbare französische Historiker Emmanuel Todd, geboren 1951, hat 1976 mit seinem Buch «La Chute finale» den Zusammenbruch der Sowjetunion vorhergesagt und damit für grosses Aufsehen gesorgt. Seit der Jahrtausendwende macht er sich einen Namen als unkonventioneller Denker und Historiker, der mit Vorliebe gegen den Mainstream argumentiert. 2002 schrieb er einen Nachruf auf die USA. Und vor wenigen Wochen ist unter dem Titel «Der Westen im Niedergang» sein neustes Werk erschienen. Darin verteidigt er Russlands Überfall auf die Ukraine, den der Westen provoziert habe, ohne ihm etwas entgegensetzen zu können und zu wollen.“