Arye Sharuz Shalicar und Juri Vinograd (Pseudonym)
Tagebuch aus Cherson. Vom Leben und Überleben in der Ukraine. Nach wahren Begebenheiten. 40. Briefe eines Vaters an seine Tochter.
Das „Tagebuch aus Cherson“ basiert auf Erinnerungen eines 73-jährigen Pensionisten, der mit seiner Heimatstadt Cherson patriotisch verbunden ist: er ist dort aufgewachsen, hat dort sein ganzes Leben beruflich und privat verbracht und ist auch nach Ausbruch des Kriegs und dem Einmarsch der Russen geblieben, bis die Ukrainer mit der Rückeroberung der Stadt begannen und die Russen die halbe Stadt in Beschuss nahmen – gleich zu Beginn das Krankenhaus der Stadt!
Redigiert hat das Buch Arye Sharuz Shalicar, ein bunter Hund, wie man ihn nicht erfinden könnte: er ist 1977 in Göttingen als Kind von iranischen Juden geboren, die 1970 nach Deutschland geflohen sind. Nachdem seine Familie nach Berlin umgezogen war, wurde er zum Feindbild muslimischer Antisemiten. 1997 begann er in Berlin zu studieren und wanderte 2001 nach Israel aus, wo er 2009 bis 2017 und wieder seit 7. Oktober 2023 als Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte zum Einsatz kam. Seit 2010 hat Shalicar mehrere Bücher veröffentlicht, u.a. 2020 gemeinsam mit Salahdin Koban „Deutschlands freiwilliger Untergang - Identitätskrise einer Nation, die keine sein will“.
Im „Tagebuch aus Cherson“ geht es primär um die Monate nach dem Einmarsch russischer Soldaten in Cherson Ende Februar aus der subjektiven Sicht des Schwiegervaters von Shalicar. Somit liefert das Buch keine Analyse, aber deutliche Hinweise, dass sich erst durch diesen Krieg das relativ distanzierte nationale Selbst-Bewusstsein der Ukrainer zu einem kämpferischen National-Gefühl entwickelt hat. Der Krieg hat damit das errreicht, was 30 Jahre "Friedenspolitik" in der Ukraine (die Millionen von Ukrainern zum Auswandern veranlasst hat) nicht bewirken konnte: Nationbuilding.
„Es scheint, als gäbe es absolut keinen Widerstand. Unsere Männer haben kurzerhand die Flucht ergriffen und uns einfache Bürger den russischen Besatzern ausgeliefert. … unsere feige Armee ist auf der Flucht Richtung Mykolaev. … Ich habe Angst! Doch wir geben nicht auf. Im Gegenteil. Wir kämpfen für unsere Freiheit. Wir kämpfen für Cherson.“ (13f)
„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal unter einer Besatzung leben werde. Eine Besatzung bestehend aus Menschen, die wie ich aussehen, meine Sprache sprechen und meine Kultur haben. Eigentlich vollkommen absurd. Doch das ist keine Realsatire, sondern bittere Realität.“ (19)
„Vor Kurzem hat unser Bürgermeister Ihor Kolykhaiev eine in der gesamten Ukraine ausgestrahlte Grußbotschaft von unserem Präsidenten Volodymyr Selenskyii erhalten. … Hunderte, wahrscheinlich sogar Tausende Chersoner sind daraufhin einem Aufruf in den sozialen Medien gefolgt und haben sich, ausgestattet mit großen Ukraineflaggen, auf dem Platz der Freiheit getroffen, um den Russen zu sagen: Nicht mit uns! Wir sind Ukrainer. Wir sind stolze Ukrainer. … Für mich stand sofort fest, Selenskyi hat Kolykhaiev in eine sehr gefährliche, vielleicht sogar lebensgefährliche Lage gebracht.“ (27)
„Tschetschenische Kämpfer waren ohne Zweifel von den Russen aus der Krim herbeigerufen worden, um in Cherson ‚für Ordnung‘ zu sorgen. Damit meine ich, jeglichen Widerstand zu brechen. … Zum ersten Mal wurde mir klar, dass Cherson von Fremden besetzt wird. Von Feinden. Bei den russischen Truppen fühlte ich keine wirkliche Fremdbesetzung. … Das liegt daran, dass auch wir im Endeffekt aus dem russischen Kulturraum sind. Wir sehen gleich aus. Essen das gleiche Essen. Sprechen die gleiche Sprache. Tragen die gleichen Namen. Doch die Tschetschenen sind anders. Sie sind Muslime.“ (31f)
„So schnell kann aus jemandem, der 43 Jahre lang weder an Hymnen noch an Flaggen Interesse hatte, ein glühender Patriot werden. Laut Vowa [Sohn von Juri] gibt es kaum noch junge Chersoner, sagen wir im Alter unter 40 Jahren, die nicht gegen die Russen sind … Plötzlich sind sie stolz darauf, Ukrainer zu sein. Ich kann nicht wirklich nachvollziehen, worauf genau sie angeblich stolz sind. Es geht aber nicht um Fakten, sondern um Emotionen. Mir scheint, die russischen Angreifer haben das vollkommen unterschätzt.“ (41)
„Schon nach dem ersten Gläschen fing Pascha an, über vergangene Heldentaten zu berichten. Er hat an die Sowjetunion geglaubt. Er stand felsenfest hinter ihr. Doch das habe sich seit dem Angriff auf die Ukraine geändert, meinte er. Jetzt spürte er nur noch Hass und Abneigung. Pascha meinte, es sei für ihn in etwa so, als hätte ihn sein großes Vorbild verraten.“ (48)
„27. April 2022 Der Anschluss ist vollendet. … In einer heute durchgeführten, angeblich freien, Volksabstimmung hat laut russischer Medien eine klare Mehrheit von über 90 Prozent der Bürger und bürgerinnen Chersos den Wunsch geäußert, Russland und nicht der Ukraine anzugehören.“ (60)
„22. Juni 2022 … Nur wenige Monate Besatzung haben gereicht, um aus Cherson einen andern Ort zu machen. Einen Ort ohne Herz. Ohne Seele. Ohne Liebe. Es ist ein Ort im Trauerzustand. … Alle Fernsehkanäle, Zeitungen und Radiostationen, die aus und über Cherson berichten, sind zu 100 Prozoent vom Kreml gesteuert.“ (87f)
„19. Juli 2022 … Wir leben in einer Art offenen Vollzugsanstalt. Wir können uns innerhalb der anstalt relativ frei bewegen. Wir können spazieren gehen, essen, lachen, feiern. Doch Wächter beobachte uns. Sie beobachten uns auf Schritt und Tritt. Ihre Augen sind auf uns gerichtet. Sie entscheiden darüber, ob wir weiterhin essen, lachen, feiern können.“ (110)
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ZYNISMUS am Rande: So geht RENATURIERUNG: Ein Jahr nachdem der Stausee von Kachowk im Gebiet Cherson zerstört wurde, floriert dort die Natur, wie tagesanzeiger.ch (6.6.24) berichtet. Update 2. Juli 2024 - Knapp einen Monat nach dem Tagesanzeiger.ch bringt ORF.at (1.7.24) die dramatische Schlagzeile „Umweltschutz unter Lebensgefahr. Vertreter lokaler Behörden und der UNO sowie von NGOs und Teams von Investigativjournalistinnen und -journalisten untersuchen die Folgen der Sprengung des Kachowka-Staudammes vor über einem Jahr im ukrainischen Cherson. Aus strafrechtlichen Gründen, und weil es gilt, die richtigen Maßnahmen zu setzen. Erste Ergebnisse lassen eine Umweltkatastrophe vermuten. Die Arbeit der Ermittler ist lebensgefährlich. Das Reckoning Project, eine ukrainische Redaktion als Kooperationspartner von ORF Topos, hat an Ort und Stelle recherchiert." The Reckoning Project Team: “We are lawyers, we are storytellers, we are journalists, we are activists, we are data scientists. We have all come together with a common mission, and that mission is to eradicate impunity.”