Die Ukraine auf dem Weg in die Freiheit
Alex Lissitsa leitet im Hauptberuf eine Agrar-Holding in der Ukraine und „herrscht“ somit über ein Gebiet von 130.000 Hektar! Im Vergleich: die durchschnittliche Landwirtschaft in Österreich bewirtschaftet 45 Hektar. Der Autor studierte Agrarwissenschaften und war danach als Stipendiat der Adenauer-Stiftung in Deutschland. „Die Ukraine auf dem Weg in die Freiheit“, so der Untertitel seines Buches, ist aus seiner Sicht mit dem Weg der Ukraine in die EU gleichbedeutend. Alternativlos, wie man mit einem legendären Begriff der ehemaligen Deutschen Kanzlerin Angela Merkel sagen könnte, die der Autor für ihre Kompetenz und Sachlichkeit verehrt.
Im letzten Kapitel erklärt der Agrar-Manager selbstbewusst, „was die Ukraine der EU bringt“. Das sind vor allem 32 Millionen Hektar fruchtbarer Agrarboden (davon werden bislang fünf Millionen Hektar von Holdings gehalten, wovon wiederum nur ein geringer Teil von ausländischen Eigentümern beherrscht wird). Die Ukraine wäre aus Sicht von Lissitsa keine Bedrohung für die bisherige Landwirte in der EU, sondern könnte dazu beitragen, Fehlentwicklungen zu stoppen:
„Es gibt einzelne Fragen, wo die Absurditäten auf die Spitze getrieben werden. Schweine und Hühner in Deutschland werden mit Aminosäuren gefüttert. Sie sind ein unerlässliches Grundprodukt in der Fleischherstellung. Diese Aminosäuren importieren wir größtenteils aus China. China synthetisiert sie aus Mais. Wo kaufen die Chinesen den Mais? In der Ukraine. Tonnen über Tonnen davon werden zwei Mal um die Welt gekarrt. Wäre die Ukraine in der EU, könnte man mit Leichtigkeit die ganze Produktions-und Wertschöpfungskette innerhalb von Europa aufbauen.“ (283)
Darüber hinaus könne die EU auch von der Risikobereitschaft der Ukrainer profitieren: Viele Europäer haben sich an ein Leben im Wohlstand gewöhnt, fühlen sich auf der sicheren Seite wohler und scheuen das Risiko, weil sie lieber vorsichtig agieren. Ich denke schon, dass die EU gerade die wirtschaftliche Risikobereitschaft der Ukraine gut gebrauchen könnte.“ (285)
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Sogar in Sachen Digitalisierung könnte insbesondere Deutschland noch einen Schubs brauchen (frei nach dem Wirtschaftsnobelpreisträger Richart H. Thaler "Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt"): „Was die Digitalisierung angeht, steht die Ukraine mittlerweile mit an der Spitze in Europa. Digitale Innovationen, die anderswo Jahrzehnte feststecken, haben wir in kurzer Zeit vollzogen.“ (283) Der Autor vermerkt an anderer Stelle jedoch selbstironisch: „Der Ökonom Roman Sheremeta hat für dieses Aufeinandertreffen von Rückständigkeit und Digitalisierung ein sehr schönes Bild gefunden. Der wahre Ukrainer hat sehr wohl das neueste iPhone, aber er nutzt es als Taschenlampe, um nachts draußen den Weg über den dunklen Hof zum Plumpsklo zu finden.“ (125)
Selbstironische und selbstkritische Betrachtungen liegen eng beieinander. Und genau das ist die Stärke des Buchs „Meine wilde Nation“. Schon der Titel bringt zum Ausdruck, dass es sehr persönlich gehalten ist.
Der Krieg zieht sich natürlich wie ein roter Faden durch das Buch, doch Lissitsa verzichtet auf jegliche politische Spekulationen. Er beschränkt sich auf die Wiedergabe seiner eigenen Wahrnehmungen:„Schon bald nach der Wahl geriet Selenskyj in einen Abwärtsstrudel. Seine Popularität ließ arg nach, und das machte ihm offenbar schwer zu schaffen. Die Sorgen um seinen Niedergang waren ihm deutlich anzumerken. Ich habe es selbst gesehen.“ (226) Lissitsa überlässt es dem Leser, daraus Schlüsse zu ziehen. Ein Leser, der weiß, dass vor Kriegsausbruch auch Putin mit schlechten Umfragewerten konfrontiert war, kann seine eigenen Folgerungen ableiten.
Lissitsas Buch ist keine Abrechnung mit den politischen Machenschaften der Ukraine, insbesondere der Regierung in Kyjiw (seit Kriegsausbruch die offizielle deutsche Schreibweise von Kiev). Es ist auch kein aufgeblasenes Plädoyer voller leerer Politphrasen für einen EU-Beitritt. Das Buch besteht aus teilnehmender Beobachtungen des Autors und ist somit ein wichtiger Beitrag zur oral history, der mehr zum Verständnis des Ukraine-Russland-Kriegs beiträgt, als das Buch von einem dutzend Wissenschaftern (insbesondere das „Schwarzbuch Putin“). Im Gegensatz zur westlichen Propaganda verwendet Lissitsa den Begriff „Angriffskrieg“ kein einziges mal. Er schafft es sogar, trotz seiner berechtigten Emotionen, ohne jegliche propagandistische Phrasen über die angerichteten Schäden und die Leiden der Menschen in den Kriegsgebieten zu berichten.
Hier soll deshalb der Autor selbst sprechen, insbesondere zu drei Themen:
1. Korruption
3. Nation-Building + SIEHE AUCH: Tagebuch aus Cherson