Mind and Spirit + Glaube und Vernunft

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"Wir brauchen ein starkes Ego. Ein starkes Ego ist gut, schlecht sind Egoismus und Egozentrik." Das sagt Erhard Meyer-Galow im Interview mit Gunnar Kaiser auf KAISER TV. Der Autor des Buches "Business Ethik 3.0 - Die neue integrale Ethik aus der Sicht eines CEOs" erinnert daran, dass angloamerikanische Philosophen zwischen Mind (Denken, Ratio, Vernunft) und Spirit (das Spirituelle, die innere Verfasstheit) unterscheiden. Das Ahnen ist aus dieser Sicht ein wichtiger Akt des menschlichen Denkens. Meyer-Galow zitiert den Physiker und Essayisten Hans-Peter Dürr: "Das Komplexe erfahren wir nur, wenn ich sage: ich ahne. ... Unsere Erfahrung ist nicht dazu gemacht, das Universum zu verstehen."

Damit schließen Dürr und mit ihm Meyer-Galow direkt bei Immanuel Kant an, der die Intention der "Kritik der reinen Vernunft" kurz und prägnant zusammengefasst hat: "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen". Die "Kritik der reinen Vernunft" selbst ist nicht so kurz und prägnant, deshalb hier ein Versuch, die Fundamente und die wesentlichen Säulen von Gedankengebäude für Nicht-Philosophen zu übersetzen.

Kritik der reinen Vernunft

Immanuel Kant (1724-1804) verwendet den Begriff "Kritik" nicht im heute üblichen Sprachgebrauch im Sinne von "Beanstandung, Bemängelung", sondern versteht darunter eine wissenschaftliche Methode. Dieses Kapitel ist ein Exkurs über die von ihm begründete Epistemologie, die "Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können".

"Kritik" leitet Kant vom Griechischen "krinein" ab, auf Deutsch "prüfen, untersuchen, unterscheiden", und nur in diesem Sinne verwendet er den Begriff. Wer Kants Kritik nur oberflächlich aus dem Schulunterricht kennt, wird sich an die Aussage erinnern, dass „das Ding an sich“ nicht erkannt werden kann. Dieses Dilemma lässt sich leicht aufklären, wenn man das Wesen der Kritik, genauer gesagt: die Methode der Kritik versteht. Das „Geschäft der Kritik“ wie Kant formuliert, ist es, die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis zu ergründen und zu begründen und damit die Grenzen der Erkenntnis (d.h. die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit) aufzuzeigen. Die Vernunft (Ratio) spielt in der Kritik eine doppelte Rolle. Sie ist einerseits Gegenstand der Erkenntnis und anderseits Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis. Es geht der reinen Vernunft also um das Denken selbst, das Denkvermögen und die Denkungsart. Damit ist Kants Metaphysik selbstreferenziell, was die Gefahr innerer Widersprüche birgt: Wir brauchen das Denken um über das Denken nachzudenken.

Dass die Kritik selbstreferentiell ist, sollte als Auftrag verstanden werden, sie immer auch als Selbstkritik zu verstehen. Die Kritiken (Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft) sind schwer zu lesen, weil Kant uns keine fertigen Begründungen liefert, sondern uns an seinem Prozess der Ergründung der Elementarbegriffe der Metaphysik teilnehmen lässt. Er stellt uns kein Fertighaus auf ein vorbereitetes Fundament, sondern lässt uns bei jedem Schritt der Planung und Errichtung dieses Hauses teilnehmen. So bleiben die Methode und ihre Begründung für den ungeübten Leser unklar und verschwommen, weil Kant oft unvermittelt von der Planung der Architektur in die Bauausführung wechselt. Seine Standardwerke sind so umfangreich, weil er gleichzeitig die Architektur der Metaphysik als Wissenschaft erklären und umgehend die Anwendungsmöglichkeiten aufzeigen und alle falschen Anwendungen ausschließen wollte.

Alleine die Anzahl der Möglichkeiten des Vernunftgebrauchs ist atemberaubend: apodiktisch, discursiv, dogmatisch, empirisch, hyperphysisch, hypothetisch, intuitiv, konstitutiv, logisch, mathematisch, moralisch, natürlich, polemisch, praktisch, regulativ, rein gesetzgebend, skeptisch, spekulativ, systematisch, theoretisch, transscendental oder transcendent. Es ist gar nicht notwendig, auf diese Unterscheidungen im Detail einzugehen. Es reicht darauf hinzuweisen, dass schon Kant erkannte: nicht jeder Gebrauch der Vernunft ist vernünftig. Die heutigen Wissenschaften und ihre Repräsentanten an den Universitäten dieser Welt liefern viele Behauptungen, die eher einen dogmatischen, polemischen oder spekulativen Vernunftgebrauch bezeugen, als einen konstitutiven, logischen oder praktischen.

Hier die wesentlichen Grundlagen der kritischen Methode, die das Ziel hat, die Grenzen der Erkenntnis auszuloten. Die viel zitierte Formulierung Kants lautet: "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen". Diese Aussage wird oft theologisch interpretiert, ist aber kein Bekenntnis zu einem konkreten Glaubensinhalt (z.B. zum Christentum), sondern der Hinweis, dass Glauben, so wie Wissen, Denken, Erkennen, Erfahren, Vorstellen, Wahrnehmen, Anschauen "Vermögen" sind, die alle essenziell für die Metaphysik als Wissenschaft sind, und das Wesen des homo sapiens definieren. Glaube steht am Anfang und am Ende - man kann auch sagen an der Grenze - des Wissens und jeder Wissenschaft.

Die Aussage "Glauben heißt nichts Wissen" ist falsch und richtig gleichzeitig: falsch in der pejorativen Bedeutung, dass Glauben dumm und Wissen gescheit ist; richtig im Sinne Kants: Glauben ist nicht Wissen, sondern etwas essenziell Anderes als "Wissen", wobei beide Begriffe in der Erkenntnistheorie Kants ihre Position haben. Beide "haben ihre Berechtigung" ist eine Formulierung, die man heute gerne verwendet um einen Streit zu vermeiden, anstatt eine Konfrontation auszutragen. Richtig aber im Geiste Kants ist die Aussage: Beide Begriffe sind notwendig.

Glaube ist der Bereich, wo die Erkenntnis beginnt und wo sie wieder aufhört. Vor jeder Theorie steht eine Idee, an die ein Wissenschafter glaubt. Auf jede ausformulierten Theorie folgt der Glaube, dass sie richtig (wahr) ist, bevor man beginnt, sie zu verifizieren (bzw. zu falsifizieren). Weitere Grenzbegriffe, die vor der Erkenntnis stehen, sind die Kategorien (Elementarbegriffe wie Kausalität, Quantität, Qualität, Modalität), und die „reinen Anschauungen“ Raum und Zeit. Grundsätze (Synonym: Prinzipien) sind "Regeln des objektiven Gebrauchs der Kategorien". Den Begriff der "Anschauung" verwendet Kant meist im Sinne der Beobachtung der empirischen Wissenschaft, so ist es verwirrend, wenn er plötzlich von den "reinen Anschauungen Raum und Zeit" spricht. Das ist ein Beispiel dafür, wie schwer es ist, seinen Ausführungen zu folgen. Genau genommen hat er gemeint: Raum und Zeit sind reine Begriffe (Begriffe a priori) als Bedingung der Möglichkeit jeglicher Anschauung.

Darüber hinaus gibt es Ideen, Begriffe a priori, die vor der Erkenntnis stehen (im Unterschied zu spekulativen Begriffen der Schulmetaphysik, die "über" oder "jenseits" der Erkenntnis stehen). Kant unterscheidet psychologische, kosmologische und theologische Ideen, die „lauter reine Vernunftbegriffe sind, die in keiner Erfahrung gegeben werden können“, die aber dazu geeignet sind, unseren Verstandesgebrauch zu einer synthetischen Einheit zu bringen. (P § 56) Bewusstsein und Selbstbewusstsein, sind psychologische Ideen, Unendlichkeit und Universum sind kosmologische Ideen, Gott und Schöpfung sind theologische Ideen. Ergänzend dazu könnte man von den moralischen (bzw gesellschafts-politischen) Ideen Freiheit und Gerechtigkeit sprechen. "Ideen", "reine Vernunftbegriffe" und "spekulative Begriffe" sind in Kants System weitgehend synonym. Spekulation ist demnach nicht grundsätzlich abwertend gemeint, wird aber scharf kritisiert im Kontext der vor-kantischen Metaphysik, die keine Wissenschaft war.

Zum Basiswissen über Kants Metaphysik zählt die Unterscheidung zwischen reiner und praktischer Vernunft. Die reine Vernunft gibt die Begriffe a priori, die praktische Vernunft (der Verstand) verknüpft diese Begriffe mit den Anschauungen. Zur Beurteilung von richtig oder falsch, gut oder schlecht braucht es die Urteilskraft. Der praktischen Vernunft widmet Kant ein eigenes Buch, ebenso wie der Urteilskraft. Urteilskraft und Vorstellungskraft sind zwei Schlüsselbegriffe, die von den Wissenschaftern in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig beachtet und entwickelt wurden, deshalb behauptet Erwin Chargaff: "die Naturforschung ist [...] gefährlich geworden für die Menschheit, denn der Weg von der methodischen Feststellung zur industriellen Ausnützung ist jetzt sehr kurz. Manche Scheußlichkeit, die früher nur den schönen Inhalt eines Forschertraums gebildet hätte, liegt morgen schon auf den Straßen." (Chargaff, Zeugenschaft, 208/209)

Vorstellungskraft ist das Vermögen des Wissenschafters, Begriffe a priori mit Anschauungen a posteriori (Beobachtungen) zu einer Theorie zu verbinden. Urteilskraft benötigt der Wissenschafter zur Bewertung einer Theorie. Der heute in der Wissenschaftstheorie geläufigen Begriffe "These", "Hypothese", "Theorie" verwendet Kant nicht. Ebenso wenig wie den heute inflationär gebrauchten Begriff "Meinung" - der durch die Menschenrechte und viele Verfassungen in der "Meinungsfreiheit" besonders hervorgehoben und geschützt ist.

Kants Interesse gilt den objektivierbaren Begriffen und Urteilen. Dazu zählt er auch die Überzeugung, "ein Fürwahrhalten, das objektiv hinreichenden Grund und demnach Gültigkeit für jedermann besitzt". Meinung dagegen ist immer subjektiv. Das Urteil wiederum ist "die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes oder Vorstellung seiner Vorstellung". Kant wechselt häufig von einer Ebene der Betrachtung (beispielsweise des Begriffes "Vorstellung") auf die Metaebene (Vorstellung der Vorstellung). Vorstellung impliziert Perception, Empfindung, Erkenntnis, Begriff und Anschauung.

Breiten Raum schenkt Kant der Auseinandersetzung mit dem Empirismus von David Hume, der, wie Kant schreibt, "mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab". Er verweist darauf, dass Hume ihn auf den Gedanken gebracht habe, dass Ursache und Wirkung Begriffe a priori seien, und "so ging ich an die Deduktion dieser Begriffe. [...] Diese Deduktion, die meinem scharfsinnigen Vorgängern unmöglich schien [...] war das Schwerste, das jemals zum Behuf der Metaphysik unternommen werden konnte". (Prolegommena, 7)

Das "Schwerste", das Kant geleistet hat, wurde zunächst wenig gelesen, geschweige denn verstanden. Deshalb veröffentlichte der Philosoph zwei Jahre später die "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können" als Einführung in die Kritik. Heute würde man wohl sagen "Kritik der reinen Vernunft für Dummies". Dies zeitigte Erfolge, ab 1787, nach der erweiterten Neuauflage der Kritik, wurde er zum einflussreichsten Philosophen der Aufklärung.

Kant hat bewiesen, dass spekulative Aussagen (Behauptungen, Urteile) im Geiste der Schulmetaphysik nicht bewiesen werden können. So bringt er in der vierten „Antinomie der reinen Vernunft“ den Nachweis, dass sowohl die Aussage, dass die Welt einen Schöpfer habe, als auch die Aussage, es gebe kein „schlechthin notwendiges Wesen in und außer der Welt“ richtig sein können. Mit den gleichen Begründungen (Untersuchung ihrer Gründe) ist aber auch nachweisbar, dass beide Behauptungen falsch sind. Anders gesagt: weder die Aussage "Gott lebt in uns allen" noch die Aussage, für die Nietzsche berühmt wurde, "Gott ist tot", kann bewiesen werden. Spekulative Begriffe (Gott, Unendlichkeit, Bewusstsein uvm) und Aussagen übersteigen die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit und damit die Grenzen der Beweisbarkeit. Erkenntnis ist nur möglich, wenn die Aussagen empirisch überprüfbar sind.

Die wesentliche Leistung von Kant besteht in dem weit über den Empirismus und die spekulative Metaphysik hinaus gehende Verständnis des Zusammenhangs zwischen empirischer Erfahrung und rationaler Erkenntnis. War die Metaphysik vor Kant nur spekulativ, nur eine beliebige, assoziative Aneinanderreihung abstrakter Begriffe (was in Poesie und Mystik natürlich legitim ist und im Bereich der Börsenspekulationen sogar höchst erfolgreich sein kann), so ist seine Transformation der Metaphysik vergleichbar mit der kopernikanischen Wende in der Physik. Mit heutigen Begriffen: Kant hat einen Paradigmenwechsel vollzogen. Zuvor war die Metaphysik buchstäblich abgehoben von der Realität und die Naturwissenschaft war auf einem Auge blind, weil sie versuchte, zu empirischen Erkenntnisse ohne Begriffe a priori zu gelangen.

Um das System von Kant zu verstehen, ist die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen wichtig. "Analytische Urteile sagen im Prädikate nichts, als das, was im Begriffe des Subjekts schon wirklich, obgleich nicht so klar und mit gleichem Bewusstsein gedacht war." (P., 13) Das ist einer der einfachsten Sätze von Kant. Anders gesagt: jeder analytische Satz ist eine Tautologie, beispielsweise: Alle Körper sind ausgedehnt. Alle analytischen Urteile gelten a priori - man braucht sie nicht erst in der empirischen Welt zu überprüfen. Sie beruhen auf dem Satz des Widerspruches (etwas kann nicht gleichzeitig A und Nicht-A sein, etwas kann nicht gleichzeitig sein und nicht sein).

Die Naturwissenschaft arbeitet üblicher Weise mit synthetischen Urteilen, das sind Sätze, die eine Synthese aus mehreren Begriffen bilden, beispielsweise: Ein Baum ist eine Pflanze mit Stamm, Ästen und Krone. "Erfahrungsurteile sind jederzeit synthetisch" (P. 15) und "Erfahrung ist selbst nichts anders, als eine kontinuierliche Zusammenfügung (Synthesis) der Wahrnehmungen" (P. 25), schreibt Kant. Charakteristisch für die Wissenschaft ist die laufende Präzisierung synthetischer Urteile. So definiert die Botanik Bäume als "ausdauernde und verholzende Samenpflanzen, die eine dominierende Sprossachse aufweisen, die durch sekundäres Dickenwachstum an Umfang zunimmt." (wikipedia) Erfahrungsurteile sind Urteile a posteriori, Erfahrungsurteile verwenden Begriffe a posteriori - zur Erkenntnis gelangt man erst durch die Verbindung mit den Begriffen a priori.

Eine zentrale Frage der Kritik lautet: sind synthetische Urteile a priori möglich? Genau genommen lautet die Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? - denn dass sie möglich sind, ist Kants Voraussetzung für die Entwicklung der kritischen Methode. Oft werden empirische Urteile so selbstverständlich, dass man zur Meinung gelangen könnte, diese seien synthetische Urteile a priori. So könnte man folgendes Urteil betrachten: "Holzbiomasse enthält weniger Energie als Kohle, so dass die CO2-Emissionen für die gleiche Energieleistung höher sind". Physiker könnten in Kenntnis der Energiedichte verschiedener Rohstoffe diese Aussage für a priori richtig halten. Die Aussage ist zwar apodiktisch (unstrittig) und (bei Kenntnis der Formeln für Energiedichte) evident, aber nicht a priori. In diesem Sinne kritisiert Kant den Denkansatz Humes, der behauptet, "nur Erfahrung kann uns solche Verknüpfungen an die Hand geben, und [...] Erkenntnis a priori ist nichts als eine lange Gewohnheit, etwas wahr zu finden". (P, 27)

Synthetische Urteile a priori können nur aus Begriffen a priori gebildet werden, Kant sagt, dass die Begriffe a priori "die Materie der Metaphysik und ihr Bauzeug ausmachen" (P, 22). Letztlich können wir "von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen." (Kritik, 21) Auf diesem Satz basieren alle Varianten des Konstruktivismus, der im 20. Jahrhundert zu einer dominierenden Wissenschaftstheorie, ja sogar Weltanschauung geworden ist. Die radikale Fassung: jedes Gesetz ist gesetzt - nicht nur die Gesetzgebung der Staaten (positives Recht), sondern auch die Naturgesetze.

Zusammengefasst: Die Kritik der reinen Vernunft "ist ein Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriß derselben, sowohl in Anschauung ihrer Grenze, als auch des ganzen inneren Gliederbaus derselben." (Kritik, 23) Darauf baut Karl Popper in der "Logik der Forschung" auf.

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wikipedia: "Der Ausdruck Epistemologie (französisch épistémologie) wird synonym für Erkenntnistheorie verwendet, das Teilgebiet der Philosophie, das sich mit der Frage nach den Bedingungen von begründetem Wissen befasst." Oswald Spengler hat sich in seinem Monumentalwerk "Der Untergang des Abendlandes" immer wieder mit Kants "Kritik der reinen Vernunft" auseinandergesetzt. Spengler ist ein Denker der Tiefe, der aber bei der Rezeption Kants nur an der Oberfläche gekrazt hat. (SIEHE Spengler vs Kant)

Bei der Lektüre von Kant fällt auf, dass der Philosoph zahlreiche Begriffe verwendet, die nicht von vornherein eindeutig definiert werden, ganz im Gegenteil: Die Bedeutungen von Begriffen liegen nicht eindeutig vor, sondern werden von Kant ergründet, entwickelt und erfasst. Das ist das Prinzip der kritischen Methode im Unterschied zu einer Analyse, die in eindeutigen Definitionen endet. Die kritische Methode ist konstruktiv, aufbauend und offen, die analytische Methode ist definitiv, eingrenzend und ausgrenzend. Nur so kann man den vielfach missverstandenen Satz verstehen: „Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor“ (Prolegomena § 36).

Versuch einer Einordnung der Schlüsselbegriffe der Kritik der reinen Vernunft:

Anschauung ist jede Form des Schauens: vom beiläufigen (unwillkürlichen) Schauen während eines Spaziergangs bis zum konzentrierten, systematischen Beobachten eines Gegenstandes. Gegenstand ist alles, was dem Menschen (Subjekt) gegenüber oder entgegen steht (Objekt). Alle Anschauungen sind sinnlich und daher a posteriori. Kants missverständliche Formulierung "Raum und Zeit sind reine Anschauungsformen" müsste man korrekt so formulieren: Raum und Zeit sind reine Begriffe a priori als Bedingung der Möglichkeit jeder sinnlichen Anschauung.

Wahrnehmung ist die zielgerichtete Anschauung eines Gegenstandes aus einer bestimmten Perspektive (optisch, physikalisch, biologisch, chemisch) und setzt entsprechende Begriffe (einfache Definitionen) voraus: Das ist ein Stein. Das ist eine Blume. Wahrnehmung impliziert nicht nur Anschauung, den Sehsinn, sondern alle Sinne. Man kann einen Gegenstand dann wahrnehmen, wenn man ihn im buchstäblichen Sinne angreifen und somit begreifen kann. Durch die Wahrnehmung entwickeln wir Begriffe, durch die Begriffe nehmen wir Gegenstände wahr. Alle Wahrnehmungen sind a posteriori.

Erkenntnis ist das Ergebnis einer Abfolge von Anschauungen und Wahrnehmungen, die geprüft (falsifiziert oder verifiziert) wurden. Anschauung, und Wahrnehmung sind Vorstufen der Erkenntnis, die Kant auch „Erfahrungserkenntnis“ oder ganz einfach „Erfahrung“ nennt. Davon abzugrenzen sind Vernunfterkenntnisse (laut Kant das ganze obere Erkenntnisvermögen). Die Form einer Erkenntnis ist ein Satz. Es ist klar, dass nicht jeder Satz eine Erkenntnis darstellt. Ganz im Gegenteil, die meisten Sätze sind (unbegründete) Behauptungen, Meinungen, Vorurteile, (willkürliche) Vermutungen, Absichts- oder Willenserklärungen, Appelle, Befehle, Vorschriften oder (systematische) Spekulationen. 

Empfindung ist die unmittelbare Wahrnehmung von unfassbaren Gegenständen, d.h. von Gegenständen außerhalb unserer Reichweite. Gegenstand der Empfindung ist die Erscheinung, prototypisch für die Erscheinung ist die Sonne! Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter – das sind unmittelbare Empfindungen. Diese brauchen keine Vermittlung durch Eltern, Lehrer oder gar Wissenschafter. Unmittelbare Empfindungen brauchen auch keine Begriffe. Auch Tiere und Pflanzen empfinden Sonnenaufgang und -untergang und richten ihr Leben danach aus, genau so wie die Menschen trotz aller Erkenntnisse, die dieser Empfindung widersprechen. Empfindungen sind weder a posteriori, noch a priori, sie sind unmittelbar. Empfindungen die man vermittelt (anderen Menschen mitteilt) sind selbst keine Empfindungen, sondern Erzählungen (große Erzählungen wie die Religionen, Mythen und Sagen, oder kleine, wie „Narrative“ – so der moderne Ausdruck für subjektive Wahrheiten oder gar Lügen, die uns Politiker täglich erzählen, wenn sie ihr eigenes Handeln mystifizieren oder tabuisieren.)

Erlebnis kommt im Unterschied zur Empfindung von innen. Man spricht von Schmerz-Empfindung, wenn ein äußeres Ereignis bei einem Menschen Schmerz auslöst. Wenn ein Mensch stirbt, kann dieses Ereignis bei seinen nächsten Verwandten Schmerzempfindungen auslösen – doch hier ist der konventionelle Sprachgebrauch ungenau. Genauer gesagt ist dieser Schmerz ein inneres Gefühl, das Gefühl der Trauer. Dieses Gefühl kommt aber von innen, dieses Gefühl erleben nur jene Menschen, die mit dem Verstorbenen eine innere Beziehung hatten. Wer den Verstorbenen nur „aus der Ferne“, äußerlich kannte, kann den Schmerz der Trauer in dem Fall nicht erleben, sondern nur mit einzelnen Hinterbliebenen, mit denen er persönlich verbunden ist, mitfühlen. Trauer und Freude, Gefühle und Mitgefühle kann man nur erleben, nicht empfinden – bestenfalls als Schauspieler nach-empfinden (= nachahmen). Erlebnisse sind Affekte (Gefühlsregungen), die – so wie metaphysische Spekulationen oder Glaubenssätze – nicht der Erkenntnis zugänglich sind (hier sind die Grenzen der Erkenntnis erreicht). Es gibt alltägliche Erlebnisse, von denen wir die meisten schnell wieder vergessen, und prägende Erlebnisse, die unser Verhalten und unsere Haltung beeinflussen. Die äußere Form des Erlebnisses ist das Ereignis.

Vorstellung ist „das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“. Genau genommen definiert Kant mit dieser Formulierung die „Einbildungskraft“ und stiftet Verwirrung, indem er zwischen reiner und sinnlicher Vorstellung unterscheidet. Vorstellung und Einbildung sind bei Kant Synonyme, ebenso Vorstellungskraft und Einbildungskraft. Kant spricht vom Vorstellungsvermögen, nicht aber vom „Wahrnehmungsvermögen“. Den fallenden Apfel kann jeder mit offenen Augen wahrnehmen. Dazu ist keine Fähigkeit (kein Vermögen) erforderlich. Die Vorstellung von einem fallenden Apfel kann mit geschlossenen Augen erfolgen und impliziert das Wissen, warum er fällt (Kausalitätsprinzip + Schwerkraft). Die Vorstellung kann auch bloße Erinnerung sein, das Vorstellungsvermögen bleibt aber nicht beim „inneren Film“ stehen, sondern kann dazu führen, dass sich ein Farmer überlegt, wann und wie er die Äpfel erntet, bevor sie vom Baum fallen und am Boden verderben. Einbildungskraft im heutigen Verständnis ist stärker mit dem Wort Phantasie verwandt als zu Zeiten Kants, der Phantasie nur den Künstlern zugestand. So wie Wahrnehmung mit Begreifen und Begriffen verbunden ist, ist die Vorstellung mit Bildern und Symbolen verknüpft. Die Vorstellungskraft von Technikern findet ihren Ausdruck in Plänen und Programmen; das Symbol der Technik ist der Print. Die Vorstellungskraft von Unternehmern findet ihren Ausdruck in Organisationen, die Symbole der Unternehmen sind ihre Logos. Bilder, Pläne, Symbole und Logos sind dazu da, ganz bestimmte Vorstellungen bei jedem, der sie sieht und versteht, auszulösen.

Urteil ist die letzte, abschließende Form der Erkenntnis, genauer gesagt: das abschließende Ergebnis eines Erkenntnisprozesses. Wie das Urteil eines Gerichtsprozess zeigt, ist ein Urteil zwar abschließend, aber niemals endgültig, solange es noch eine höhere Instanz gibt. Höhere Instanzen finden wir auch in der Naturwissenschaft und in der Geschichtsschreibung. Hier treffen sich die Weltanschauungen von Kant und Spengler wieder. Die höhere Instanz der Wissenschaften ist der Fortschritt (Naturwissenschaften, Kant) oder die organische Entwicklung einer Kultur (Geschichte, Spengler). Höhere Instanzen sind (im Idealfall) natürliche Autoritäten (Natur und Kultur), die aber in der Realität oft durch politische Autoritäten (im schlimmsten Fall Willkürherrscher), außer Kraft gesetzt werden.

Dies ist das „kleine Einmaleins“ zum Verständnis des Erkenntnisvermögens der Menschen. Aller Menschen? Aller Menschen, die der abendländischen Zivilisation anghören. Nicht enthalten sind im „kleinen Einmaleins“ weitere Schlüsselbegriffe (Keywords) der Kritik der reinen Vernunft, von denen die wichtigsten sind (zitiert nach Ausgabe 1971, Felix Meiner Verlag):

Ästhetik, Analytik, Anschauung, Antizipation, Antinomie, Antithetik, a priori, a postriori, Apperzeption, Assoziation, Axiom, Bedingung, Begriff, Bestimmung, Beweis, Bewusstsein, Dasein, Deduktion, Definition, Deklaration, Demonstration, Denken, Dependenz, Dialektik, [Dialog fehlt], Diskurs, Dogma, Doktrin, Dualismus, Dynamik, Einfluss, Einheit, Empirismus, Erfahrung, Erkenntnis, [Erlebnis fehlt], Erörterung, Erscheinung, Existenz, Form, Funktion, Gattung, [Gedächtnis und Erinnerung fehlen] Gegenstand, Gesetz, Glaube, Gott, Grundsatz, Gut, Gültigkeit, Handlung, Harmonie, Heuristik, Hypothese, Ich, Ideal, Idealismus Idee, Identität Illusion, Imperativ, Inhärenz, Intelligenz, Interesse, Kanon, Kategorien, Kausalität, Konstruktion, Kontinuität, Kosmologie, Kritik, Kultur, Leitfaden, Logik, Materie, Materialismus, Mathematik, Maxime, Metaphysik, Methode, Modalität, Möglichkeit, Moment, Monaden, Moral, Mythos, Natur, Naturgesetze, Negation, Nichts, Notwendigkeit, Objekt, Organ, Ort, Paralogismus, Phänomen, Philosophie, Physik, Physiologie, Position, Postulat, Prinzipien, Progress, Psychologie, Qualität, Quantität, Rationalismus, Raum, Realismus, Realität, Regel, rein, Relation, Religion, Schein, Schema, Schematismus, Seele, Selbstbewusstsein, Sinnenwelt, Sinnlichkeit, Sittlichkeit, Skeptizismus, Spezifikation, Spekulation, Spiritualismus, Spontaneität, Subjekt, Substanz, Synthesis, System, Teleologie, Theologie, Thesis, Totalität, transzendental, Überlegung, Überzeugung, Unendlichkeit, Unsterblichkeit, Urbild, Urgrund, Ursache, Urteil, Urteilskraft, Veränderung, Vernunft, Vernunftbegriffe, Verstand, Vorstellung, Vollkommenheit, Wahrheit, Wahrnehmung, Wahrscheinlichkeit, Welt, Widerspruch, Willkür, Wirklichkeit, Wissenschaft, Zahl, Zeit, Zufälligkeit, Zweck.