Spengler vs Kant
Bruchlinie Raum und Zeit
Die Sonne geht jeden Morgen auf, die Sonne geht jeden Abend unter. Diese Aussage ist falsch, aber menschlich evident und universell, d.h. evident für alle Menschen aller Zeiten aller Kulturen. Alle Menschen bis heute haben die Empfindung, dass die Sonne auf- und untergeht – auch wenn jeder Mensch von heute die astronomische Erklärung dieses Phänomens kennt.
Die Erde dreht sich um die eigene Achse so, dass die Empfindung entsteht, die Sonne würde morgens aufgehen und abends untergehen. Diese Aussage ist korrekt, aber menschlich irrelevant, d.h. irrelevant für das Leben und Zusammenleben der Menschen in ihren Gesellschaften und Kulturen (Familien, Sippen, Völkern, Vereinigungen, Staaten). Nach Sonnenaufgang und -untergang, Tag und Nacht, richten die Menschen bis heute ihr Leben ein – nicht nur die Naturvölker – egal zu welchen Erkenntnisse die Astronomen gelangten und gelangen werden.
Richtig ist der Kausalzusammenhang: Wenn die Sonne aufgeht, wird es hell (Tag), wenn die Sonne untergeht, wird es dunkel (Nacht). Es ist egal, ob man Tag und Nacht gemäß der biblischen Genesis als Göttliche Schöpfung (Vorsehung, Fügung) betrachtet, oder als kausale Folge der Erdumdrehung. Die Drehung des Planeten Erde um die eigene Achse ist ein Phänomen des Weltraums, das wir erkennen und folglich kennen, aber nicht empfinden oder wahrnehmen können, Tag und Nacht sind Namen, die den menschlichen Empfindung entspringen
Tag und Nacht sind die Ur-Einheiten der Zeit. Diese Aussage ist wahr in allen Kulturen aller Zeiten. Die Empfindung der Zeit und die Erfindung der Zeitmessung lassen sich nicht bestreiten. Die Entstehung de Zeitempfindung ist nicht zu trennen von der Tatsache, dass sich die Erde im Raum um die eigene Achse und um die Sonne bewegt. Bewegung und Veränderung sind ohne Zeit nicht denkbar, eine Erde ohne Bewegung ist nicht lebendig und nicht belebbar, die unmittelbare, notwendige Verknüpfung von Zeit und Raum ist somit evident.
Spengler aber, der Naturwissenschaften, Mathematik und Philosophie studierte, bestreitet den evidenten Zusammenhang von Zeit und Raum und sucht sich im 3. Kapitel „MAKROKOSMOS“ den stärksten Gegner, um seine Argumente vorzutragen: Immanuel Kant.
Schon einleitend schreibt Spengler in einer Fußnote: „Es war ein noch heute nicht überwundener Mißgriff Kants von ungeheurer Tragweite, daß er den äußern und innern Menschen zunächst mit den vieldeutigen und vor allem nicht unveränderlichen Begriffen Raum und Zeit ganz schematisch in Verbindung brachte und weiterhin damit in vollkommen falscher Weise Geometrie und Arithmetik verband, an deren Stelle hier der viel tiefere Gegensatz der mathematischen und chronologischen Zahl wenigstens genannt sein soll.“ (28)
Im dritten Kapitel, MAKROKOSMOS, vertieft Spengler dieses Thema in Teil I. Die Symbolik des Weltbildes und das Raumproblem
Teil I des Kapitels beginnt fast poetisch: „Und so erweitert sich der Gedanke einer Weltgeschichte physiognomischer Art [Anm: Physiognomie = Morphologie] zur Idee einer allumfassenden Symbolik. Die Geschichtsforschung in dem hier geforderten Sinne hat nur das Bild des einst Lebendigen und nun Vergangenen zu prüfen und dessen innere Form und Logik festzustellen. Der Schicksalsgedanke ist der letzte, bis zu dem sie vordringen kann. Indessen diese Forschung, so neu und umfassend sie in der hier angegebenen Richtung ist, kann dennoch nur Fragment und Grundlage einer noch umfassenderen Betrachtung sein. Ihr zur Seite steht eine Naturforschung, ebenso fragmentarisch und eingeschränkt in ihrem kausalen Beziehungskreise. Aber weder die tragische noch die technische »Bewegung« – wenn man so sagen darf, um die Untergründe von Erlebtem und Erkanntem zu unterscheiden – erschöpfen das Lebendige selbst. Wir erleben und erkennen, solange wir wach sind, aber wir leben auch, wenn Geist und Sinne schlafen. Mag die Nacht alle Augen schließen, das Blut schläft nicht. Wir sind bewegt im Bewegten – so suchen wir das Unaussprechliche, wovon wir in tiefen Stunden eine innere Gewißheit besitzen, durch ein Grundwort des Naturerkennens anschaulich zu machen; aber für wachende Wesen erscheint das Hier und Dort als unaufhebbares Zweierlei. Jede eigne Regung besitzt Ausdruck, jede fremde macht Eindruck, und so hat alles, dessen wir uns bewußt sind, in welcher Gestalt auch immer, als Seele und Welt, Leben und Wirklichkeit, Geschichte und Natur, Gesetz, Gefühl, Schicksal, Gott, Zukunft und Vergangenheit, Gegenwart und Ewigkeit, für uns noch einen tiefsten Sinn, und das einzige und äußerste Mittel, dieses Unfaßliche faßlich zu machen, liegt in einer Art von Metaphysik, für die alles, es sei, was es wolle, die Bedeutung eines Symbols besitzt. Symbole sind sinnliche Zeichen, letzte, unteilbare und vor allem ungewollte Eindrücke von bestimmter Bedeutung. Ein Symbol ist ein Zug der Wirklichkeit, der für sinnenwache Menschen mit unmittelbarer innerer Gewißheit etwas bezeichnet, das verstandesmäßig nicht mitgeteilt werden kann. […] Es wird hier also nicht davon die Rede sein, was eine Welt »ist«, sondern was sie dem lebendigen Wesen bedeutet, das von ihr umgeben ist.“ (281 f)
Poetische Formulierungen können leicht kippen und zu ominösen Spekulationen führen. Die Fortsetzung jedes poetischen Weges kann leicht auf Abwege führen. Im folgenden Zitat zeichnet sich ab, dass jeder Versuch, „das Unaussprechliche“ wortreich zu benennen und zu beschreiben - widersinnig das Unaussprechliche auszusprechen! - zum Scheitern verurteilt ist.
„Die Wirklichkeit – die Welt in bezug auf eine Seele – ist für jeden einzelnen die Projektion des Gerichteten in den Bereich des Ausgedehnten; sie ist das Eigne, das sich am Fremden spiegelt, sie bedeutet ihn selbst. Durch einen ebenso schöpferischen als unbewußten Akt – nicht »ich« verwirkliche das Mögliche, sondern »es« verwirklicht sich durch mich – wird die Brücke des Symbols geschlagen zwischen dem lebendigen Hier und Dort; es entsteht plötzlich und mit vollkommenster Notwendigkeit aus der Gesamtheit sinnlicher und erinnerter Elemente » die« Welt, die man begreift, für jeden einzelnen » die« einzige. Und deshalb gibt es so viele Welten, als es wache Wesen und im gefühlten Einklang lebende Scharen von Wesen gibt, und im Dasein jedes von ihnen ist die vermeintlich einzige, selbständige und ewige Welt – die jeder mit dem andern gemein zu haben glaubt ein immer neues, einmaliges, nie sich wiederholendes Erlebnis.“ (283)
Damit folgt Spengler der solipsistischen Vorstellung von Johann Gottlieb Fichte – ohne ihn explizit zu erwähnen oder diese verschwommenen Andeutungen zu präzisieren. Der Geist von Fichte schwebt in der Weltanschauung von Spengler immer mit, aber er erwähnt ihn nur fallweise in Nebensetzen.
Analog zu Zeit und Raum unterscheidet Spengler: Richtung und Ausdehnung, das Werdende (Geschehnisse) vom Gewordenen, das Lebende vom Anorganischen, die Geschichte von der Natur. Von der Tatsache, dass sich kein Geschehnis zurückrufen lässt (286), gelangt er zur Tragik des Todes. Der Tod ist gleichzeitig die Tragik des menschlichen Denkvermögens: „Der Mensch ist das einzige Wesen, welches den Tod kennt“ (286). Der Weltseele immanent ist deshalb ist somit die Weltangst. Spengler wird geradezu existenzialistisch wenn er schreibt:
„‘Vom Neugeborenen bis zum fünfjährigen Kinde ist eine schreckliche Entfernung’, hat Tolstoi einmal gesagt. Hier, in diesem entscheidenden Punkt des Daseins, wo der Mensch erst zum Menschen wird und seine ungeheure Einsamkeit im All kennen lernt, enthüllt sich die Weltangst als die rein menschliche Angst vor dem Tode, der Grenze in der Welt des Lichts, dem starren Raum. Hier liegt der Ursprung des höheren Denkens, das zuerst ein Nachdenken über den Tod ist. Jede Religion, jede Naturforschung, jede Philosophie geht von hier aus.“ (287)
Spenglers Vorwegnahme des Existenzialismus, der mit Jean-Paul Sartre die Welt erblickt hat, darf nicht als mangelnde Systematik ausgelegt werden (zumal die System-Philosophie mit Hegel ihre Vollendung und somit auch ihr Ende erreicht hat), sondern als stärke seiner morphologischen Denkungsart, die zwar manchmal amorph (und damit ominös) bleibt, oft aber bis ins Wesen historischer Phänomene vordringt (z.B. Das Kapitel „Das Geld“, in dem Spengler das Wesen des Geldes offenbart, ein Jahrhundert, bevor viele kritische Ökonomen dies in detaillierten Analysen offenlegten, während die Masse der Menschheit das Wesen des Geldes immer noch nicht versteht.)
Zum Verständnis Spenglers sind seine Unterscheidungen von Richtung und Ausdehnung, sowie Werden und Gewordenem von Bedeutung: „Symbole, als etwas Verwirklichtes, gehören zum Bereich des Ausgedehnten. Sie sind geworden, nicht werdend – auch wenn sie ein Werden bezeichnen – mithin starr begrenzt und den Gesetzen des Raumes unterworfen.“ (285) Symbole sind die Pyramiden Ägyptens oder gotische Kathedralen. Zwar sind sie von Menschen gemacht, aber wie ein Felsen bereits statisch geworden. Das Gewordene ist die Vollendung eines Werdenden. Das Gewordene ist Ausgedehnt im Raum, Teil des Raums. Das Werdende (der Prozess der Errichtung von Pyramiden und Kathedralen) ist in der Vergangenheit geschehen, in einer Zeit, die in einer unumkehrbaren Richtung verlaufen ist.
Alles Gewordene ist statisch, aber auch vergänglich. Das gilt für Denkmäler genauso wie für die Kulturen, deren Geist Denkmäler wie Pyramiden oder Kathedralen symbolisieren: „Alles Gewordne ist vergänglich. Vergänglich sind nicht nur Völker, Sprachen, Rassen, Kulturen. Es wird in wenigen Jahrhunderten keine westeuropäische Kultur, keinen Deutschen, Engländer, Franzosen mehr geben, wie es zur Zeit Justinians keinen Römer mehr gab. […] Vergänglich ist jeder Gedanke, jeder Glaube, jede Wissenschaft, sobald die Geister erloschen sind, in deren Welten ihre ‚ewigen Wahrheiten‘ mit Notwendigkeit als wahr empfunden wurden.“ (288 f)
Damit folgt Spengler der Philosophie Nietzsches: „Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurteil, dass Wahrheit mehr wert ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt gibt.“ (Nietzsche, Werke III). Es gehört heute zu den allgemein anerkannten Voraussetzungen der Wissenschaften, dass deren Forschung „Jenseits von Gut und Böse“ ohne Wertung, im Sinne Nietzsches a-moralisch vorzugehen hat. Es gilt geradezu als Tabu über Wahrheit zu sprechen. „Es gibt keine Wahrheit“, ist die letzte Wahrheit. Anstelle der absoluten Wahrheit jedoch ist nicht die Vielfalt getreten, nicht das „Pendeln der Meinungen“ (Konrad Lorenz), oder Offenheit im Diskurs von Pro und Contra, sondern die Deutungshoheit. Diese unterliegt keinem offenen, redlichen wissenschaftlichen Diskurs, sondern einzig und allein dem Machtapparat.
Aber das ist ein anderes Thema. Hier geht es um die Frage von Raum und Zeit, sowie immergültige Wahrheiten, die Immanuel Kant in Begriffen a priori gefasst hat. Mehr als an allen anderen Philosophen arbeitet sich Spengler an Kant ab. Auch wenn der Mathematiker respektlos anmerkt „Kant ist als Mathematiker bedeutungslos“ (583), was man gleichermaßen über Kant als Botaniker oder Kant als Ornithologen sagen könnte, so ist es Spengler doch ein tiefliegendes Bedürfnis, die eigene Denkungsart an der Erkenntnistheorie Kants zu messen. Kant ist sein Maßstab, nicht Hegel, die „Kritik der reinen Vernunft“, nicht die „Phänomenologie des Geistes“. Am Ende steht Spengler der „Vernunft“ Kants näher als dem „Weltgeist“ Hegels.
„Nun hat Kant die große Frage, ob dies Element »a priori« vorhanden oder durch Erfahrung erworben ist, durch seine berühmte Formel dahin zu entscheiden geglaubt, daß der Raum die allen Welteindrücken zugrunde liegende Form der Anschauung sei.“ (291)
„Es ist keine Frage, daß »der« Raum, wie ihn Kant mit unbedingter Gewißheit um sich sah, als er über seine Theorie nachdachte, für seine Vorfahren zur Karolingerzeit auch nicht annähernd in dieser strengen Gestalt vorhanden war. Kants Größe beruht auf der Schöpfung des Begriffs einer »Form a priori«, aber nicht auf der Anwendung, die er ihm gab. Daß die Zeit keine Form der Anschauung ist, daß sie überhaupt keine »Form« ist – es gibt nur ausgedehnte Formen – und nur als Gegenbegriff zum Raum definiert wurde, sahen wir schon. Es ist aber nicht nur die Frage, ob gerade das Wort Raum den formalen Gehalt im Angeschauten genau deckt; es ist auch eine Tatsache, daß die Form der Anschauung sich mit dem Grade der Entfernung ändert: Jedes entfernte Gebirge wird als Fläche – Kulisse – »angeschaut«. Niemand wird behaupten, daß er die Mondscheibe körperhaft sehe. Der Mond ist für das Auge eine reine Fläche, und erst durch das Fernrohr stark vergrößert – also künstlich angenähert – erhält er mehr und mehr räumliche Beschaffenheit. Augenscheinlich ist die Form der Anschauung also auch eine Funktion des Abstandes. Dazu kommt, daß wir beim Nachdenken, statt uns eben vergangener Eindrücke genau zu erinnern, das Bild des von ihnen abgezogenen Raumes »vor uns hinstellen«. Aber diese Vorstellung täuscht uns über die lebendige Wirklichkeit. Kant hat sich täuschen lassen. Er hätte zwischen Formen der Anschauung und des Verstandes gar nicht scheiden dürfen, denn sein Begriff Raum umfaßt bereits beides.
Wie Kant sich das Zeitproblem dadurch verdarb, daß er es zu der in ihrem Wesen mißverstandenen Arithmetik in Beziehung brachte und also von einem Zeitphantom redete, dem die lebendige Richtung fehlte, das also nur ein räumliches Schema war, so verdarb er sich das Raumproblem durch seine Beziehung auf eine Allerweltsgeometrie. Der Zufall hat es gewollt, daß wenige Jahre nach Vollendung seines Hauptwerkes Gauß die erste der nichteuklidischen Geometrien entdeckte, durch deren in sich widerspruchslose Existenz bewiesen wurde, daß es mehrere streng mathematische Arten einer dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt, die sämtlich »a priori gewiß« sind, ohne daß es möglich wäre, eine von ihnen als die eigentliche Form der »Anschauung« herauszuheben.“ (292 f)
Spenglers Weltbild: „Alles Gewordene ist vergänglich. […] Vergänglich ist jeder Gedanke, jeder Glaube, jede Wissenschaft, sobald die Geister erloschen sind, in deren Welten ihre »ewigen Wahrheiten« mit Notwendigkeit als wahr empfunden wurden. […] Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. So führt diese Einsicht unvermerkt auf das Raumproblem, allerdings in einem neuen und überraschenden Sinne. Seine Lösung – oder bescheidener, seine Deutung – erscheint erst in diesem Zusammenhange möglich, so wie das Zeitproblem erst aus der Schicksalsidee faßlicher wurde. Das schicksalhaft gerichtete Leben erscheint, sobald wir erwachen, im Sinnenleben als empfundene Tiefe. […] Das Welterlebnis knüpft sich ausschließlich an das Wesen der Tiefe – der Ferne oder Entfernung – deren Zug im abstrakten System der Mathematik neben Länge und Breite als »dritte Dimension« bezeichnet wird. […] Die Tiefe repräsentiert den Ausdruck, die Natur; mit ihr beginnt die »Welt«. […] Natur ist eine Funktion der jeweiligen Kultur. (290 f) [Hervorhebungen fett von HTH, Hervorhebungen kursiv von Spengler.]
Angesichts der Tiefe dieser Ausführungen ist erstaunlich, welchen Missverständnissen Spengler aufgrund oberflächlicher Kant-Lektüre aufsitzt.
Kants Weltbild: Folgende Formulierungen verwendet Kant in der „Kritik der reinen Vernunft. Der transzendentalen Ästhetik erster Abschnitt. a. [Vorbemerkung: „Ästhetik“ bedeutet nicht „Lehre vom Schönen“, sondern bezieht sich auf den ursprünglichen griechischen Begriff αἴσθησις aísthēsis „Wahrnehmung, Empfindung“.]
+ Der Raum ist kein empirischer Begriff.
+ Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. […] Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen und ist eine Vorstellung a priori, die notwendigerweise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.
+ Der Raum ist […] eine reine Anschauung.
In späteren Kapiteln schreibt Kant:
+ Der Gebrauch dieses Begriffs [Raum] geht in dieser Wissenschaft [Geometrie] auch nur auf die äußere Sinnenwelt, von welcher der Raum die reine Form ihrer Anschauung ist, […]
+ … die Anschauungsformen Raum und Zeit.
Die gleichen Axiome, die Kant für den Raum aufgestellt hat, gelten auch für Anschauung und Vorstellung der Zeit. Spenglers fixiert sich einseitig auf den Begriff „Anschauungsform“, den er in Bezug auf die Zeit mit der banalen Erklärung „es gibt nur ausgedehnte Formen“ zurückweist. Diese Reduktion des Begriffs der „Form“ ist möglich aber banal, denn es gibt die formale Logik, es gibt in der Musik u.a. die Sonaten-Form, es gibt im täglichen Leben Umgangs-Formen und viele Formen mehr, die allesamt „ausdehnungslos“ sind. Spenglers ebenso banale Raum-Kritik beruht auf einer simplen Verwechslung: „Tatsache [ist], daß die Form der Anschauung sich mit dem Grade der Entfernung ändert.“ Richtig ist: nicht die Anschauung (d.h. nicht die „Anschauungsform Raum“), sondern das Angeschaute ändert sich mit dem Grad der Entfernung. Spengler verwechselt also einen philosophischen Begriff (das Phänomen Anschauung, die Anschauung an sich) und die menschliche Wahrnehmung eines Berges, der seine „Form“ mit zunehmender Entfernung, aber auch mit Lichteinfall und Perspektive, ändert. Jedes Kind versteht, dass der Berg nicht seine Form an sich, sondern mit zunehmender Entfernung nur das Aussehen ändert. Die subjektive Wahrnehmung des Berges (die sinnliche Wahrnehmung des Angeschauten) ändert sich, nicht Form (oder Wesen) der Anschauung.
Kant verwendet den Begriff „Anschauung“ meistens im Zusammenhang von „sinnlicher Anschauung“ synonym zu „empirischer Erfahrung“. Dazu zählt die zufällige Beobachtung der Natur ebenso wie die zielgerichtete, wissenschaftliche Erforschung der Natur. Es klingt daher widersprüchlich, wenn Kant plötzlich Raum und Zeit als „reine Anschauungen“ bezeichnet, da der Begriff „rein“ immer bedeutet: losgelöst von der empirischen Erfahrung, somit auch von der „sinnlichen Anschauung“. Spengler hat diesen Widerspruch gefühlt, verbeißt sich aber auf seine irrige Interpretation: „Raum = reine Anschauungsform“.
Es stimmt, dass Kant seine Begriffe nicht immer exakt abgrenzt, was auch gar nicht möglich ist. Die „Kritik“ ist kein fertiges Produkt, sondern der gesamte Entwicklungsprozess von Kants Epistemologie (Erkenntnis-Lehre). Kant hätte sicher weniger Verwirrung gestiftet, wenn er nicht verkürzt von „reinen Anschauungen Raum und Zeit“ gesprochen hätte, sondern wenn er explizit erklärt hätte, was tatsächlich gemeint war: Raum und Zeit sind reine Begriffe a priori und Bedingung der Möglichkeit jeder sinnlichen Anschauung und Empfindung.
Bei der Lektüre von Kant fällt auf, dass der Philosoph zahlreiche Begriffe verwendet, die nicht von vornherein eindeutig definiert werden, ganz im Gegenteil: Die Bedeutungen von Begriffen liegen nicht eindeutig vor, sondern werden von Kant ergründet, entwickelt und erfasst. Das ist das Prinzip der kritischen Methode im Unterschied zu einer Analyse, die in eindeutigen Definitionen endet. Die kritische Methode ist konstruktiv, aufbauend und offen, die analytische Methode ist definitiv, eingrenzend und ausgrenzend. Nur so kann man den vielfach missverstandenen Satz verstehen: „Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor“ (Prolegomena § 36). Dieser umstrittene Satz korreliert mit der streitbaren Aussage Spenglers: "Natur ist eine Funktion der jeweiligen Kultur."
Versuch einer Einordnung der Schlüsselbegriffe der Kritik der reinen Vernunft:
Anschauung ist jede Form des Schauens: vom beiläufigen (unwillkürlichen) Schauen während eines Spaziergangs bis zum konzentrierten, systematischen Beobachten eines Gegenstandes. Gegenstand ist alles, was dem Menschen (Subjekt) gegenüber oder entgegen steht (Objekt). Alle Anschauungen sind sinnlich und daher a posteriori.
Wahrnehmung ist die zielgerichtete Anschauung eines Gegenstandes aus einer bestimmten Perspektive (optisch, physikalisch, biologisch) und setzt entsprechende Begriffe (einfache Definitionen) voraus: Das ist ein Stein. Das ist eine Blume. Wahrnehmung impliziert nicht nur Anschauung, den Sehsinn, sondern alle Sinne. Man kann einen Gegenstand dann wahrnehmen, wenn man ihn im buchstäblichen Sinne angreifen und somit begreifen kann. Durch die Wahrnehmung entwickeln wir Begriffe, durch die Begriffe nehmen wir Gegenstände wahr. Alle Wahrnehmungen sind a posteriori.
Erkenntnis ist das Ergebnis einer Abfolge von Anschauungen und Wahrnehmungen, die geprüft (falsifiziert oder verifiziert) wurden. Anschauung, und Wahrnehmung sind Vorstufen der Erkenntnis, die Kant auch „Erfahrungserkenntnis“ oder ganz einfach „Erfahrung“ nennt. Davon abzugrenzen sind Vernunfterkenntnisse (laut Kant das ganze obere Erkenntnisvermögen). Die Form einer Erkenntnis ist ein Satz. Es ist klar, dass nicht jeder Satz eine Erkenntnis darstellt. Ganz im Gegenteil, die meisten Sätze sind (unbegründete) Behauptungen, Meinungen, Vorurteile, (willkürliche) Vermutungen, Absichts- oder Willenserklärungen, Appelle, Befehle, Vorschriften oder (systematische) Spekulationen.
Empfindung ist die unmittelbare Wahrnehmung von unfassbaren Gegenständen, d.h. von Gegenständen außerhalb unserer Reichweite. Gegenstand der Empfindung ist die Erscheinung, prototypisch für die Erscheinung ist die Sonne! Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter – das sind unmittelbare Empfindungen. Diese brauchen keine Vermittlung durch Eltern, Lehrer oder gar Wissenschafter. Unmittelbare Empfindungen brauchen auch keine Begriffe. Auch Tiere und Pflanzen empfinden Sonnenaufgang und -untergang und richten ihr Leben danach aus, genau so wie die Menschen trotz aller Erkenntnisse, die dieser Empfindung widersprechen. Empfindungen sind weder a posteriori, noch a priori, sie sind unmittelbar. Empfindungen die man vermittelt (anderen Menschen mitteilt) sind selbst keine Empfindungen, sondern Erzählungen (große Erzählungen wie die Religionen, Mythen und Sagen, oder kleine, wie „Narrative“ – so der moderne Ausdruck für subjektive Wahrheiten oder gar Lügen, die uns Politiker täglich erzählen, wenn sie ihr eigenes Handeln mystifizieren oder tabuisieren.)
Erlebnis kommt im Unterschied zur Empfindung von innen. Man kann spricht von Schmerz-Empfindung, wenn ein äußeres Ereignis bei einem Menschen Schmerz auslöst. Wenn ein Mensch stirbt, kann dieses Ereignis bei seinen nächsten Verwandten Schmerzempfindungen auslösen – doch hier ist der konventionelle Sprachgebrauch ungenau. Genauer gesagt ist dieser Schmerz ein inneres Gefühl, das Gefühl der Trauer. Dieses Gefühl kommt aber von innen, dieses Gefühl erleben nur jene Menschen, die mit dem Verstorbenen eine innere Beziehung hatten. Wer den Verstorbenen nur „aus der Ferne“, äußerlich kannte, kann den Schmerz der Trauer in dem Fall nicht erleben, sondern nur mit einzelnen Hinterbliebenen, mit denen er persönlich verbunden ist, mitfühlen. Trauer und Freude, Gefühle und Mitgefühle kann man nur erleben, nicht empfinden – bestenfalls als Schauspieler nach-empfinden (= nachahmen). Erlebnisse sind Affekte (Gefühlsregungen), die – so wie metaphysische Spekulationen oder Glaubenssätze – nicht der Erkenntnis zugänglich sind (hier sind die Grenzen der Erkenntnis erreicht). Es gibt alltägliche Erlebnisse, von denen wir die meisten schnell wieder vergessen, und prägende Erlebnisse, die unser Verhalten und unsere Haltung beeinflussen. Die äußere Form des Erlebnisses ist das Ereignis.
Vorstellung ist „das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“. Genau genommen definiert Kant mit dieser Formulierung die „Einbildungskraft“ und stiftet Verwirrung, indem er zwischen reiner und sinnlicher Vorstellung unterscheidet. Vorstellung und Einbildung sind bei Kant Synonyme, ebenso Vorstellungskraft und Einbildungskraft. Kant spricht vom Vorstellungsvermögen, nicht aber vom „Wahrnehmungsvermögen“. Den fallenden Apfel kann jeder mit offenen Augen wahrnehmen. Dazu ist keine Fähigkeit (kein Vermögen) erforderlich. Die Vorstellung von einem fallenden Apfel kann mit geschlossenen Augen erfolgen und impliziert das Wissen, warum er fällt (Kausalitätsprinzip + Schwerkraft). Die Vorstellung kann auch bloße Erinnerung sein, das Vorstellungsvermögen bleibt aber nicht beim „inneren Film“ stehen, sondern kann dazu führen, dass sich ein Farmer überlegt, wann und wie er die Äpfel erntet, bevor sie vom Baum fallen und am Boden verderben. Einbildungskraft im heutigen Verständnis ist stärker mit dem Wort Phantasie verwandt als zu Zeiten Kants, der Phantasie nur den Künstlern zugestand. So wie Wahrnehmung mit Begreifen und Begriffen verbunden ist, ist die Vorstellung mit Bildern und Symbolen verknüpft. Die Vorstellungskraft von Technikern findet ihren Ausdruck in Plänen und Programmen; das Symbol der Technik ist der Print. Die Vorstellungskraft von Unternehmern findet ihren Ausdruck in Organisationen, die Symbole der Unternehmen sind ihre Logos. Bilder, Pläne, Symbole und Logos sind dazu da, ganz bestimmte Vorstellungen bei jedem, der sie sieht und versteht, auszulösen.
Urteil ist die letzte, abschließende Form der Erkenntnis, genauer gesagt: das abschließende Ergebnis eines Erkenntnisprozesses. Wie das Urteil eines Gerichtsprozess zeigt, ist ein Urteil zwar abschließend, aber niemals endgültig, solange es noch eine höhere Instanz gibt. Höhere Instanzen finden wir auch in der Naturwissenschaft und in der Geschichtsschreibung. Hier treffen sich die Weltanschauungen von Kant und Spengler wieder. Die höhere Instanz der Wissenschaften ist der Fortschritt (Naturwissenschaften, Kant) oder die organische Entwicklung einer Kultur (Geschichte, Spengler). Höhere Instanzen sind (im Idealfall) natürliche Autoritäten (Natur und Kultur), die aber in der Realität oft durch politische Autoritäten (im schlimmsten Fall Willkürherrscher), außer Kraft gesetzt werden.
Dies ist das „kleine Einmaleins“ zum Verständnis des Erkenntnisvermögens der Menschen. Aller Menschen? Aller Menschen, die der abendländischen Zivilisation anghören. Nicht enthalten sind im „kleinen Einmaleins“ weitere Schlüsselbegriffe (Keywords) der Kritik der reinen Vernunft, von denen die wichtigsten sind (zitiert nach Ausgabe 1971, Felix Meiner Verlag): Ästhetik, Analytik, Anschauung, Antizipation, Antinomie, Antithetik, a priori, a postriori, Apperzeption, Assoziation, Axiom, Bedingung, Begriff, Bestimmung, Beweis, Bewusstsein, Dasein, Deduktion, Definition, Deklaration, Demonstration, Denken, Dependenz, Dialektik, [Dialog fehlt], Diskurs, Dogma, Doktrin, Dualismus, Dynamik, Einfluss, Einheit, Empirismus, Erfahrung, Erkenntnis, [Erlebnis fehlt], Erörterung, Erscheinung, Existenz, Form, Funktion, Gattung, [Gedächtnis und Erinnerung fehlen] Gegenstand, Gesetz, Glaube, Gott, Grundsatz, Gut, Gültigkeit, Handlung, Harmonie, Heuristik, Hypothese, Ich, Ideal, Idealismus Idee, Identität Illusion, Imperativ, Inhärenz, Intelligenz, Interesse, Kanon, Kategorien, Kausalität, Konstruktion, Kontinuität, Kosmologie, Kritik, Kultur, Leitfaden, Logik, Materie, Materialismus, Mathematik, Maxime, Metaphysik, Methode, Modalität, Möglichkeit, Moment, Monaden, Moral, Mythos, Natur, Naturgesetze, Negation, Nichts, Notwendigkeit, Objekt, Organ, Ort, Paralogismus, Phänomen, Philosophie, Physik, Physiologie, Position, Postulat, Prinzipien, Progress, Psychologie, Qualität, Quantität, Rationalismus, Raum, Realismus, Realität, Regel, rein, Relation, Religion, Schein, Schema, Schematismus, Seele, Selbstbewusstsein, Sinnenwelt, Sinnlichkeit, Sittlichkeit, Skeptizismus, Spezifikation, Spekulation, Spiritualismus, Spontaneität, Subjekt, Substanz, Synthesis, System, Teleologie, Theologie, Thesis, Totalität, transzendental, Überlegung, Überzeugung, Unendlichkeit, Unsterblichkeit, Urbild, Urgrund, Ursache, Urteil, Urteilskraft, Veränderung, Vernunft, Vernunftbegriffe, Verstand, Vorstellung, Vollkommenheit, Wahrheit, Wahrnehmung, Wahrscheinlichkeit, Welt, Widerspruch, Willkür, Wirklichkeit, Wissenschaft, Zahl, Zeit, Zufälligkeit, Zweck