Ästhetik der Macht

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von Nadim Sradj, Regensburg

Der Begriff „Ästhetik“ soll hier im ursprünglichen Sinne als Empfindung, Wahrnehmung (Ästhesie), nicht im Zusammenhang mit Schönheit verstanden werden. Bekannter ist im Allgemeinen das Gegenteil hiervon, nämlich Anästhesie als Empfindungslosigkeit, Narkose. Die Komplexität und die irreguläre Dynamik der Macht erfordern eine breitere Basis der Erkenntnis. Hierzu können vier verschiedene Ansätze beitragen:

1. Die Subjekt-Objekt-Spaltung nach Descartes.

2. Die Dialektik der These-Antithese nach Hegel und Kojev.

3. Das Herrschaftswissen nach Max Scheler.

4. Die Pathologie der Macht, Orte der Wahr- und Falschnehmung.

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Ad 1: In der Subjekt-Objekt-Spaltung agiert der Mächtige eindimensional und linear. Die Machtrichtung ist einseitig und in der Regel hierarchisch begründet. So z.B. Offizier und Soldat oder das Arzt-Patient-Verhältnis, wobei der Arzt, als der Wissende, Aktive, der Entscheidende, der Patient als der Unwissende, der Passive definiert wird. Er wird praktisch mit einem Tier gleichgesetzt, wenn Ergebnisse von Tierversuchen auf ihn übertragen werden.

Ad 2: Die Ausübung der Macht findet nicht im homogenen Raum, im Vakuum sondern im zwischenmenschlichen Spannungsverhältnis statt. Wo Macht ist, ist auch Gegenmacht. Wird die Machtausübung hoch dosiert, so entsteht eine rigide Beziehung zwischen Herr und Knecht. Das Bewusstsein des Stärkeren unterdrückt den Willen des Schwächeren. Die Eigendynamik der Macht schafft neue Konstellationen, in denen Stärke in Schwäche umschlagen kann. In diesem Zusammenhang kommt der Begriff der Freiheit ins Spiel. Durch die Aufklärung entsteht das Bewusstsein von Freiheit als geschichtlicher Prozess. Hegel definiert die Geschichte als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. Unter diesem Aspekt werden Revolutionen gerechtfertigt. Die Macht erscheint hier als kollektiv, nicht mehr individuell.

Ad 3: Das Herrschaftswissen deckt sich mit der Formel von Francis Bacon „Wissen ist Macht“. Der Philosoph Max Scheler unterscheidet drei Arten von Wissen: Erlösungswissen im religiösen Bereich, Kommunikations-wissen und Herrschaftswissen.

Heutzutage bestimmen sogenannte wissenschaftliche Erkenntnisse in weiten Teilen unser Leben und unser Verhalten. Damit ist eine neue Art der Machtausübung durch Experten und Technokraten auf der Grundlage von Statistiken und Messergebnissen entstanden. Hierbei ist zum Beispiel in der Augenheilkunde nur noch eine einzige Methode zur Erlangung wissenschaftlicher Erkenntnis zugelassen. Paul Feyerabend sprach von „Methodenzwang“. Der Methodenmonismus, d.h. das Zulassen einer einzigen Methode unter Ausschluss aller alternativen Forschungsmethoden und die Verrechtlichung der so gewonnenen einseitigen Ergebnisse führt zu einer Konstellation innerhalb der Forschung, die Feyerabend einmal als „Wissenschaftsmafia“ bezeichnet hat. In nahezu allen ophthalmologischen Fachzeitschriften wird den Autoren vorgeschrieben, nur ein einziges methodisches Muster anzuwenden (Statistik, Doppelblindstudie usw ). Alle anderen wissenschaftlichen Methoden werden nicht akzeptiert. Dies ist eine Manipulation von Erkenntnissen und Messdaten, die sich auch in anderen Bereichen wiederfinden lässt. Ein Beispiel hierfür ist die Abgasmanipulation bei VW, die wir nicht als ein Mittel zur Bereicherung sehen, sondern als einen Versuch, Umweltprobleme allein durch Technologie lösen zu wollen. Dieser Methodenmonismus ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt.

Ad 4: Erhöht man die Dosierung der Macht, so kann sie Zittern, Herzklopfen oder psychologische Wunden hervorrufen. In diesem Fall gilt das Prinzip „so wenig Macht wie möglich, so viel wie nötig“. Die Eigendynamik der Macht hebt das Prinzip der Gleichheit und Gleichwertigkeit auf (s. Abbildungen) und stellt eine neue Beziehung der Über- und Unterordnung her. Diese spannungsvolle Konstellation kann das Bewusstsein der Stärke in eine Position der Schwäche verwandeln. In der Schwäche geschieht es häufig, dass der Betroffene nach dem Verlust der Macht in einen Zustand der Autoaggression gerät und in die Krankheit verfällt. Macht kann zur Droge werden, ihr Verlust endet im Verfall.

Unter diesem Aspekt der Psychopathologie definieren wir die Macht als sublimen Ausdruck von Aggression.

Wenn es in der internationalen Politik um Fragen von Recht und Unrecht geht, so ist sie bei den Kategorien von Ethik und Moral im Stadium einseitiger Interessenvertretung stehen geblieben. In solchen Fällen weicht sie in die Jurisprudenz aus und endet im Legalismus formaler Strukturen, Paragraphen und Vorschriften. Die heutige Diskussion über die Ästhetik ist zeitweise diffus, undifferenziert, an Sensationen orientiert, teilweise verrückt und büßt dadurch an Glaubwürdigkeit ein. So konnte es geschehen, dass eine Journalistin es ablehnt, sich mit dem Thema „Ästhetik“ zu beschäftigen mit der Begründung, das sei ein Thema „für gelangweilte Hausfrauen und pensionierte Wissenschaftler“.

Die Ästhetik auf der Grundlage der Sinnesphysiologie und Sinnespathologie, die u.a. auf Ernst Mach und Helmholtz zurückzuführen ist, ist ein wesentlicher Schritt aus diesem Dilemma heraus in ein System der Erkenntnis.

Die wissenschaftliche Ästhetik hat eine eigene Erkenntnistheorie, nämlich die induktive Logik und eine eigene Methode, die experimentelle Methode (J. St. Mill 1843).

Das Ergebnis dieser Studie ist, dass die naturwissenschaftliche Ästhetik selbst eine Art von Macht darstellt, indem sie grenzüberschreitende Wirksamkeit und Geltung erlangt.

Die Ästhetik angewandt auf die Politik bringt uns zum Bewusstsein, dass die Pflanzen- und Tierwelt nicht als reine Gegenstände gesehen werden dürfen, sondern autonome lebendige Strukturen darstellen, die als solche Anerkennung und Würde verdienen. Was ist der Mensch ohne Pflanzen und Tiere? Wovon könnte er dann noch leben?

Der Klimawandel und die Umweltkatastrophen verdeutlichen, dass die Natur nicht nur eine Macht, sondern eine Allmacht darstellt, gegen die der Mensch letztlich hilflos ist. Die ästhetische Betrachtung der Politik sensibilisiert unsere Wahrnehmung von Signalen und Vorzeichen. Eine nachhaltige Weltästhetik nimmt die Idee des Weltethos auf, und es ist zu hoffen, dass auf diesem Wege der Weltfrieden Realität wird.

Literatur

Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt am Main, 1976

Alexander Kojev, Hegel. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main, 1975

Nadim Sradj, Sinnesphysiologische Ästhetik und ihre Bedeutung für die Politik , Regensburg, 2020

Ders. Global Science – 10 Thesen zur Weltauffassung im 21. Jahrhundert, s. These 7 , Regensburg. 2011