Teil 1: Vorgeschichte + Finanzierung + Struktur
von Bernd Stracke
Am 15. Jänner 2021 ist Wikipedia 20 Jahre alt geworden. Das Schachtelwort setzt sich aus „Wiki“, das hawaiische Wort für „schnell“ und einer Verkürzung des Wortes „Encyclopedia" (englisch für Lexikon) zusammen. Das Online-Lexikon liegt auf dem 13. Platz der am häufigsten aufgerufenen Webseiten der Welt. Von der Größe her rangiert Wikipedia laut Onlinedienst Alexa hinter Google, Youtube, Facebook und der chinesischen Suchmaschine Baidu an fünfter Stelle. Dutzende Millionen Einträge in 305 Sprachen stehen kostenlos zur Verfügung und werden pro Stunde eine Million Mal angeklickt. Menschen in den reicheren Industriestaaten schlagen im Schnitt pro Monat neunmal bei Wiki nach, die „gigantischste Stalkingmaschine der Welt“ („Schwarzbuch Wikipedia“, Herausgeber Dr. Andreas Mäckler, Zeitgeist-Verlag Höhr-Grenzhausen, 2020) ist aus dem modernen Leben nicht mehr wegzudenken. Klassische Enzyklopädien wie Brockhaus, Meyer oder die altehrwürdige Encyclopedia Britannica können da längst nicht mehr mithalten. Der Mega-Umfang dieser gefährlichen geistigen Machtzusammenballung ist kaum vorstellbar, das Ausmaß des versuchten und vollzogenen Monopolmissbrauchs wird nach Ansicht kritischer Geister sträflich unterschätzt. Mit dem vorliegenden GENIUS-Lesestück liegt Teil 1 einer kritischen Trilogie vor.
Das von 200 „Administratoren“ mit Texten, Fotos, Tabellen und Grafiken gefütterte deutsch(sprachig)e Wiki wird täglich vier Millionen Mal aufgerufen und liegt in Österreich auf Rang 6 (Deutschland Rang 7, Schweiz Rang 4) der meistbesuchten Webseiten. 2020 waren in der deutschen Wiki 748 067 Biografien gelistet, darunter 690 „relevante“ Pornodarsteller (78,8 Prozent davon weiblich) und 267 „relevante“ Forstwissenschaftler. Die Zahl der Wikipedia-Aufrufe ist eines, das Niveau der Wikinutzer ein anderes. Tief blicken lässt, dass das Publikum laut Wiki-Eigenmessung seit Beginn der Aufzeichnungen vor sechs Jahren täglich 977 Mal nach der Religionsparodie „Fliegendes Spaghettimonster“ suchte, während „Jesus Christus“ auf nur 896 tägliche Aufrufe kam (Quelle: pageviews.org).
Wenig schmeichelhafte Vorgeschichte
In schmeichelhaften Biografien ist zu lesen, dass der US-Südstaatler Jimmy Wales, Jahrgang 1966, Sohn eines Gemischtwarenhändlers, „schon kurz nach dem Studium an den Finanzmärkten genug Geld für ein sorgenfreies Leben gemacht“ habe. Der Politologe und Publizist Hermann Ploppa charakterisiert den späteren Wiki-Chef hingegen als einen mehrfach gescheiterten Glücksritter, der sich an der Chicagoer Börse vergeblich als Spekulant versuchte, später eine Hartporno-Suchmaschine namens Bomis betrieben habe, mit der er ebenfalls Schiffbruch erlitt, und der schließlich auf die Idee eines durch Werbung gegenfinanzierten Online-Lexikons namens Nupedia gekommen sei. Das Projekt sei zäh gelaufen, bis er Larry Sanger als Partner anheuerte, der die Eingebung hatte, Leser selbst die Lexikoneinträge redigieren zu lassen. Daraufhin feuerte Wales seinen Kompagnon und feierte sich fortan selbst als genialer Wiki-Erfinder.
Mittlerweile als einer der einflussreichsten Menschen in der Kategorie „Wissenschaftler und Denker“ mit dem „Time 100 Award“ ausgezeichnet (2006) und vom Weltwirtschaftsforum in die elitäre Riege der „Young Global Leader“ aufgenommen (2007), nennt Wales seine Wikipedia allerdings nicht „Lexikon“, sondern „Projekt“.
Wales sei zudem, so steht heute in seinem eigenen – hauptsächlich von einem Anonymus namens „Bonzo“ sowie weiteren 190 Autoren gebastelten – deutschen Wiki-Eintrag, ein begeisterter Hobbykoch, der in dritter Ehe mit Kate Garvey in London lebt und dort seit 2012 als unentgeltlicher Berater der britischen Regierung wirkt, für die er „neue Wege zu mehr Transparenz politischer Entscheidungsfindung und mehr Bürgerbeteiligung bei Gesetzgebungsvorhaben entwickeln“ soll. Im Vatikan ist Wales als Fan der Friedensenzyklika „Pacem in terris“ in der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften nicht ganz unbekannt. Seit Anfang 2016 ist er Boardmitglied in der potenten britischen Guardian Media Group. Zudem ist Wales mehrfacher Ehrendoktor und Träger zahlreicher Auszeichnungen. Er sieht sich weniger als Lexikon-Autor denn vielmehr als „eine Art konstitutioneller Monarch wie die Königin von England, der sich bitten lässt, in Fällen, in denen sich die Community nicht einigen kann, zu entscheiden“. Nicht als Monarch, sondern als „wohlwollender Diktator“ werde Wales mitunter bezeichnet, schreibt Michael Brückner in seinem Buch „Die Akte Wikipedia – falsche Informationen und Propaganda in der Online-Enzyklopädie“ (Kopp-Verlag, 2014).
Noch brisanter, aber nur schwer an relativ versteckter Stelle im Internet zu finden: Wales sitzt in Gesellschaft von hochrangigen Geheimdienstlern, darunter dem früheren CIA-Direktor Michael Hayden, auch im Beirat von Newsguard (mehr davon in Teil 3). Wales‘ Lieblingsbuch ist der „Atlas Shrugged“ von Ayn Rand, eine Art Bibel für freies Unternehmertum, und er bezeichnet sich als Friedrich-von-Hayek-Anhänger.
Kürzlich zeigte sich Wales in der NZZ selbst unzufrieden über den nur zehn- bis 15prozentigen Frauenanteil bei den Wikipedianern. Das emanzipatorische Defizit fiel zuletzt dem Wiener Branchenblatt „Extradienst“ auf, das in seiner April-Ausgabe über interne frauenfeindliche Diskussionen und Löschungen zu berichten wusste, ganz nach dem Muster des Schicksals der kanadischen Laser-Physikerin Donna Strickland, deren Eintrag wegen „mangelnder Relevanz“ gelöscht worden sei – kurz bevor sie 2018 den Nobelpreis erhielt. Der typische Wiki-Autor sei eben „ein weißer westlicher Mann mittleren Alters“. Wiki werde „von einer eingefleischten anonymen Möchtegern-Community beherrscht“, die schlicht „Fakten verdreht“. Außerdem würden, so die Journalistin Hanka Paetow, „selbsternannte Besserwisser Inhalte nach Gutsherrenmanier ramponieren“. Den niedrigen Frauenanteil bei den Wiki-Biografien (16 Prozent) soll ein Projekt namens „Woman in Red“ – übrigens unter Teilnahme der WU Wien – steigern helfen.
Wales‘ einst geschasster Ex-Partner Sanger gründete seinerseits das weniger spektakuläre englische Online-Lexikon Citizendium https://en.citizendium.org/ und zeigte später die Wikimedia-Foundation wegen Verbreitung von Kinderpornografie auf Wikimedia Commons beim FBI an. Konkret nannte Sanger die Commons-Kategorien Pedophilia und deren Unterkategorie Lolicon Lolicon als Beispiele für in den USA illegale Darstellungen. Namentlich angeschwärzt wurde der Wikimedia-Foundation-Vizechef Eric Möller, der die Vorwürfe zurückweist.
Sanger kann sich heute mit seinem einstigen geistigen „Kind“ immer weniger identifizieren. In Fox News meinte er kürzlich: „Die Wiki-Hauptseiten für Sozialismus und Kommunismus enthalten keine Diskussion über die von deren Regimen begangenen Verbrechen, bei denen zig Millionen Menschen ermordet wurden und verhungerten.“ Wikipedia betreibe demnach „keine Bildung, sondern Propaganda“ und habe sich „immer mehr zum Spielplatz der Linken entwickelt, die gnadenlos rechte oder neutrale Einträge zensieren und ihnen eine linke Schlagseite verpassen.“
Mehrere Milliarden Dollar wert
Wikipedia-Betreiberin ist die als gemeinnützig deklarierte – und auch unter Mithilfe einer jährlich groß inszenierten Spendenkampagne finanzierte – Non-Profit-Organisation „Wikimedia Foundation“ (WMF) mit Sitz in San Francisco. In vielen Ländern gibt es zudem unabhängige Wikimedia-Vereine, die mit der Stiftung zusammenarbeiten, die Wikipedia jedoch nicht betreiben; im deutschen Sprachraum sind dies die 2004 gegründete Wikimedia Deutschland (WMDE), die 2006 in der Schweiz online gegangene Wikimedia CH (WMCH) sowie die zwei Jahre später entstandene Wikimedia Österreich (WMAT). Letztere ist laut ihrer Homepage nicht nur mit der Caritas Österreich (!) verpartnert, sondern auch mit der „Cooperation Open Government Data Österreich“ und damit über das Bundeskanzleramt, die Städte Wien, Linz, Salzburg sowie Graz direkt mit dem Steuerzahler verbunden. Die genannten öffentlichen Stellen gründeten 2011 gemeinsam die „Cooperation Open Government Data Österreich“ („Cooperation OGD Österreich“, https://www.data.gv.at/infos/cooperation-ogd-oesterreich/ ), die – gemäß ihrem „Leitbild und Vision 2019 basierend auf der Salzburger Erklärung vom 29. 10. 2018“ – aktiv an der Kooperation OGD D-A-CH-LI und anderen internationalen Netzwerken teilnimmt. Es gelte, „mittels politischem Schulterschluss eine gemeinsame, zukunftsweisende Strategie zu entwickeln.“ Wikimedia Österreich selbst unterhält übrigens drei weitere Web-Projekte: die NGO-Wissensdatenbank „OpenDataPortal Österreich“, den österreichischen Heimatbücherkatalog „RegiowikiAT“ und die bundesweite Gemeinde-Info-Plattform „WikiDaheim“.
Bei Wikipedia sitzen, wie die FAZ vermutet, absolute Spendenprofis, die „das Spiel mit dem schlechten Gewissen längst perfektioniert haben“. An jedem Wort im Betteltext werde gefeilt. Finale Formulierung und sogar die Balkenfarbe würden aufwendig darauf geprüft, wie sie bei der Zielgruppe ankommen. Alles müsse passen, immerhin sähen bis zu zehn Millionen Menschen täglich das Banner auf der deutschen Wikipedia-Seite.
Denn der Wiki-Betrieb kostet natürlich etwas: Server müssen bereitgestellt und die Gehälter hunderter Stiftungsangestellter finanziert werden. Offenbar wird aber auch den angeblich unentgeltlich tätigen Autoren so einiges bezahlt, sofern sie danach fragen. Flugticket, Tankfüllung und das Abendessen obendrauf seien möglich und durchaus nicht an Landesgrenzen gebunden, weiß ein Insider. Es gehe sogar noch weiter: Das Unternehmen verleihe auch teure Technik, Laptops, Kameras und sogar Drohnen – inklusive Kostenübernahme für die Aufstiegsgenehmigung der Luftvehikel und die dazugehörige Versicherung.
Zudem betreibt die Wikimedia Foundation weitere „Tochter-Websites“ wie die Mediensammlung Wikimedia Commons, die Wissensdatenbank Wikidata, die Lernplattform Wikiversity, das Wörterbuch Wiktionary, die Lehrbuchsammlung Wikibooks, die Nachrichtenplattform Wikinews, die Zitatensammlung Wikiquote, die Quellensammlung Wikisource, der Reiseführer Wikivoyage und die Softwarekiste Mediawiki.
Big Wiki-Spender Google, Adobe, Apple, Amazon
Die herbeigeschnorrten Kleinspenden mögen eine angenehme Nebenerscheinung sein, das große Geld bringen sie wohl nicht. Das kommt von anderswo her: Zu den größten Spendern gehört der Netzgigant Google, genauer gesagt die Brin Wojcicki Foundation von Google-Mitbegründer Sergey Brin. Alles andere als knausrig sind aber auch Adobe, Apple, Amazon, Cisco, Hewlett Packard, Oracle, Netflix sowie Salesforce – also fast die gesamte Tech-Branche. Sie alle profitieren umgekehrt – eine Hand wäscht die andere – massiv von den kostenlos zur Verfügung gestellten Daten. So nutzte die Google-Schwesterfirma Jigsaw bei der Entwicklung eines Moderationstools gegen Hasskommentare ("Perspective") unter anderem 115.000 Wiki-Diskussionsbeiträge. Die Chefin der Google-Tochter Youtube, Susan Wojcicki, verriet Pläne, künftig auf „verschwörungstheoretische“ Videos mit Textauszügen aus Wikipedia kontern zu wollen. Suchte man in Google nach dem Pariser Musée d'Orsay, erschien noch vor kurzem im rechten Teil der Ergebnisseite ein Knowledge Panel, eine Info-Box mit Hintergrundinfos, deren Auszüge zum Teil aus der Wikipedia extrahiert und zuweilen mit ihr sogar identisch sind. Auch Amazons „Sprachassistentin“ Alexa benützt Wiki-Content. Wohl nur rein zufällig durfte sich ihrerseits die Wikimedia Endowment über eine Amazon-Millionenspende freuen. Der Journalist Michael Johnston errechnete, dass Wikipedia 2,3 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr erzielen könnte, wenn die Plattform kommerziell betrieben würde. Pro Monat ließen sich durch digitale Anzeigen mühelos 160 Millionen Dollar einspielen. Eine offene Wiki-Werbefinanzierung könnte aber als Verrat an den Wiki-Idealen gewertet werden und wäre der Community wohl kaum zu vermitteln.
Die zwei Plattformen Facebook und Twitter liebt Wales übrigens nicht, denn sie seien „Junk Food für das Gehirn“, würden Nutzer süchtig machen und dazu verleiten, sich oberflächlich zu verhalten: „Ein Like ersetzt keine normale menschliche Interaktion“, so der Enzyklopädie-Gründer. Für das Wiki-Schwarzbuch grub Herausgeber Andreas Mäckler übrigens ein Wales-Zitat aus, wonach die Wiki-Foundation in den USA bereits 2008 „mehrere Milliarden Dollar wert“ war.
Mäckler stellt in seinem Wiki-Schwarzbuch auch fest, dass in Wikipedia „Rechtsgerichtete“ stets als solche benannt und kategorisiert werden, „Linksgerichtete“ hingegen selten bis gar nicht. Lassen sich im Universum der veröffentlichten Meinung Zitate finden, die eine Person kritisch sehen oder skeptisch beurteilen, schlägt der Meinungshammer erbarmungslos zu: Dem Wiki-Opfer kann mit Hilfe dieser Zitate das Mäntelchen „umstritten“ umgehängt werden. Ein weiteres von Wiki angewendetes Instrument: Einzelne Aspekte – Werke, Äußerungen oder Verfehlungen – werden betont und erhalten übergroßes Gewicht. Bei anderen hingegen werden „dunkle Flecken“ vertuscht, wie man es auch bei der klassischen „antifaschistischen“ „Anprangerungsliteratur“ kennt: So intendiert Wikipedia wohl eine negative Punzierung des Leopold Stocker Verlages (z. B. scheinen in den „Kategorien“ die Schlagworte „Völkische Bewegung“ und „Neue Rechte“ auf), beim PapyRossa Verlag hingegen unterbleibt eine abwertende „linke“ Markierung (dort scheinen unter den „Kategorien“ lediglich die neutralen Begriffe „Buchverlag“, „Verlag“ und „Gegründet 1990“ auf).
Im Wiki-Eintrag über das sicher nicht rechtslastige „Zentrum für politische Schönheit“ (ZPS) ist auch kein Sterbenswörtchen über seinen seltsamen Konnex zum „Ibiza-Video“ zu lesen. Klickt man in die kritische Internetplattform „Unzensuriert“ hinein, erfährt man, dass dieses „politische Schönheitszentrum“ in jüngster Vergangenheit „immer wieder im Umfeld des sogenannten ,Ibiza-Videos‘ medial erwähnt und sogar als möglicher Käufer des Videos genannt wurde. Auch erfährt man aus Wikipedia nicht, dass die (mittlerweile aus dem österreichischen Parlament geflogene) „Liste Jetzt“ des Ex-Grünen Peter Pilz, früher bekanntlich Mitglied der trotzkistischen Gruppe Revolutionärer Marxisten, kurz vor der Nationalratswahl 2019 das „Schönheitszentrum“ zu einem „Diskurs“ eingeladen hatte. Die „ideologischen Dienstleistungen“ wurden so ausgelobt: „Das ZPS ist eine Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit. Grundüberzeugung ist, dass die Lehren des Holocaust durch die Wiederholung politischer Teilnahmslosigkeit, Flüchtlingsabwehr und Feigheit annulliert werden und dass Deutschland aus der Geschichte nicht nur lernen, sondern auch handeln muss.“ Die genannte Berliner Kanzlei fungierte übrigens auch als Vertreter des verhafteten und verurteilten Drogendealers und nach Österreich ausgelieferten mutmaßlichen Lauschfallen-Mittäters Julian Hessenthaler rechtsfreundlich gegen Medien.
Für die „Politur“ des Netz-Images hat sich der Begriff „Online Reputation Management“ (ORM) eingebürgert, die Beeinflussung und/oder Observierung des Rufs von Einzelpersonen, Organisationen oder Marken. Mittels professioneller Suchmaschinenoptimierung (SEO) lassen sich auf den ersten Seiten der Suchmaschinen schlechte Nachrichten von guten verdrängen – und umgekehrt. Da Wikipedia-Einträge wie durch Zauberhand stets ganz nach vorne rutschen, können sie nicht nur über Leben und Tod von Unternehmen, sondern auch über Karrieren und Karriereknicks von Wissenschaftlern, Politikern und Autoren entscheiden. Selbst professionellen (und in der Regel nicht ganz billigen) ORM-Firmen gelingt es meist nicht, Rufmorden erfolgreich und nachhaltig gegenzusteuern.
Korruption und Schutzgeld?
Zum Glück nicht in Mitteleuropa, sondern bis dato nur in Brexit-Land tauchten im Wikipedia-Umfeld die hässlichen Begriffe Korruption und Schutzgeld auf, aber immerhin: Im Wiki-Schwarzbuch berichtet Hermann Ploppa über eine sich im Inselreich „immer deutlicher äußernde zunehmende Korruption“. Wikimedia Großbritannien habe die Konten von 381 Nutzern sperren müssen, die mittelständische Unternehmen und Prominente unter Druck gesetzt hätten, ihnen Schutzgeld zu zahlen, andernfalls die Firmen und ihre Produkte oder die Reputation der Prominenten in Wiki-Artikeln systematisch schlechtgemacht würden. Der Betreiber des Kartenspiels „Cards against humanity“ begriff daraufhin offenbar rasch, wo der Hebel anzusetzen ist: Er spendete 70.000 Dollar an die Wiki-Foundation – und durfte fortan die Seite über sein Produkt ungestört in seinem Sinn redigieren. Auch auf höherer Ebene rissen seltsame Bräuche ein: Ein Mitarbeiter der Boeing-Flugzeugwerke, Jeff Finlayson, habe, so Ploppa, jahrelang Artikel über Boeing geschrieben und redigiert. Und der Einfachheit halber auch gleich jene über das Konkurrenzunternehmen McDonell-Douglas. Jenseits des Atlantiks überwies die Stanton Foundation, eine von Frank Stanton, einem langjährigen Präsidenten des Columbia Broadcasting System, gegründete Privatstiftung – selbstverständlich unverbindlich – 4,75 Millionen Dollar auf das Konto der Wiki-Foundation, worauf im Gegenzug ein angeheuerter Redakteur nach Belieben Wiki-Artikel mit außen- und sicherheitspolitischen Themen im Sinne des Council of Foreign Relations umschreiben durfte. Derlei Usancen wären in Mitteleuropa, wo man so etwas wie Korruption überhaupt nicht kennt, und speziell in Österreich, wo die Korruptionsstaatsanwaltschaft praktisch arbeitslos ist, natürlich absolut undenkbar.
Unübersichtliche Hierarchie
In der für Außenstehende unübersichtlichen Hierarchie steht eine „Bürokraten“ genannte Elite an der Pyramidenspitze. Darunter amtieren „Administratoren“, „Sichter“, „Benutzeroberflächenbearbeiter“, „Zurücksetzer“, „Oversighter“, „Checkuser-Berechtigte“ sowie Schiedsgerichtsmitglieder, „Stewards“, „Bots“, „CAPTCHA-Ausgenommene“ und „OTRS-Mitglieder“. Angemeldete Nutzer mit Benutzerkonto dürfen alle Artikel bearbeiten, müssen aber auf Freischaltung der Bearbeitung warten. Nicht angemeldete Nutzer und Leser dürfen lesen und einige Artikel bearbeiten, müssen aber ebenfalls auf Freischaltung der Bearbeitung warten. Das Verfassen der nach Wiki-Muster aufgebauten Artikel nennt sich Wikifizieren, die Autoren müssen sich an Benimmregeln, genannt Wikiquette, halten.
Bis zum „Held der Wikipedia Erster Klasse“
Ebenso kindisch wie die Hierarchie nehmen sich die Belohnungsorden in „Wikilandia“ aus: Die „Mentoren-Plaketten“, welche die Nachwuchs-Ausbildner für die Betreuung ihrer „Mentees“ (also einer Art „Azubis“) erhalten, gibt es in den Stufen Bronze (10), Silber (25), Gold (50), Platin (100), Smaragd (250), Rubin (500) und Saphirblau (750). Für die höchsterreichbare pädagogische Stufe (1000) winkt – Symbol muss wohl Symbol sein – als allerbegehrteste Trophäe die „Mentorenplakette in Blattgrün“. Während die Zahlen der Bronze- und Silberträger noch in die Hunderte gehen, listet die Wiki-Ehrentafel nur 4 Smaragd-, 3 Rubin-, einen Saphir- und keinen einzigen Blattgrünträger auf. Allerdings wird an Benutzer, die sich in besonderer Weise um das Mentorenprogramm verdient machen, der „Order of Mentoring“ vergeben. Die Vergabe dieser – bisher an neun Personen verliehenen – Auszeichnung „folgt nicht quantitativen Maßstäben“. So winkte dem treuen Schreiber „Hardenacke“ für 15 ehrenamtliche Wiki-Jahre der „Wikiläumsverdienstorden in Rubin“. Je neun Wikipedianer tragen stolz den „Aton-Orden“ und den „Karl-August-von-Cohausen-Orden“ (Pate stand wohl der gleichnamige deutsche Berufsoffizier und provinzialrömische Archäologe) vor sich her. Ersterer wird verliehen für herausragende Leistungen in Ägyptologie, letzterer für herausragende Leistungen in römischer Militärgeschichte. Bisher sechs Wiki-Mitarbeiter verdienten sich den „En-hedu-ana“-Orden. Für Nicht-Alt-Orientalistiker: Namenspatin En-hedu-ana war die Tochter von Sargon von Akkad und bekleidete das Amt der Hohepriesterin des Mondgottes Nanna in der südmesopotamischen Stadt Ur. Der unermüdliche Wiki-Benutzer „WolfgangRieger“ wiederum erhielt für „in den klassischen Altertumswissenschaften erbrachte Leistungen“ den „Böckh-Mommsen-Orden“, offensichtlich benannt nach dem Fachbuch „Grundbegriffe Des Antiken Münzwesens Nach Böckh, Mommsen, Hultsch, Gräße Und Andern“. Aber damit nicht genug: WolfgangRieger wurde zudem sogar noch zum „Held der Wikipedia Erster Klasse“ geadelt.
Scherz muss sein
Wie alle Medienprojekte, an denen Menschen mitarbeiten, ist auch Wikipedia nicht frei von Fehlern. Dass erst nach Jahren korrigiert wurde, dass der Rhein nicht 1320 Kilometer, sondern nur 1230 Kilometer lang ist, gehört wohl zu den lässicheren lexikalischen Sünden.
Wenn es einem Scherzbold gelingt, Wikipedia hereinzulegen, kann das schon peinlich werden: Als Karl-Theodor zu Guttenberg 2009 deutscher Wirtschaftsminister wurde, erlaubte sich ein Amateur-User, zu den vielen in seinem Eintrag aufgelisteten Vornamen Karl-Theodor, Maria Nikolaus, Johann, Jacob, Philipp, Franz Joseph, Sylvester, Freiherr von und zu Guttenberg in Wiki – frei erfunden – den Namen Wilhelm einzufügen. Fast alle Medien von Bild bis Spiegel übernahmen die Ente. Besonders Spiegel online wurde übrigens mehrfach beim Abschreiben von Wiki erwischt, was durch die Übernahme der Beistrichfehler dokumentiert wurde.
Ethnische und ethnoreligiöse Diskretion in der deutschen Wiki
Anders als andere Wikipedien geht die deutsche Enzyklopädie mit der ethnischen bzw. ethno-religiösen Herkunft von Persönlichkeiten höchst diskret um. Der kürzlich verstorbene Schauspieler Charles Sidney Grodin (eigentlich Charles Grodinski) ist unter folgenden deutschen Kategorien gelistet: Theaterschauspieler, Theaterregisseur, Filmschauspieler, Autor, Literatur (Englisch und US), Drama, Sachliteratur, Pseudonym und US-Amerikaner. Kein Wort über seine Herkunft.
In der englischen Wikipedia stößt man hingegen gleich im ersten Absatz auf die Wurzeln des Stars: „Grodin was born in Pittsburgh, Pennsylvania, to Orthodox Jewish parents“ (Grodin wurde in Pittsburgh, Pennsylvanien von orthodoxden jüdischen Eltern geboren). Zusätzlich findet man ihn detailreich gleich in mehreren „Kategorien“, wie sie der deutschen Wiki fremd sind: „Jüdischer amerikanischer männlicher Schauspieler“, „Jüdischer amerikanischer Autor“, „Jüdischer Theaterdirektor“ und „Jüdisch-amerikanischer männlicher Komödiant“.
Auch die spanische Wiki macht kein Geheimnis daraus, dass Grodins Eltern „júdios ortodoxos“ (orthodoxe Juden) waren und man geht dort noch in weitere genealogische Details: „Su abuelo materno había sido un ruso judío inmigrante que provenía de una larga línea de rabinos“ (sein Großvater mütterlicherseits war ein eingewanderter russischer Jude, der einer langen Linie von Rabbinern entspross). Die spanische Wiki verfügt über ein eigenes Verzeichnis „Judíos de Estados Unidos“ (US-Juden), in dem auch Grodin zu finden ist.
Aus der portugiesischen Wiki erfährt man noch mehr Details: „Grodin era filho de pais judeus ortodoxos Lena e Theodore Grodin. Seu avô materno foi um imigrante judeu da Rússia, descendente de uma longa linhagem de rabinos.“ (Grodin war Sohn der orthodoxen Juden Lena und Theodore Grodin sowie mütterlicherseits Enkel eines aus Russland eingewanderten Sprosses aus einer langen Ahnenreihe von Rabbinern). Weiters steht zu lesen, dass er „Tem um irmão mais velho, Jack“, einen älteren Bruder namens Jack, hatte. Auch die portugiesische Wikipedia führt eine separate Liste der US-Juden, in der Grodin aufscheint.
Selbst in der russischen Wikipedia wird Grodins Ethnie nicht verschwiegen: „семья евреев ортодоксальных“ (orthodoxe jüdische Familie).
Bei der französischen Wikipedia war man bei GENIUS-Redaktionsschluss noch mit der Eintragsaktualisierung befasst. Man konnte den Hinweis lesen: „...Es handelt sich um einen Eintrag über eine kürzlich verstorbene Person und er ist noch nicht eingerichtet...“