Herbst Poesie

Ilse Aichinger (1921-2016)

Am 1. November hätte die Schriftstellerin ihren 100. Geburtstag gefeiert, am 11. November ist ihr fünfter Todestag. "Es gibt, gerade im frühen Herbst, Tage, an denen die Grenzen im Hinüberwechseln noch einmal sehr scharf werden", schreibt sie in ihrer Novelle "Seegeister", die auf hr2.de als Podcast abrufbar ist. Der Blogger Pirandello schreibt auf fischundfleisch: "Sie schrieb so, dass ihre eigene Sprache für sich eine höchste Intensität bekam und die Präzision des Instruments der Sprache allein durch Wortsetzung, durch Rythmik, durch Melodie und sorgfältige Auswahl erreicht wurde. Das ist ihr 'Geheimnis' bzw. ihr Können und ihre Meisterschaft, die nie davon abhängig war, verbrecherische Ideologien auch nur beim Namen zu nennen, um sie dadurch deutlich zu machen. ILSE AICHINGER war für sich und durch sich deutlich genug. Sie erkannte auch mit den Jahren, dass die VERKNAPPUNG der Wortmengen als dringlichstes Gebot vor ihrer Schriftstellerklause standen, dass WAHRHEITEN darauf warteten, mit den knappsten zur Verfügung stehenden Wörtern beschrieben zu werden und sie erkannte zunehmend die Gefahr des KONFORMISMUS in der Tätigkeit des Schreibens selbst, als auch in der Objektivierung des Stilmittels SPRACHE AN SICH."

Herbst von Christine Nyirady

Da stehst du mein alter Ahorn Baum

mit Kerben Rissen und Wunden bedeckt

Unbeugsam und stark

mit letzten goldnen Blättern die sich leise

im Mondlicht bewegen

An dich gelehnt umarme ich dich als

wärst du mein Geliebter und fühle

mein Sommer ist verbrannt und unter

schwarzer Asche begraben

Mein Nachtherz eine schwarze Rose

hat sich geöffnet und lässt sich von

der schrankenlosen Liebe des Herbstes

küssen

Später Herbst von Eva Meloun

Die Nachmittagssonne wird dünner, dunkle Schatten rollen aus den Ecken der Zimmer. Ich öffne die Türe in den letzten Raum, in den Raum, in dem ich alle möglichen Dinge aufhebe, wie Kleider, Werkzeug und Schachteln mit Inhalten, die ich schon lange vergessen habe. Ein unerwartet warmes, bernsteinfarbiges Licht erhellt das Zimmer, das aussieht, als wäre es gerade ausgeräumt worden. Jetzt steht hier nur mehr ein Tisch, ein Stuhl und ein Bett. Sonst nichts. Ein wenig bin ich erstaunt, dass meine Kleider nicht mehr da sind. Ich sehe aber, dass in einer Ecke noch Holzstücke und alte Papiere liegen.  

Zu den Fenstern hinschauend, sehe ich mich selbst wie in einem Spiegel vor dem Hintergrund der herbstlichen Dunkelheit. Mein Spiegelbild versucht mir etwas zu sagen, bewegt sich hin und her. Ein paar Schritte gehe ich dem Fenster entgegen, denn ich war ja gekommen um die Läden zu schließen. Hinter meinem Spiegelbild entdecke ich jetzt dunkel bevor ich das Fenster schließe, undeutlich andere Menschen von denen ich glaube, dass sie herein wollen. Ich gehe näher: wer sind diese Leute da draußen? Oder ist es nur einer? Nun drehen sie sich um, einer hebt leicht die Hand zum Gruß und nun verschwinden diese Menschen in der Dunkelheit des Abends.

Ich schaue noch in den Garten: Die Wiese, die Rosen und die Bäume versinken in graublauen Schleiern, nur die Spitzen der Birke, ihre Zweige und Blätter sind wie mit Gold überschüttet. Ein warmes wunderschönes Leuchten geht davon aus. Plötzlich erstrahlt der ganze weite Himmel hell und klar – ein Gruß aus der Ferne.

Herbst von Diana Wiedra

Das Laub ist gefallen

und du sahst die Bäume entblößt.

Nackt sahen sie schrecklich aus.

Sie glichen dem Tod.

Aber als du

sie betrachten wolltest,

begriffst du plötzlich,

dass dieses Bild

gar nicht so furchtbar war.

Du sahst,

wie verschieden sie sind.

Einige waren arm,

andere hingegen

selbst in ihrer Nacktheit noch reich.

Einige bogen sich unter dem Wind,

andere hielten stand.

Aber sie alle waren von gleicher Natur.

Und es wurde dir klar –

es ist auch die deine.