„Leistung muss angemessen entlohnt werden“, denken viele. Im Umkehrschluss gilt: Wer wenig leistet, hat keinen Anspruch auf hohe Entlohnung, folglich keinen Anspruch auf Wohlstand, bestenfalls auf Existenzminimum. Kausal verknüpft ist diese Prämisse mit der tradierten Überzeugung, dass messbare Leistungen als „Arbeit“ zu bezeichnen sind, „richtige Arbeit“ folglich nur „Lohnarbeit“ sein kann.
Was auch immer der Mensch in seiner Freizeit macht, hat somit nichts mit Arbeit zu tun. Das impliziert: Tätigkeiten, die nicht bezahlt werden, sind keine Arbeit. Nun aber droht mit Industrie 4.0 eine Welle der Massenarbeitslosigkeit. Ist das bedingungslose Grundeinkommen eine politisch und moralisch wünschenswerte Lösung für dieses Problem?
Dieser Artikel wurde im September 2018 vom Netzwerk Ethik auf ethik-heut.org publiziert.
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Die Argumente, die heute im Zusammenhang mit Industrie 4.0 bzw. Internet 4.0 vorgebracht werden, sind nicht neu. Schon 1985 haben Lieselotte Wohlgenannt und Herwig Büchele das Buch „Grundeinkommen ohne Arbeit“ veröffentlicht. Das aufkommende Computerzeitalter und die fortschreitende Automatisierung der Industrie gaben damals Anlass zu Befürchtungen, dass sich eine Zwei-Drittel-Gesellschaft formieren werde. Demnach werde die Arbeit immer weniger und ein Drittel der Menschen werde früher oder später ohne Arbeit bleiben. Ein Grundeinkommen ohne Arbeit, so die Autoren, sollte deshalb absehbare soziale Unruhen verhindern.
Auch heute sehen sowohl Gewerkschafter als auch Neoliberale das Grundeinkommen nur als Einkommenssicherung für den Fall der Arbeitslosigkeit. Paradoxerweise bewertet der Gewerkschaftsflügel das Grundeinkommen negativ, weil er die Arbeit mittlerweile als Menschenrecht des Arbeitnehmers sieht, während der neoliberale Wirtschaftsflügel offenbar dem durch Roboter ersetzten Arbeitslosen eine Grundsicherung zugesteht. Denn nur so können die immer weniger Besserverdiener und Spitzenverdiener ihren Reichtum ungestört genießen.
Wertvolle Leistungen in der Gesellschaft werden nicht bezahlt
An der Stelle ist die scheinbar banale Frage zu stellen: Was ist Arbeit? „Der Unterschied zwischen höherer und einfacher Arbeit beruht zum Teil auf bloßen Illusionen, oder wenigstens Unterschieden, die längst aufgehört haben real zu sein.“ Das Zitat findet sich in „Das Kapital“ von Karl Marx, das 1867 erschienen ist.
Die Lektüre dieses Buches ist objektiv – nicht nur dialektisch – betrachtet eine anstrengende Arbeit. Auch ohne Entlohnung eine lohnende Lektüre! Doch aus Sicht eines Gewerkschafters heute war das ein reines Privatvergnügen und keine Arbeit. So wie auch die 20-jährigen Studien, die Karl Marx als Vorarbeit für das Kapital für nötig erachtet hat, finanziert durch Zuwendungen seines Kampfgenossen Friedrich Engels und eine erkleckliche Erbschaft.
Ohne Zweifel haben Gewerkschafter in den vergangenen 150 Jahren für die Befreiung der Arbeiterklasse mehr getan, als Marx, Engels und Lenin. Doch wenn heute gewerkschaftlich organisierte Flugzeugpiloten oder Lokomotivführer mit Streiks das Leben hunderttausender unbeteiligter Menschen lahmlegen, so muss die Frage erlaubt sein, was das mit „Arbeitskampf“ zu tun hat. Indessen können zehn Prozent der Bevölkerung von ihren prekären Jobs nicht mehr leben. Das Präkariat hat offenbar keine Gewerkschaft und die Gewerkschaft die Zeichen der Zeit verschlafen.
Piloten und Lokführer sind ein beliebtes Beispiel für das traditionelle System, das die Höhe des Lohns mit Leistung und Verantwortung argumentiert. Ganzheitlich betrachtet ist die Diskrepanz der Gehälter zwischen Vorständen einer Fluggesellschaft, ihren Piloten und Mitarbeitern der Gepäckabfertigung nicht mit „Leistung“ argumentierbar.
Das Grundeinkommen könnte die Einkommensschere wieder schließen. Während die Arbeiter, die täglich tausende Koffer aus- und umladen, für einen Schandlohn arbeiten, während im gleichen Unternehmen Spitzengehälter mit Bonuszahlungen aufgefettet werden (nicht aufgrund der erbrachten Leistungen, sondern aufgrund der standesüblichen Verträge) – wenn das BGE nur diese Unsitte beseitigen würde, wäre es schon ein Erfolg.
Viele Menschen erbringen gesellschaftlich wichtige und wertvolle Leistungen, die nie bezahlt werden – und in diesem Sinne „wertlos“ sind: Kinderbetreuung, Jugendarbeit, Altenpflege, freiwillige Feuerwehr, Rettung, aber auch im kreativen Bereich überwiegt die unbezahlte Arbeit. Von 100 Künstlern kann vielleicht einer von seiner Arbeit leben, alle anderen müssen sich Nebenjobs suchen oder vegetieren am Existenzminimum.
Das bestehende Sozialsystem ist nicht zukunftsfähig
Im amtlichen Sozialbericht steht, dass 44 Prozent der österreichischen Bevölkerung ab 15 Jahren Freiwilligenarbeit leisten. Wenn man den Begriff Arbeit so weit fasst, kann man sagen: Jeder arbeitet, auch wer keinen Job hat, denn keiner will untätig herumhängen! Das aktive Vereinsleben ist ein Indikator dafür. Die Leistungen der Freiwilligen stehen außer Frage, aber der Staat verhindert, dass aus diesen Leistungen ein Anspruch auf Entgelt erwachsen könnte. Mit dem Grundeinkommen wäre dieser Anspruch abgegolten.
Ein zweites Indiz für die selbstverständliche Leistungsbereitschaft aller Menschen sind die Pensionisten. Es gibt keinen Rentner, der sich über Langeweile beschweren würde.
In Zusammenhang mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen ist es notwendig, über Verteilungsgerechtigkeit zu sprechen. Und die beginnt bei den Löhnen und der Beseitigung der sozial unverträglichen Lohnschere. Verteilungsgerechtigkeit bedeutet auch Umverteilung. Die übliche Form der Umverteilung läuft über das Steuersystem und über die Einrichtungen des Sozialstaates. Wenn Gewerkschafter ausgerechnet durch das Grundeinkommen den Sozialstaat in Gefahr sehen, so ist das absurd. Die Frage ist, ob der bisherige Sozialstaat fortgesetzt werden kann.
Die Frage nach der Finanzierbarkeit des BGE gehört zum Hauptargument der Kritiker. Doch diese Frage stellt sich auch ständig in Bezug auf das bestehende Sozialsystem. Insbesondere zum Problem der Überalterung (bei gleichzeitig zu erwartender höherer Arbeitslosigkeit) hat das bestehende Sozialsystem keine Antworten!
Für Deutschland hat der Ökonom Thomas Straubhaar, Autor des Buches „Radikal gerecht“, ausgerechnet, dass die gesamten Sozialleistungen des Landes (888 Milliarden Euro), umverteilt auf alle Bewohner, rund 1.000 Euro Grundeinkommen pro Kopf ermöglichen würden. Die Gegner – in dem Fall gehen die Linke Sahra Wagenknecht und der Neoliberale FAZ-Redakteur Rainer Hank Hand in Hand – meinen:
Entweder es kommt zu wenig heraus oder es überfordert den Staat. Tatsache ist: Auch Straubhaar gerät bei Detailfragen zur Finanzierung ins Schwimmen. Sicher ist, dass ein wesentlicher Faktor berücksichtigt werden muss: das Geld- und Währungssystem. Anders gesagt: das Grundeinkommen kann sich nur durchsetzen gemeinsam mit der Einführung eines parallelen Währungssystems.
Jenseits der ökonomischen Fragen müssen die moralischen Implikationen diskutiert werden: Beim Grundeinkommen geht es um mehr als die künftige Finanzierung des Sozialstaates und um mehr als die Ruhigstellung benachteiligter Gesellschaftsschichten. Es geht um die Würde des Menschen. Durch das bedingungslose Grundeinkommenwird diese Würde erstmals in der Geschichte einlösbar. Das Grundeinkommen setzt eine neue Währung voraus, und die heißt: Vertrauen.
Ideen zur Realisierung des Grundeinkommens
Mit der Einführung des Grundeinkommens sollte jeder Bürgerseine eigene Steuererklärung abgeben. Und hier wird es wirklich revolutionär: Die Steuern würden auf jede Form von Gewinn erhoben – bei Firmen ebenso wie bei Privatpersonen. Ob man bei einem privaten Unternehmen oder einer öffentlichen Institution arbeiter, man erhält keinen „Lohn“, sondern einen Gewinnanteil, den man entsprechend versteuert.
Mit Gewinnsteuern refinanziert der Staat nicht nur das Grundeinkommen, sondern auch seine Mitarbeiter, Infrastrukturkosten und internationale Verpflichtungen. Und Privatpersonen, also mündige, selbstständige Bürger, finanzieren sich mit ihrem gerechten Gewinnanteilen den Luxus, den sie sich jenseits des Grundeinkommens gönnen wollen.
Es wird keine Lohnnebenkosten mehr geben, denn Gesundheit wird im Grundeinkommen abgedeckt. Und Renten fallen weg. Wer in der Rente mehr als das Grundeinkommen haben will, muss selbst ansparen.
Damit bei Einführung des BGE nicht alle Betriebe und Ämter still stehen, kann in einer Übergangsphase ein solidarischer Grunddienst verordnet werden. Alle Unternehmen und Organisationen können zuerst 30 Stunden pro Woche beantragen. Diese Übergangsphase muss limitiert werden und sollte nach Zwischenstufen von 20 und 10 Stunden pro Woche idealer Weise nach einem Jahr beendet werden.
Ich bin neugierig, wie viele Vorstände nach der Übergangsphase höchst persönlich am Wochenende mit dem Staubsauger und Reinigungswagen durch ihre Bürohäuser laufen werden, weil keiner mehr bereit ist, diesen Job für sie zu bisherigen Konditionen zu erledigen. Spätestens dann müssen hochbezahlte Manager darüber nachdenken, wie hoch ein gerechter Gewinnanteil für jene sein soll, die dafür sorgen, dass alle Mitarbeiter in einem sauberen Ambiente arbeiten können.
Die Einführung des Grundeinkommens ist ein Systemwechsel. Jeder weiß, dass eine große Veränderung kommen muss, nur die Systemerhalter – egal ob in Regierung oder Opposition – wollen das nicht glauben.
Es könnte nach Einführung des Grundeinkommens zwei Wirtschaftskreisläufe geben: einen gewinnorientierten wie bisher, aber mit höherer Verteilungsgerechtigkeit. Und einen gemeinnützigen wie bisher, aber mit wesentlich mehr Privatinitiativen und damit besseren Dienstleistungen als durch die staatlichen Versorgungs-Organisationen, die natürlich weiterhin ihren Aufgaben (aber mit schlankerer Verwaltung) nachkommen werden.
Wer das für grundsätzlich nicht machbar hält, der sollte sich die Frage stellen: Warum sollte ausgerechnet im 21 Jahrhundert das Ende aller Systemwechsel – also die Endzeit – eingetreten sein?
Ergänzung 18.1.2022 - Am 19.04.2021 hat dier Wirktschaftskammer Österreich (WKÖ) ihre Position zumBGE in aller Kürze zusammengefasst: "unnötig, unfinanzierbar und schädlich". Natürlich darf in dem Pamphlet das Argument nicht fehlen: "Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist nicht finanzierbar". Sehr glaubwürdig in einer Zeit, in der das Finanzministerium 39 Milliarden über Nacht aus dem Ärmel schüttelt, um die Corona-Agenda zu finanzieren - wieviele Milliarden haben allein die bislang 130 Millionen Corona-Tests gekostet? Das Pamphlet liefert mir einen weiteren Grund, warum ich als Zwangsmitglied der WKO keine Beiträge mehr an diese Organisation zahle. Deshalb habe ich bereits am 25.5.2021 gesagt: WKO-Mitgliedsbeitrag: Es reicht!
Ergänzung 28.5.2024 - Langzeitstudie zu bedingungslosem Grundeinkommen endet. Tagesschau.de (27.05.2024) berichtet: „Nach drei Jahren endet eine großangelegte Studie zum bedingungslosen Grundeinkommen in Deutschland. In dieser Zeit haben die Teilnehmenden jeden Monat 1.200 Euro bekommen. Was macht das mit ihnen?“
Netzwerk Grundeinkommen
Mit der Gründung des österreichischen Netzwerkes Grundeinkommen am und sozialer Zusammenhalt - B.I.E.N. Austria 21. Oktober 2002 soll ein Diskussionsforum eingerichtet werden, um über offene Fragen und kontroversielle Aspekteins Gespräch zu kommen und entsprechende Forschung anzuregen; eine Lobby etabliert werden, die die Idee Grundeinkommen der konkreten Umsetzung näher bringen soll; ein Ort der Vernetzung mit anderen nationalen und internationalen Grundeinkommens-Netzwerken (v.a. mit BIEN - Basic Income Earth Network) geschaffen werden.
ABGE Akademie
Die ABGE Akademie ist eine Grundeinkommensbewegung, die sich auf zwei Beine stützt. Diese sind Grundeinkommen mit und ohne Geld. Geld ist ein instabiles Mittel für ein gesichertes Grundeinkommen, denn, sollte es einen Geldcrash geben, nutzt ein Grundeinkommen mit Geld wenig, um die Grundbedürfnisse der Menschen zu sichern. Die Akademie forscht deshalb nach Sinnwirtschaft, wo nicht das Wachstum und die Vollbeschäftigung im Vordergrund stehen, sondern die Aufgabe, den Menschen von sinnfreier Arbeit zu befreien. Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit sind uns in Wirtschaftsfragen ein wichtiges Anliegen, um ein BGE zu realisieren.
"Unser Ziel ist es, denn Lebensstandard zu steigern, die Lebensqualität zu verbessern und wir wollen dazu Mittel zur Sicherung des BGE für die Bevölkerung erforschen", so die Initiatoren der ABGE Akademie. Im Bundesvorstand der Organisation, die im August 2019 gegründet wurde, sind folgende Personen vertreten: Karl Dittrich, Miklos Szabo, Arno Sommer, Michael G. Purner. Hier das Programm im Detail.
Generation Grundeinkommen füreinander.jetzt
Die Generation Grundeinkommen aus Wien (füreinander.jetzt) hat ihr 5-Jahr-Jubiläum am 21. Jänner 2022 gefeiert. in Zeiten wie diesen online, das Video ist auf youtube abrufbar. Die Generation Grundeinkommen unter Leitung von Helmo Pape hat eine Studie vorgelegt, die zeigt, dass das BGE mit einem innovativen Steuermodell leicht finanzierbar ist. Hier Infomaterial der Gruppe zum Downlaod
+ Finanziert sich Österreich richtig? Ein Erklär-Video der Generation Grundeinkommen
ARGE Grundeinkommen
Die ARGE Grundeinkommen aus Linz hat ebenfalls ein Steuermodell entwickelt, dass einen Weg zur Finanzierung des Grundeinkommens aufzeigt. Das "Linzer Modell" hat Paul J. Ettl in dem Buch zusammengefasst: Überlegungen zum Grundeinkommen. BGE für ALLE? Auch für mich? Texte + Grafiken + Videos über das "Linzer Modell".
Das GRUNDEINKOMMEN
Leitung Paul Ettl, Autor des Linzer Modells zur möglichen Finanzierung des Grundeinkommens. Präsmissen: Grundeinkommen ist
allgemein: alle BürgerInnen, alle BewohnerInnen des betreffenden Landes müssen tatsächlich in den Genuss dieser Leistung kommen;
existenzsichernd: die zur Verfügung gestellte Summe soll ein bescheidenes, aber dem Standard der Gesellschaft entsprechendes Leben, die Teilhabe an allem, was in dieser Gesellschaft zu einem normalen Leben gehört, ermöglichen;
personenbezogen: jede Frau, jeder Mann, jedes Kind hat ein Recht auf Grundeinkommen. Nur so können Kontrollen im persönlichen Bereich vermieden werden und die Freiheit persönlicher Entscheidungen gewahrt bleiben;
bedingungslos soll das von uns geforderte Grundeinkommen deshalb sein, weil wir in einem Grundeinkommen ein BürgerInnenrecht sehen, das nicht von Bedingungen (Arbeitszwang Verpflichtung zu gemeinnütziger Tätigkeit geschlechter-rollenkonformes Verhalten etc) abhängig gemacht werden kann.
Die Arbeitsgruppe aus Linz hat bereits vier Bücher publiziert.
Originalwortlaut der Parlamentskorrespondenz Nr. 1223 vom 03.11.2022
Themenfelder:Soziales/Familie/WirtschaftFormat:Ausschusssitzungen des NationalratsStichworte:Nationalrat/Sozialausschuss/Volksbegehren/Grundeinkommen
Sozialausschuss: Experten halten bedingungsloses Grundeinkommen für nicht umsetzbar
Wien (PK) – Nicht nur in Österreich, auch in anderen Sozialstaaten wird in regelmäßigen Abständen darüber diskutiert, inwieweit es sinnvoll wäre, verschiedene Sozialleistungen durch ein bedingungsloses Grundeinkommen zu ersetzen. Ein solches Grundeinkommen könnte soziale Ungleichheit und Armut verringern, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, die Lebensfreude und die Arbeitsmotivation verbessern sowie Existenzängste abbauen, machen die Befürworter:innen geltend. Auf der anderen Seite wird mangelnde Treffsicherheit sowie die Gefahr einer "Hängematten"-Mentalität und einer Rückkehr in alte Geschlechterrollen kritisch ins Treffen geführt. Zudem bezweifeln Expert:innen die Finanzierbarkeit eines solchen Vorhabens.
Das Netzwerk Grundeinkommen hat die 2-stündige Sitzung online gestellt
Auch im heutigen Sozialausschuss des Nationalrats wurden diese argumentativen Trennlinien sichtbar. Zur Diskussion stand ein von 168.981 Personen unterzeichnetes Volksbegehren (1628 d.B.), das die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens zum Ziel hat. Alle Personen mit Hauptwohnsitz in Österreich sollen demnach ohne weitere Voraussetzung eine – in der Höhe noch auszuhandelnde – monatliche staatliche Unterstützung bekommen. Damit würde man der gesamten Bevölkerung "ein menschenwürdiges Dasein und eine echte Teilhabe an der Gesellschaft" ermöglichen, heißt es in der Begründung der Initiative.
Eine Chance auf Umsetzung hat das Volksbegehren allerdings nicht. Sowohl Abgeordnete als auch Experten äußerten sich im Rahmen eines Hearings skeptisch. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde den Sozialstaat eher schwächen als stärken und wäre nur durch massive Steuererhöhungen finanzierbar, so der einhellige Tenor. Sinnvoller wäre es den Experten zufolge, sich Gedanken über eine Weiterentwicklung bzw. effizientere Ausgestaltung des Sozialstaats zu machen. Welche Schritte vorrangig sind, darüber gingen die Meinungen allerdings auseinander.
Kommentar HTH: Wenn heute, im Jahre 3 nach Corona, "Experten" zitiert werden, so geht es immer um den Topos der Berufung auf höhere Autoritäten, die eine vorgegebene politische Linie, bestenfalls eine Doktrin, schlimmstenfalls eine Ideologie, stützen. Die redliche Diskussion von pro und contra findet in "Expertengesprächen" schon lange nciht mehr statt. Dass das BGE "den Sozialstaat" eher schwächen als stärken würde, ist tatsächlich wahr. Was dabei aber nicht gesagt wird: "der Sozialstaat" - das sind nicht die Mittel, die den sozial Schwachen zufließen, sondern an erster Stelle die Einrichtungen und Institutionen, die den Sozialstaat organisieren. Und diese Institutionen sind natürlich durch die Bank besetzt von parteinahen Mitarbeitern. Die "Schwächung" dieses Sozialstaates wäre tatsächlich im Interesse des BGE! Allein dieser Artikel, der vier Seiten lang die Positionen der Systemerhalter zitiert, um dann im Annex den Initiatoren des BGE-Volksbegehrens und Innovatoren des Systems gerade mal drei Absätze zu widmen, ist ein Beispiel dafür, was die "Repräsentanten" unserer Demokratie und somit auch des bestehenden Sozialstaates unter "Experten-Diskurs" verstehen. So wird natürlich auch das Vorurteil breit gewalzt:, dass das BGE nicht finanzierbar sei. (Ende Kommentar HTH)
Gleißner: Grundeinkommen wäre nur mit massiven Steuererhöhungen finanzierbar
Rolf Gleißner, Leiter der Abteilung Sozial- und Gesundheitspolitik der Wirtschaftskammer, zog jedenfalls gleich zu Beginn des Hearings einen etwaigen Mehrwert eines bedingungslosen Grundeinkommens in Zweifel. Österreich habe einen gut ausgebauten Sozialstaat, der Mindeststandards in Bezug auf die Erfüllung von Grundbedürfnissen gewährleiste, betonte er. Würden alle Personen, also auch jene, die keine Unterstützung brauchen, eine einheitliche staatliche Leistung bekommen, könnten besondere Bedürfnisse, etwa von Menschen mit Behinderungen, nicht mehr berücksichtigt werden. Auch Pensionist:innen mit 40 Arbeitsjahren würden wohl zu den Verlierer:innen zählen.
Gleißner gab außerdem zu bedenken, dass alle bisher vorliegenden Finanzierungsmodelle auf massiven Steuererhöhungen beruhten. Schließlich könne der Staat nur das verteilen, was er zur Verfügung habe. Dabei würde es seiner Ansicht nach, was die negativen Folgen betrifft, keinen Unterschied machen, ob man nun indirekte Steuern wie die Umsatzsteuer oder direkte Steuern wie die Einkommensteuer erhöhe. Im ersten Fall würden die Haushalte durch deutlich steigende Preise belastet, im zweiten Fall durch sinkende Einkommen infolge einer geringeren Arbeitsbereitschaft und einer Reduzierung der Erwerbsarbeit. Zudem dürfe man nicht vergessen, dass jede Steuererhöhung zu steuervermeidendem Verhalten – etwa Einkäufen im Ausland – führe. Folge könnte sein, dass es Österreich so gehen werde wie Griechenland in der Finanzkrise.
Was die Frage nach einer Stärkung des Sozialstaats betrifft, sprach sich Gleißner dafür aus, den Fokus weniger auf den Ausbau von Leistungen zu legen, sondern auf deren Finanzierbarkeit. Es brauche eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und verstärkte Arbeitsanreize.
Mum: Sozialstaat muss ausgeweitet werden
Ähnliche Befürchtungen wie Gleißner äußerte David Mum von der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA). Der Sozialstaat in Österreich sei nicht armutsfest, meinte er, die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens sei aber nicht die richtige Antwort. Dieses verspreche mehr, als es halten könnte. Überdies sei die Gesellschaft insgesamt auf Erwerbsarbeit angewiesen. Statt auf Freiwilligkeit zu setzen, wäre es seiner Ansicht nach zielführender, Arbeitsbedingungen und Bezahlung zu verbessern. Auch an der unterschiedlichen Bezahlung in verschiedenen Branchen oder dem Gender-Pay-Gap würde ein Grundeinkommen nichts ändern, gab Mum zu bedenken. Gleiches gelte wohl auch für die Aufteilung unbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen. Zudem verwies er auf die drohende Abhängigkeit von politischem Gutdünken.
Der Gewerkschaftsvertreter befürchtet darüber hinaus, dass bei Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens Geld für andere wichtige Bereiche wie die Pflege fehlen könnte. Gerade hier sieht er aber den größten Handlungsbedarf beim Ausbau des Sozialstaates. Es gehe weniger um Geld als um die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen. Mum machte sich aber auch für eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes sowie für eine Rückumwandlung der "Maximalsicherung" Sozialhilfe in eine Mindestsicherung stark.
Danhel: Familienarbeit bezahlen
Günter Danhel, ehemaliger Direktor des Instituts für Ehe und Familie (IEF), plädierte dafür, Familienarbeit wie beispielsweise Kindererziehung gerechter abzugelten. Er kann sich etwa vorstellen, analog zum Pflegegeld eine Geldleistung für die Betreuung von Kindern einzuführen. Derzeit werde in der Phase vor Aufnahme der Erwerbsarbeit zu sehr auf Sachleistungen und zu wenig auf Geldleistungen fokussiert, meinte er. Auch eine Vereinfachung des Steuersystems und ein steuerfreies Existenzminimum für jeden sind ihm ein Anliegen.
Was die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen betrifft, gab Danhel zu bedenken, dass jeder Mensch im Grunde auf ein "Tätigsein" angelegt sei und Erwerbsarbeit eine mehrfache Funktion habe. Sie sichere nicht nur die Existenz, sondern bringe auch Sinnstiftung und ermögliche gesellschaftliche Teilhabe und soziale Integration. Durch Arbeit werde ein Mensch zum Menschen. Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen würde man ein falsches Signal setzen, das sozialer Kälte, Individualisierung, Vereinzelung und einem "unsozialen Totalitarismus" Vorschub leisten könnte, so Danhel. Zudem würde die Abhängigkeit des Individuums vom Staat gefördert und Leistungsbewusstsein torpediert. Danhel kann sich überdies nicht vorstellen, wie ein Ausschleifen des Sozialversicherungsprinzips in Verbindung mit der Einführung einer Grundsicherung funktionieren soll.
Öllinger: Bedingungsloses Grundeinkommen ist einfache, aber falsche Antwort
Der langjährige Sozialsprecher der Grünen Karl Öllinger hob hervor, dass sich keine Partei so intensiv mit der Frage eines bedingungslosen Grundeinkommens auseinandergesetzt habe wie seine. Es sei eine interessante Debatte, meinte er, letztendlich sei man aber zum Schluss gekommen, dass eine Grundsicherung für bestimmte Lebenslagen zielführender sei. Schließlich wäre ein Grundeinkommen ein massiver Eingriff in das bestehende Sozialsystem, ohne dass sich etwas zugunsten der Ärmsten verbessern würde. Zudem stelle sich die Frage, wie das bestehende System wieder rückholbar wäre, sollte sich das Grundeinkommen als nicht so erfolgreich herausstellen wie erwartet.
Irritiert zeigte sich Öllinger auch darüber, dass das vorliegende Volksbegehren die Hürde von 100.000 Unterschriften für eine parlamentarische Behandlung übersprungen hat, ein Volksbegehren zur Erhöhung des Arbeitslosengeldes aber nicht. Vielleicht liege das daran, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen "eine sehr einfache Antwort" sei, führte er aus. Es sei aber sicher die falsche Antwort, um bestehende Defizite im Sozialstaat zu beheben.
Öllinger zufolge müsste ein Grundeinkommen, je nachdem welche Sozialleistungen gestrichen würden, zwischen 1.500 und 3.000 € betragen. Der hohe Finanzierungsbedarf hätte im Gegenzug aber wohl Kürzungen bei Bildung, Gesundheit und anderen wichtigen Staatsaufgaben zur Folge, wo eine Privatisierung von Leistungen drohe. Zudem hätten es Jugendliche und junge Erwachsene, die nach ihrer Ausbildung mehrere Jahre ohne Arbeitsdruck leben wollen, später extrem schwer, in das Arbeitsleben einzusteigen, wollten sie sich nicht mehr mit dem Grundeinkommen begnügen. Öllinger kann sich aber einen temporären Anspruch auf ein Grundeinkommen vorstellen, etwa in Form eines Bildungsurlaubs.
Lorenz: Grundeinkommen ist ineffizientes Werkzeug zur Armutsbekämpfung
Auch für den Volkswirtschaftsexperten Hanno Lorenz (Agenda Austria) wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen ein ineffizientes Werkzeug zur Armutsbekämpfung. Der österreichische Sozialstaat funktioniere insgesamt nicht schlecht, meinte er, auch wenn er in manchen Punkten verbesserungsfähig sei. Auch in der Corona-Krise habe er sich bewährt, schließlich seien die Haushaltseinkommen aufgrund staatlicher Hilfen mit 1% deutlich weniger zurückgegangen als die Wirtschaftsleistung mit 7%.
Diese Stabilisierungsfunktion des Sozialstaats, die bei Krisen wirksam wird, würde im Falle der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens wegfallen, warnte Lorenz. Zudem müsste man den Sozialstaat zwangsläufig abbauen, da mehr Menschen ein Grundeinkommen erhalten und dies finanziert werden müsste. "Was mache ich dann mit der Krankenversicherung oder mit Menschen mit Behinderung?" fragte der Experte. Auch für den Wirtschaftsstandort und die Wertschöpfung erwartet er negative Folgen, da die Menschen weniger arbeiten würden und es schon jetzt einen Arbeitskräftemangel gebe. Zielführender wäre es nach Meinung von Lorenz die derzeitige Komplexität des Sozialsystems zu vereinfachen und "Sprungstellen" abzubauen.
Bisherige Experimente nicht aussagekräftig
Weitgehend einig waren sich die Experten auch, dass die bisherigen Experimente in Bezug auf ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht besonders aussagekräftig sind. So sei ein Experiment in Finnland, wo Arbeitslose eine Unterstützung von 550 € erhielten, mangels messbarer Effekte wieder eingestellt worden, schilderte Gleißner. Mum gab zu bedenken, dass man mit Experimenten die Folgen eines allgemeinen Grundeinkommens nicht simulieren könne, weil die begleitend notwendigen Steuererhöhungen nicht mitsimuliert werden könnten. Danhel berichtete von einem Feldversuch in Namibia mit 200.000 Personen, bei dem sich herausgestellt habe, dass ein Teil des Geldes für Unternehmensgründungen eingesetzt wurde, wobei er die weitere Entwicklung nicht verfolgt habe.
Etwas abgewinnen konnten einige der Experten dem Vorschlag des Volksbegehrens, einen Bürger:innenrat zu sozialen Fragen – analog zum Klimarat – einzuberufen. Die Frage an die Bürger:innen dürfe sich aber nicht darauf beschränken, wie sie ein bedingungsloses Grundeinkommen ausgestalten würden, vielmehr müsste es darum gehen, insgesamt über die Erwartungen an den Sozialstaat zu diskutieren, hielten Mum und Öllinger fest. Demgegenüber zog Danhel die Repräsentativität eines Bürger:innenrats in Zweifel und forderte stattdessen eine Stärkung der direkten Demokratie.
Abgeordnete teilen Skepsis
Ablehnend zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens äußerten sich auch die Abgeordneten. So rechnet Laurenz Pöttinger (ÖVP) mit einer massiven Steuererhöhung zur Finanzierung des Vorhabens, was die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs gegenüber anderen Staaten schwächen würde. Seine Fraktionskollegin Bettina Zopf gab zu bedenken, dass man im Falle eines Grundeinkommens auf unterschiedliche Bedarfslagen keine Rücksicht nehmen könnte. Verena Nussbaum (SPÖ) kann sich nicht vorstellen, dass man die bestehenden Versicherungsleistungen einfach durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ersetzen könnte. Zudem fragt sie sich was passiert, würde dieses wieder abgeschafft. Alois Stöger (SPÖ) hob hervor, dass der Sozialstaat nicht nur aus Geldleistungen, sondern auch aus sozialen Dienstleistungen bestehe, die ebenso wichtig seien.
Seitens der FPÖ hielt Dagmar Belakowitsch fest, dass die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens bedeuten würde, den Sozialstaat abzuschaffen. Zudem würde ihr zufolge die Abhängigkeit vom Staat steigen und dadurch die Unfreiheit wachsen. Das befürchtet auch ihr Fraktionskollege Peter Wurm. Es handle sich zwar um ein "hehres Ansinnen", sagte er, real sei es aber nicht umsetzbar und auch aus ideologischen Gründen abzulehnen. Die FPÖ stehe für soziale Gerechtigkeit, aber auch dafür, dass sich Leistung lohnen müsse.
Grünen-Sozialsprecher Markus Koza machte geltend, dass organisierte Arbeit zentral für eine Gesellschaft sei und nicht nur eine sinnstiftende, sondern auch eine gesellschaftserhaltende Funktion habe. Mit einem Grundeinkommen würde man das derzeitige soziale System umdrehen: Das Grundeinkommen wäre die Basis und das Arbeitseinkommen das Zubrot. Das würde auch Auswirkungen auf das Lohnsystem haben. Koza und NEOS-Abgeordnete Fiona Fiedler glauben außerdem, dass sich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen geschlechterspezifische Rollenbilder verfestigen würden, was Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit betrifft. Positiv hob Koza hervor, dass Initiativen wie das vorliegende Volksbegehren die Politik zwingen würden, sich mit Lücken im Sozialstaat auseinanderzusetzen.
Die allgemeine Position der NEOS zum bedingungslosen Grundeinkommen fasste Gerald Locker zusammen. Die Gesellschaft habe die Verantwortung, auf jene zu schauen, die nicht selbst auf sich schauen können, betonte er. Jene, die auf sich selbst schauen können, hätten aber die Verantwortung, das zu tun.
Initiator:innen schlagen Einrichtung eines Bürger:innenrats vor
Für das Volksbegehren warben demgegenüber die Initiator:innen Klaus Sambor, Roswitha Minardi und Ingrid Farag. Der gut ausgebaute österreichische Sozialstaat trage nicht zur Abschaffung von Armut oder zur persönlichen Entfaltung und Freiheit aller Bürger:innen bei, machte Minardi geltend. Die Unterstützungen kämen nicht bei allen an, die sie benötigen. Oft herrsche Unwissenheit über Ansprüche, zudem würden Leistungen aus Scham nicht in Anspruch genommen. Folge sei, dass 2021 17,3% der Bevölkerung armutsgefährdet gewesen seien, wobei besonders ältere Frauen, Kinder, Alleinerzieher:innen und Langzeitarbeitslose betroffen sind. Dass Menschen nicht mehr arbeiten würden, wenn sie ein Grundeinkommen erhalten, glaubt Farag angesichts des breiten ehrenamtlichen Engagements in Österreich nicht.
Minardi und Farag schlugen die Einberufung eines Bürger:innenrats ähnlich dem Klimarat vor, in dem, mit wissenschaftlicher Begleitung, über Höhe, Finanzierung und Umsetzung des bedingungslosen Grundeinkommens beraten werden soll.
Sambor wies darauf hin, dass es bereits einige ausgearbeitete Grundeinkommensmodelle gebe, die ihm zufolge zeigen, dass die Finanzierbarkeit gegeben sei. Ziel sei es, mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens den Sozialstaat weiterzuentwickeln. Staatliche Leistungen wie Infrastruktur, Bildung und Gesundheit müssten weiter eine wichtige Staatsaufgabe bleiben. Auch solle das Grundeinkommen Erwerbsarbeit nicht ersetzen, es bietet seiner Meinung nach aber die Chance, vom Konsumdiktat wegzukommen. (Fortsetzung Sozialausschuss) gs
Buchtipps
Barbara Prainsack, Vom Wert des Menschen. Warum wir ein bedingungsloses Grundeinkommen brauchen.Antworten zur Zukunft der Arbeit und des Sozialsystems
Siehe auch Artikel auf pressetext.com (1.6.2021): Roadshow für bedingungsloses Grundeinkommen
Rutger Bregman, Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen
Prof. Dr. Joachim Weeber, Grundeinkommen. Eine ökonomische Betrachtung.
Über das Buch von Richard David Precht, "Freiheit für alle" schreibt Helmo Pape auf füreinander.jetzt
Mitte März erschien "Freiheit für alle" von R.D. Precht. Auf knapp 500 Seiten leitet der deutsche Philosoph Begründungen dafür her, dass wir, um unser Überleben als Spezies zu sichern, uns von einer Arbeits- und Konsumgesellschaft zu einer Sinngesellschaft entwickeln müssen. Diese Begründungen erscheinen als richtig und logisch aufeinander aufgebaut, wenn man folgender Aussage zustimmt: "Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde geboren (art. 1 UN Menschenrechtserklärung 1948)". Precht weist nach, dass dieser Artikel 1 durch unser Wirtschafts- und Rechtssystem unerfüllbar bleibt, wenn wir die Rollenbilder von Staat und Gesellschaft nicht ändern.
Mit der Auswertung von Schriften und Funden über vergangene Gesellschaften und tausenden Versuchen der Psychologie, der Soziologie und der Anthropologie rund um die Frage "Warum machen Menschen, was sie tun?" leitet der Autor seine Erkenntnis ab. Diese lautet: "Wir können überleben, wenn wir statt einer (Erwerbs)Arbeits- eine Sinngesellschaft werden". UND wir sind bereits dabei. Das bedingungslose Grundeinkommen ist für diese Übergangsphase ein wichtiger, ja unausweichlicher Zwischenschritt, der in seiner Radikalität herausfordert. Wie die Idee einen rettenden Fallschirmsprung zu wagen und seine Durchführung zwei verschiedene Sachen sind, sieht der Autor unsere Gesellschaft in folgender Situation. Alle wissen mehr oder weniger, was zu tun ist, aber alle warten darauf, dass es keine Option mehr gibt, das Warten fortzusetzen. Langfristig ist keine Veränderung die unrealistischste Vorstellung.
Die Enttäuschung, dass R.D.Precht dem Vorschlag Konsum von Waren und Dienstleistungen zu besteuern weniger Begeisterung schenkt als der Idee die Finanzwirtschaft dafür heranzuziehen, war nur gering, denn er liefert grundsätzlich ein sehr gut recherchiertes Buch, meiner Meinung nach das umfassendste, das zum Grundeinkommen in deutscher Sprache bis jetzt geschrieben wurde. Höchst lesenswert.