Dissidenten: Assange und Nawalny

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UPDATE 25. Juni 2024 - „Wikileaks-Gründer Julian Assang hat sich mit US-Justiz geeinigt und Großbritannien verlassen. Der Whistleblower will sich laut Gerichtsdokumenten teilweise schuldig bekennen, um einer weiteren Haft in den USA zu entgehen. Der Gerichtstermin findet am Mittwoch in einem US-Außengebiet statt. … Assange soll den Plänen zufolge bereits an diesem Mittwoch vor einem Gericht in einem entlegenen US-Außengebiet erscheinen: auf den Marianeninseln. Die Inselgruppe liegt im Westpazifik, nördlich von Assanges Heimat Australien, und steht unter Hoheitsgewalt der USA. Im Anschluss solle er nach Australien weiterreisen. US-Medien zufolge soll Assange zu gut fünf Jahren Haft verurteilt werden – die er aber bereits in Großbritannien verbüßt hat“, berichtet derStandard.at (25.6.24) SIEHE AUCH NZZ.ch (26.6.24)

UPDATE 20. Mai 2024 - „Julian Assange darf wieder hoffen: Der WikiLeaks-Gründer kann gegen seine drohende Auslieferung an die USA noch einmal Berufung einlegen. Der Londoner High Court gab dem Antrag des gebürtigen Australiers am Montag teilweise statt. Damit ist eine unmittelbare Überstellung des 52-Jährigen an die USA zunächst abgewendet“, berichtet ORF.at (20.5.24)

19. Februar 2024 - Die Schlagzeile "Biden: Putin für Tod von Nawalny verantwortlich" (ORF.at 16.2.2024) ließ nicht lange auf sich warten. Die Schlagzeile "Putin: Biden für Tod von Assange verantwortlich", wird noch lange auf sich warten lassen. Zumindest in den Medien "des Westens" (hier unter Anführungszeichen, weil der Begriff weder geografisch, noch politisch eine homogene Einheit bildet. Außerdem wird der Begriff immer öfter synonym mit "Nato-Staaten" verwendet, wodurch er für seriöse politische Auseinandersetzungen nicht mehr brauchbar ist.)

Dissidenten Assange Nawalny

Beide Schlagzeilen sind journalistisch fragwürdig, weil sie offensichtlich propagandistischen Intentionen der jeweiligen Seite folgen um der Gegenseite zu schaden. Aber sie sind sie philosophisch wahr, auch wenn Julian Assange (noch) nicht (physisch) hingerichtet wurde und, falls Nawalny nicht "ermordet" oder "exekutiert", sondern lediglich "fahrlässig getötet" wurde.

Trotz propagandistischer Hintergründe sind beide Schlagzeilen wahr, auch wenn die Tatsachen in ihrer ganzen Komplexität (Vorgeschichte, aktuelle Zusammenhänge, Zuständigkeiten, äußere Umstände, gesundheitliche Verfassung) niemals richtig (allumfassend und objektiv) geklärt bzw. dargestellt werden können. Die Wahrheit der Aussagen bezieht sich auf die Verantwortung für den jeweiligen Fall. (Dies ist eine moralphilosophische Beurteilung. ethos.at distanziert sich explizit von der Polit-Propaganda von Außenminister Schallenberg, der Russland attestiert "Natürlich ein mörderisches Regime" zu sein. ORF.at, 18.2.24

Wladimir Putin ist verantwortlich, dass Oppositionelle seines Landes (nicht nur Nawalny / Nawalnij ) massiv unterdrückt, aufgrund fadenscheiniger Vorwände inhaftiert und deren Tod in Kauf genommen wird. Die Verantwortung trifft Putin prinzipiell, auch wenn er im Einzelfall keinen "Auftrag" zum Mord (Nemzow, Politkowskaja) gegeben, oder auch nur "fahrlässige Tötung" zugelassen hat. Putin, der sich an christlichen Feiertagen gern in orthodoxen Kirchen zeigt, hat das Gebot "du sollst nicht töten" gebrochen. Es ist müßig, in dem Zusammenhang juristische Haarspalterei über Begriffe (Mord, Hinrichtung oder fahrlässige Tötung) zu betreiben.

Joe Biden ist verantwortlich, dass US-Behörden einen australischen Journalisten, der illegale US-Machenschaften aufgedeckt hat, für alle Zeiten hinter Gitter bringen wollen. Die Verantwortung trifft Biden prinzipiell, auch wenn viele Entwicklungen seine Vorgänger veranlasst oder zumindest nicht verhindert haben. Biden, der (so wie alle Präsidenten davor) sich und die USA als Garanten der Freiheit (nicht nur Amerikas, sondern weltweit), insbesondere der Meinungsfreiheit feiern lässt, der Amerika (so wie alle Präsidenten davor) als "Auserwähltes Land" (Obama: "A Promised Land) betrachtet, hat das Gebot "Du sollst kein falsches Zeugnis geben" gebrochen. Es ist müßig, in dem Zusammenhang juristische Haarspalterei über Begriffe (falsches Zeugnis, listige Täuschung, Lüge, Betrug) zu betreiben.

Putin ist der autoritäre Führer einer Oligarchie, Biden ist der willfährige Vollzieher einer Plutokratie. Mit echter Demokratie haben beide Regime nichts zu tun. Die minimalistische Auffassung von Demokratie, dass man frei wählen und die Meinung frei äußern dürfe, trifft auf beide Länder zu - genau so wie auch auf China, und die Länder der EU. Doch dieser Minimalkonsens kann nur bei oberflächlicher Beturteilung als "Definition" für Demokratie ausreichen. Wenn man nur betrachtet, welche Hürden unabhängigen Kandidaten hier wie dort errichtet werden, um überhaupt in die Nähe einer wählbaren Position zu gelangen, so fällt mir kein Land ein, das man derzeit als wahre Demokratie bezeichnen könnte.

Aus Sicht von Karl Popper gab es zu Beginn des kalten Krieges zwei politische Systeme: 1) offene Gesellschaft = Demokratie + Kapitalismus; 2) geschlossene Gesellschaft = Diktatur + Kommunismus. 35 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs haben sich die Systeme - für Karl Popper nicht vorhersehbar - angenähert: Amerika ist heute eine geschlossene Demokratie, Russland ist eine offene Diktatur.

In der geschlossenen Demokratie USA kann man sich einem von zwei politischen Lagern anschließen, muss aus einer reichen, besser noch superreichen Familie stammen, um eine Finanzierung für den "Wahlkampf" aufstellen zu können und für eine entscheidende Position "wählbar" zu werden. Wähler sind nicht automatisch alle Staatsbürger ab einem gewissen Alter, sondern nur jene, die sich vor einer Wahl registrieren lassen, und dabei schon ihre präferierte Partei bekannt geben, was für die dubiosen Vorwahlen von Bedeutung ist. Für US-Wahlen werden mittlerweile Milliarden Dollar ausgegeben, um den Schein einer Demokratie zu wahren. Profiteure sind Lobbyisten, Werbeagenturen und Medien, die logischer Weise nicht das geringste Interesse haben, an diesem geschlossenen System der Eliten, an dieser geschlossenen Demokratie etwas zu ändern.

In der offenen Diktatur Russland gibt es viele Parteien, aber nur eine, die entscheidet. Es gibt seit 24 Jahren einen Präsidenten, dessen Partei alle Wahlen gewinnt. Gegner werden zugelassen, aber alle Wähler wissen schon vorher, wer wie immer die Wahl gewinnen wird. Insofern ist eine russische Wahl offener als eine amerikanische. Russen selbst bezeichnen ihr Regime als autoritär. Es ist kein prinzipieller Unterschied, sondern nur ein gradueller, Russland des Jahres 2024 als Diktatur zu bezeichnen, als offene Diktatur genau genommen. (Offenheit im Sinnen Glasnost aus der Zeit von Gorbatschow: alles darf offen disktiert werden, so lange sich nichts ändert, anders gesagt, damit sich nichts ändert.)

Den russischen Wählern sind offenbar autoritäre Verhältnisse lieber, in denen die Machtverhältnisse offen zur Schau gestellt werden, als Demokratien, die mit Millionenaufwand verschleiern, dass es in Wahrheit keinen freien, offenen Zugang zu Wahlen gibt. Russland wurde oft als "unterentwickelte Demokratie" bezeichnet. Abgesehen von der Selbstgefälligkeit der Politiker, die solche Urteile fällen und der Medien, die sie verbreiten, müsste man in Analogie dazu die USA als "degenerierte Demokratie" bezeichnen. Den Begriff "entartet" darf man nicht verwenden.

Egal, wie Putin und Biden in ihre Positionen gekommen sind, egal, wie sie sich an der Macht halten - für ihr Handeln (und das impliziert ihre Entscheidungen, wie auch die Machenschaften ihrer Handlanger) sind sie verantwortlich, denn Verantwortung kann man nicht delegieren.

Nawalny und Assange sind radikale Kritiker politischer Systems, und somit für die Repräsentanten dieser Systeme Verräter. Die jeweilige Gegenseite negiert diese Einschätzung nicht, bewertet diese nur anders, und zwar als Whistleblower. Verräter zu Whistleblower verhalten sich so wie Terroristen zu Freiheitskämpfern. Aus ethischer Sicht sind Nawalny und Assange weder Verräter, noch Terroristen. Sie haben System-Fehler offen gelegt und damit so manchen verantwortlichen Politiker demaskiert. Das waren und sind - unabhängig vom System, das sie kritisieren und demaskieren, wichtige Beiträge für eine offene Gesellschaft!

Daran muss man heute erinnern, da viele Systemkritiker des Westens dazu neigen, Putin als ihren Verbündeten, ja fast schon als Messias zu betrachten. Umso mehr nach dem so genannten Interview, das Tucker Carlson mit Putin geführt hat. Da hat Putin doch tatsächlich Deutschlands Regierung als inkompetent bezeichnet - eine Erkenntnis, zu der wir ohne Putin nicht gelangen konnten? Er will Polen usw nicht angreifen. Danke, gut so. Aber wollte er das nicht auch in Bezug auf die Ukraine? Und wenn die Nato weiter in der Ukraine bleibt, dann folgt darauf der Weltkrieg! Das ist keine nüchterne Analyse, eines Politologen. Ausgesprochen vom absoluten Herrscher Russlands impliziert das eine unverblümte Drohung. (Das gleiche gilt für die "Befürchtung" des UNO-Generalsekretärs Antonio Guterres, der im Februar 2023 meinte, "das Risiko eines Atomkriegs" sei so hoch wie seit Jahrzehnten nicht.) Dazu kommt der Interimspräsident Medwedjew, der offenbar gerne zündelt.

Wie ist das "Interview" einzuordnen? (Interview unter Anführungszeichen, weil es sich selbstverständlich um eine Inszenierung handelt, bei der Putin der Hauptdarsteller ist und der Journalist zum Statisten degradiert wird.) Tucker Carlson, bei der US-Propaganda medienwirksam in Ungnade gefallen, findet umgehend Anschluss an Russlands Propaganda-Apparat und "bekommt ein Interview" mit Präsident Putin höchst persönlich. In wenigen Tagen erreicht er damit 100 Millionen Views (wer hat diese Zahl je geprüft?). Im Vergleich zu einer RS-20 eine ziemlich günstige, strategisch offenbar weit überlegene Interkontinentalrakete.

ethos.at hat hundertfach die Methoden der Demokratie-Demontage in Ö, DE und der EU aufgedeckt und kritisch kommentiert, aber dabei nicht übersehen, dass Putin durch Verfassungstricks und Ausschaltung der Opposition bis an sein Lebensende autoritär regieren will. Putin und Selenskij haben letztlich den gleichen Feind: die innere Korruption. Und in dem Punkt - leider nur in dem Punkt - sind sie Verbündete der EU und der USA.


Bert Ehgartner, einer der profundesten Wissenschaftsjournalisten, Autor des Buches "Was Sie schon immer über das Impfen wissen wollten" und von Anfang an Kritiker der Corona-Maßnahmen (häufig zitiert auch auf ethos.at) hat auf FB ein Video online gestellt, in dem sich Nawalny als Haßredner gegen Tschetschenen inszenierte (vergleichbar mit Jan Böhmermann).

Ehgarnter kommentiert das Video am 20.2.24: "Eine Seite Navalnys, die in den Nachrufen ausgespart bleibt. (Der Inhalt des Werbevideos für seine Partei ist auch ohne Russisch-Kenntnisse leicht verständlich)."

22.2.24 via FB Hubert Thurnhofer antwortet:
Ich kapier nicht, warum Intellektuelle, die in EU-Europa in vg Jahren verschiedenste Formen der Unterdrückung erlebt haben, so viel Energie darauf Verschwenden, einen russischen Oppositionellen madig zu machen. Und dafür muss man nicht einmal mehr RUSSISCH sprechen?? Sapere aude.

Report 24 hat sich verstiegen, aus dem Video abzuleiten, Nawlany sie "Neonazi" und "Schwerverbrecher". Sowohl aus juristischer, als auch aus politischer Sicht zeugen diese Unterstellung von politischer Ignoranz, historischer Inkompetenz und moralischer Impertinenz, insbesondere in Anbetracht dessen, dass derzeit ein "Schwerverbrecher" in London psychisch gefoltert und demnächst an Washington ausgeliefert werden soll.

Das Video von Nawalny ist nicht zu entschuldigen. Es ist allerdings mindestens 20 Jahre alt, als muslimische Terroristen (vorwiegend aus Tschetschenien) Russland terrorisierten. Da entdecken UNSERE "wir schaffen das"-Kritiker plötzlich ihre Liebe zu den "Migranten".

Das Video ist aus einer Zeit, wo wohl auch Putin den geschmacklosen Inhalt unterschrieben hätte. Putin hat das Problem auf SEINE Weise gelöst: Er sorgte dafür, dass der oberste Terrorist zum Präsidenten Tschetscheniens wurde. Das ist er bis heute! Damit die Recherche leichter fällt: sein Name ist Ramsan Achmatowitsch Kadyrow (russisch Рамзан Ахматович Кадыров).

Putin kritisiert die Flachwurzler der EU. Das gefällt uns. Deshalb ist Putin aber noch lange kein Vorbild für eine bessere Demokratie. Was ER unter Demokratie versteht, das exekutieren seine Beamten - egal ob im Russischen Kulturinstitut in Wien, in einem Moskauer Gerichtssaal oder in einem Sibirischen Straflager. Warum hat das noch niemand in der aktuellen Diskussion kritisiert?

Weiter "gravierender" Vorwurf gegen Nawalny: er HÄTTE gern ein paar Mille für seine Oppositionsarbeit vom "Westen" genommen. Nette Ablenkung davon, dass die echten BIG Player TÄGLICH Millionen dafür ausgeben, uns alle mit Propaganda zu verblöden. UND es funktioniert! Immer wieder. Und immer wieder fallen sogar die intelligentesten darauf rein!

Für alle, die der Meinung sind, es reicht, Russland zu verstehen ohne Russisch zu sprechen: Informiert euch auf Original-Quellen mithilfe von KI-Translator, z.B. auf der Webseite von navalny.com. Da wird man wohl wenig über Putin finden, was WIR nicht genauso gut über VdB, Nehammer, Steinmeier, Scholz, van der Leyen & Co sagen könnten!