"Es gibt kein Recht auf Gerechtigkeit", ist einer der Leitsätze des Buches Moral 4.0. Diese Aussage ist keine Kapitulation eines Philosophen vor der herrschenden Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft, sondern eine phänomenologische Beschreibung unseres Rechtssystem. Dieses billigt zwar jedem Angeklagten das Recht auf ein Verfahren mit einem qualifizierten Verteidiger zu, aber diese formalen Grundlagen unseres Rechtssystem sind weit weg davon, ein gerechtes Urteil zu gewährleisten. Ganz im Gegenteil, der Begriff "Gerechtigkeit" kommt in unseren Gesetzen nicht vor. Sogar im Sachregister der österreichischen Bundesverfassung sucht man nach diesem Begriff vergeblich.
Phänomene sind keine Gesetze, die in Stein gemeißelt sind. Sie dominieren zwar die Wirklichkeit und den Zeitgeist, aber sie sind wandelbar. So ist es möglich, dass ein ehemaliger Richter seiner Biografie den Titel gibt: "Wege zur Gerechtigkeit". Der Autor ist Martin Wabl, er hat uns seine Lebenserinnerungen und seine Weisheiten zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 2015 geschenkt. Geboren als Sohn eines Lehrer-Ehepaares, ist Martin in der Nachkriegszeit mit den Werten der Nächstenliebe und Gerechtigkeit aufgewachsen. Der Vater war Volksschuldirektor und später auch sozialistischer Bürgermeister von Kalsdorf.
Da er "ganz gut gelernt" hat, kam er ins Gymnasium nach Liebenau. Es folgten nicht seine schönsten Jahre im Internat, das man damals als "Bundeserziehungsanstalt" bezeichnete. Und diesem Namen machte die Anstalt offenbar alle Ehre: "Ich erinnere mich noch an den kasernenartigen Drill und den Ton, sodass ich, was Ordnung betrifft, heute noch ungemein abwehrend bin. Denn Ordnung ist dort bis zum Exzess verabreicht worden", so der Autor.
Dem Schritt zum Jusstudium geht ein Test beim Arbeitsamt voraus, wo ihm gesagt wurde: "Wenn man für nichts besonders begabt ist, dann studiert man Jus. Was aber bei mir nicht der ausschlaggebende Grund gewesen war, sondern eher die Meinung meines Vaters und sein Wunsch. [...] Auch Bekannte und Freunde haben Jus studiert, also hat sich das auch bei mir fast automatisch ergeben." In den nächsten Jahren hat der Student "irrsinnig viel gestrebert" und wurde bereits am 1.1.1972, also mit 27 Jahren, zum Richter ernannt.
Ein Jahr später wurde der Richter, der nie einen Talar getragen hat, erstmals auffällig, und zwar mit einem Artikel in der "Kleinen Zeitung, in dem er forderte, "dass der Richter mehr Sozialarbeiter sein soll und weniger Amtsträger. [...] Die Aufregung in der Richterschaft war groß. Ein paar haben ein Disziplinarverfahren angestrengt." So erklärt sich auch der Untertitel von Martin Wabls Lebenserinnerungen: "Geschichten aus dem Leben eines christlichen Sozialarbeiters".
Die folgende Strafversetzung von Graz nach Fürstenfeld hat er als Glück empfunden, denn hier lernte er seine zweite Frau kennen, mit der er eine Familie gründete und drei Kinder großzog. In Fürstenfeld hat er seine Wurzeln geschlagen, er war hier nicht nur Strafrichter, sondern auch Gemeinderat, deshalb trat er des SPÖ bei, später war er SPÖ-Abgeordneter im Bundesrat und im Steirischen Landtag, wo er Mitte der 1990er Jahren zu den Grünen wechselte. Zuletzt kandidierte er bei der Nationalratswahl 2013 auf der Liste der Christlichen Partei Österreichs (CPÖ). Derzeit ist er noch aktiv als Pfarrgemeinderat und sozial in vielen Bereichen engagiert. Dazu gehört auch sein Kampf für mehr Gerechtigkeit, insbesondere bei den Pensionen und bei den Löhnen. Aber auchder Katholischen Kirche und deren Würdenträgern liest er gerne die Leviten, wenn er die Abschaffung des Zölibats und die Zulassung von Frauen zur Priesterweihe fordert.
1998 hat Wabl den Grünen vorgeschlagen, einen eigenen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten zu nominieren. Dafür hat er zwar Zustimmung aber keine Zweidrittelmehrheit gefunden. Deshalb ist Wabl 1998 erstmals als unabhängiger Kandidat angetreten, ebenso wie bei den folgenden Bundespräsidentschaftswahlen 2004, 2010 und 2016. Wie die Kleine Zeitung berichtet, will er es auch 2022 noch einmal wissen.