"Kaum hat der Mensch den ersten Atemzug getan, begegnet er der Macht." Mit dieser Ansage eröffnet die Autorin das erste Kapitel ihres Buches, das 2009 erschienen ist. Damit tritt sie nicht in die Fußstapfen von Karl Popper ("Alles Leben ist Problemlösen") oder Martin Buber ("Alles Leben ist Begegnung"), die ganzheitlich, philosophisch die Welt erklären, sondern eher in die reduktionistische Tradition der Einzelwissenschaften nach dem Motto "Alles Leben ist Chemie" - von der Geburt bis zum Tode.
Im ersten Teil thematisiert Christine Bauer-Jelinek die Machtspiele zwischen Männer und Frauen bis zur Enttabuisierung der Sexualität durch den Kinsey-Report. Dagegen zeigte sich in den 1990er Jahren eine Art Tabuisierung der Macht, "über die Machtmechanismen wurde kaum wissenschaftlich gearbeitet". Die Ursachen dafür verortet die Autorin in der 68er-Bewegung mit ihrem Spruch "Keine Macht für Niemand", und sogar noch früher in der Nachkriegszeit. Sie zitiert Peter Schwarz (Die gezähmten Deutschen): "Deutschland litt an seiner Machtbesessenheit, dann fiel es für 50 Jahre in die Machtvergessenheit". Bauer-Jelinek will die Macht wieder aus der Tabuzone holen und beschäftigt sich intensiv mit den Quellen der Macht (Materie, Herkunft, Mehrheit, Wissen, Gefühle, Funktionen/Positionen, Kontakte/Netzwerke, Überzeugungen) sowie Schauplätzen der Macht (Haus/Familie, Markt/Wirtschaft, Burg/Politik, Tempel/Religion).
Der zweite Teil zielt auf den Kern des Themas mit der Frage: "Was ist Macht?" "Der Begriff 'Macht' hat in der deutschen Sprache [...] seine Wurzel in dem Zeitwort 'vermögen', das in der Bedeutung von 'können' zu verstehen ist. Macht haben bedeutet also, über die Möglichkeit zum Handeln zu verfügen. Entgegen vielen Behauptungen kommt 'Macht' also nicht von 'machen', sondern von 'können'. Offensichtlich gehört zum Themenkreis der Macht mehr, als bloß 'etwas zu tun'". Laut Max Weber bedeutet Macht "jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen" und laut Hannah Arendt entspricht Macht "der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln". So gelangt Bauer-Jelinek zu ihrer Definition: "Macht ist das Vermögen, einen Willen gegen einen Widerstand durchzusetzen."
Heute beruht dieses Vermögen meistens auf den finanziellen Möglichkeiten einer Person oder eines Unternehmens. Je mehr Mittel zur Verfügung stehen, umso größer die Macht. Macht bedeutet im Spiel der Kräfte innerhalb der wirtschaftlichen Prozesse meist den Sieg des Stärkeren. Vermögen im Sinne von Fähigkeit, Können (Skills, Innovationen) sind nur selten ausschlaggebend, der Slogan "der Schnellere schlägt den Stärkeren" findet in der wirtschaftlichen Praxis nur selten Bestätigung. Wenn die Macht (=finanziellen Möglichkeiten) des Stärkeren jedoch auf einen Gegner in der Politik los gelassen wird, dann endet dies in vielen Fällen im Machtmissbrauch. Lobbying ist die offene, aber nur schwach legitimierte Form, Bestechung die verdeckte Form dieses Machtmissbrauches.
Das Kapitel "Machtmissbrauch" bleibt angesichts der Brisanz des Themas ziemlich oberflächlich: "Jeder, der Macht hat, kann diese missbrauchen, denn es gibt keinen sicheren Schutz davor. [....] Machtmissbrauch ist somit kein festgelegter 'Tatbestand', sondern nur durch die Bewertung aller Umstände zu begreifen und durch die Legitimation zu beurteilen." Immerhin nähert sich Bauer-Jelinek einer Definition an, wenn sie schreibt: "Machtmissbrauch liegt vor, wenn ein Machtverhältnis entgegen seiner Bestimmung ausgeübt wird, es ohne Übereinkunft errichtet, verändert oder aufrechterhalten wird, sich jemand in der Ausübung der Macht selbst schädigt." Da Bauer-Jelinek Psychotherapeutin ist, muss die Frage erlaubt sein, was die Autorin verdrängt hat, dass sie an der Stelle die häufigste Form des Machtmissbrauches vergessen hat: die absichtliche Schädigung anderer Personen oder Organisationen, sowie die direkte und indirekte Selbstbereicherung!
An den Anfang jedes Abschnittes stellt Bauer-Jelinek ein Zitat, das in Form und Inhalt die jeweiligen Teile vorweg nimmt. Teil 1 ein Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach: "Der Satz 'Der Klügere gibt nach' bringt die Dummen an die Macht." Teil 2 ein Definitions-Versuch von Michel Foucault: "Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht." Teil 3 ein Bonmot von Abraham Lincoln: "Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, dann gib ihm Macht". Das ist der schwächste Teil des Buches, wo die gut gegliederte Analyse des zweiten Teils zum Ratgeber degradiert, der nicht mehr ist, als eine Interpretation des Lincoln-Zitats. "Wie Sie Ihre Ziele durchsetzen ohne Ihre Werte zu verraten", ist der Untertitel des Buches, dessen Versprechen im letzten Teil des Buches eingelöst werden soll, der aber nicht viel mehr enthält, als Grundwissen der Krisenkommunikation.
Im Rückblick auf fast drei Jahre Corona-Herrschaft hat eine Aussage von Christine Bauer-Jelinek, die 2009 noch als Common Sense vorausgesetzt werden konnte, heute an Gewicht und Bedeutung gewonnen. Man möge das Zitat allen Mächtigen unseres Landes - in Regierungen und Oppositionen, in Exekutive, Legislative und Judikatur - ins Stammbuch schreiben: "Die Macht des Wissens wird zur Gewalt, wenn ein Absolutheitsanspruch errichtet wird, wenn geltende Auffassungen nicht mehr hinterfragt werden dürfen und die Verbreitung von kontroversen Erkenntnissen verhindert und geahndet wird."