Zeilinger Anton: Einsteins Spuk

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Quantenphysik oder Quantenmystik?

11.11.2022 - Der österreichische Quantenphysiker Anton Zeilinger bekommt am 10. Dezember 2022 den Nobelpreis überreicht. Sein Buch "Einsteins Spuk. Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik" ist 2005 erschienen - in der schnelllebigen Zeit des 21. Jahrhunderts hat es jedoch mehr als antiquarischen Wert. Es kann immer noch als Einführung zur Quantenphysik und Quantenmechanik gelesen werden. Es besteht aus einem didaktischen Teil und einem theoretischen. Beide Teile sind miteinander verschränkt, und erhalten daher ihre Bedeutung erst dadurch, das man sie gleichzeitig misst. Das Messinstrument ist meine (technisch dilettierende, aber sprachphilosophisch einigermaßen geschulte) Urteilskraft.

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Anton Zeilinger, Foto von Jaqueline Godany CC BY 4.0

Jede Didaktik dient zur Einführung von Schülern (discipuli) in eine Lehre bzw Denkschule (disciplina) - auf gut Deutsch: zur Disziplinierung. Die Musterschüler in Anton Zeilingers Buch sind Studierende der Physik und heißen Alice und Bob. Was sie lernen (wollen oder müssen?), bedarf echter Disziplin, denn es widerspricht dem "Hausverstand" ebenso wie dem, was sie bislang in klassischen Physikvorlesungen gelernt haben. Die Quantenphysik ist laut Zeilinger eine Kopernikanische Wende, allerdings ohne exakte Kenntnisse davon, welches Weltbild auf diese Wende folgen soll.

Verschärfend (für die Disziplinierungsmaßnahmen oder für das künftige Weltbild?) ist, dass der sogenannte "lokale Realismus", aus Sicht der Quantenphysik "nicht haltbar" (337) ist. Die Lokale Realismus Theorie LKR besagt, "dass unsere Beobachtungsergebnisse einer unabhängig von der Beobachtung existierenden Wirklichkeit entsprechen, in der es keine Fernwirkung schneller als mit Lichtgeschwindigkeit gibt" (341). Diese Annahme ist immerhin noch Bestandteil von Einsteins Weltanschauung und somit seiner Relativitätstheorie. Das Bell'sche Theorem sagt jedoch, "dass verschränkte Zustände, und damit die Quantenphysik" (341) dieser Weltsicht widersprechen.

Will die Quantenphysik Einstein vom Sockel stürzen?

"Nach der Quantenphysik können Teilchen so eng miteinander zusammenhängen, dass die Messung an einem den Zustand des anderen sofort beeinflusst." (342). Das nennen die Quantenphysiker Verschränkung. Die verschränkten Quanten A und B ("Quanten-Zwillinge"), die von einer Quelle gleichzeitig an zwei Messgeräte geschickt werden, haben vor ihrer Messung (laut Doktrin) keine eigenen Eigenschaften. Doch bei gleicher Einstellung der Messgeräte ergeben beide immer die gleiche Eigenschaft. Daraus folgt (laut Doktrin), dass sich diese beiden Quantenteilchen "irgendwie verständigen" müssen, und zwar schneller, als ein Messgerät das Ergebnis dem anderen Messgerät senden könnte. Diese "Verständigung" bzw Quantenverschränkung muss schneller als die Lichtgeschwindigkeit sein, das bezeichnete Einstein als "Spuk".

Der Professor, im Buch trägt er den bedeutungsschwangeren Namen Quantinger, doziert: "Wichtig ist nun, dass Alice und Bobs Zwillingsteilchen alle paarweise verschränkt sind. Sie sind also durch diese 'spukhafte Fernwirkung', die Einstein nicht mochte, miteinander verbunden, egal, wie weit sie voneinander getrennt sind. Diese Verbindung ist der Quantenkanal". (99)

Und weiter: "Dieses Verfahren der Verschränkung zweier Teilchen ist sehr schwer zu verstehen, weil es für Menschen ausgesprochen schwierig ist, sich Objekte vorzustellen, die keine eigenen Merkmale haben. Aber das ist der springende Punkt der Verschränkung: Keines der miteinander verschränkten Teilchen hat besondere, ganz persönliche Eigenschaften, aber sollten sie doch gemessen werden, stellen sie sich als identisch heraus. Genau das ist das Eigenartige an der Verschränkung, dass die Messung, die Beobachtung, an einem der beiden Teilchen die beobachtete Eigenschaft erst erzeugt. Sie war vorher nicht da." (100)

Um das Weltbild der Quantenphysik, die gar kein eigenes Weltbild hat, zu vervollständigen, muss hier noch die Heisenberg'sche Unschärferelation erklärt werden, wonach "wir nie gleichzeitig den Ort eines Objekts kennen können und seine Geschwindigkeit." (74) "Diese Eigenschaft von zwei einander als präzise ausschließenden Größen nennt man Komplementarität. Diese ist eine fundamentale Eigenschaft aller physikalischen Systeme, und es gilt für alle Grüßen oder Eigenschaften, die man messen kann." (85) Daraus folgt auch, "dass es unmöglich ist, alle in einem System enthaltenen Informationen durch Messung zu bestimmen." (91)

Wir kennen nun das theoretische Gerüst der Quantenphysik: Bell'sches Theorem, Heisenberg'sche Unschärfebeziehung, Lokaler Realismus, und die Verschränkung. Der Begriff des Quants (z.B. Photon) wurde offenbar erweitert: "Ursprünglich: Jedes atomare oder subatomare Teilchen. Heute: Jedes Einzelsystem, das Quantenverhalten zeigt." (342)

Quantenphysiker sind Experimentalphysiker. Im Unterschied zu Astronomen können sie ihre Gegenstände ins Labor holen - ja sogar im Labor erzeugen, beispielsweise Photonen. Die Theorie der Lichtteilchen hat Albert Einstein 1905, im gleichen Jahr wie die Relativitätstheorie, entwickelt. Für diese erhielt er schließlich 1921 den Nobelpreis - aus Sicht der Quantenphysiker die Ehrenrettung Einsteins.

Der Grundaufbau des Experiments: Eine Quelle sendet gleichzeitig verschränkte Photonen an die Messstationen A (Alice) und B (Bob). An jeder befindet sich ein Lämpchen, rot und grün, und ein Schalter, der die Stellungen H (Horizontal), 0 (Null) oder V (Vertikal). Wir können dem Quantenphysiker glauben, dass die Versuchsanordnung exakt ist, denn er hat zehn Jahre daran gearbeitet und musste manche Materialen wie den Kristall zur Polarisierung der Photonen erst entwickeln. Die Messungen erfolgen also exakt gleichzeitig und im gleichen Abstand von der Quelle.

Die Messung ergibt:

- Quanten sind Objekte ohne eigene Merkmale, somit auch keine "persönlichen" Eigenschaften von Photonen.

- Die Eigenschaften verschränkter Quanten sind gleich, wenn man sie mit zwei gleich eingestellten Messgeräten misst.

- Bei der Messung kollabiert der Quantenzustand.

- Für das Verhalten eines bestimmten Photons gibt es keine Regel, es wird vom reinen Zufall beherrscht.

- "Wann entscheidet sich das Photon, welchen Weg es nimmt?" (126)

Diese Frage ist eindeutig keine physikalische Frage, sondern eine metaphysische. Hier wird einem Quant, das laut Doktrin (nicht infolge einer Erkenntnis, die ja nur aus einer Messung folgen könnte) an sich keine Eigenschaften hat, die Eigenschaft der "Entscheidungsfähigkeit" zugedacht, und zwar für ein Verhalten, für die es (laut Doktrin) keine Regeln gibt. Quanten haben keine Eigenschaften, aber ein Verhalten. Dieses Verhalten folgt keiner Regel, denn es ist "reiner Zufall" was passiert.

Zur Klarstellung: Der Quantenphysiker betrachtet nicht den Lichtstrahl, sondern in messbaren Abständen Photonenpaare, die keine persönlichen Eigenschaften haben, allerdings vor der Messstation vertikal oder horizontal polarisiert werden. "Es gibt keine Eigenschaft des Photons, die erklären würde, ob es durch den Polarisator durchtritt oder absorbiert wird, [...] Es gibt nur die Wahrscheinlichket. Diese Wahrscheinlichkeit ist fundamental und nicht weiter erklärbar." (127)

Die Tatsache, dass man ausschließt, dass ein Objekt eigene Eigenschaften, Merkmale und Verhaltensweisen "besitzt", bedeutet nicht, dass es keine Regeln "gibt", nach denen es sich bewegt - es könnte ja auch bewegt werden. Und das ist in dem Experiment tatsächlich der Fall.

Kann diese Erkenntnis Prof. Quantinger vom Sockel stürzen?

Anders als in der "freien Natur", in der Photonen (vermutlich!) selten alleine durch den Kosmos schwirren, erzeugt der Quantenphysiker einen Laborzustand, in dem er Photonen mutwillig in die Messstation schickt, um sie damit zu zerstören! Was soll der Sinn dieser Aktion sein? Prof. Quantinger will beweisen, dass das einzelne Photon keinen Regeln folgt, sondern dem "reinen Zufall". Nach einer ausreichend große Anzahl an Quantenvernichtungen kann er die Wahrscheinlichkeit feststellen, mit der Photonen durch den Polarisator durchtreten. Prof. Quantinger bekommt somit nach einem sehr komplizierten Versuchsaufbau und rücksichtsloser Vernichtung tausender, vielleicht sogar hundert tausender Photonen ein Ergebnis, das Optiker, die einen Lichtstrahl als ganzes beobachten, schon lange vorher kannten.

Die Antwort auf die Frage "Wann entscheidet sich das Photon, welchen Weg es nimmt?" lautet daher: in dem Moment, in dem ein Experimentator die Quelle aktiviert. Wenn es wirklich einen "reinen Zufall" geben würde, dann ist ein Messgerät, das gerade mal vier Positionen dedektieren kann, eine ziemlich primitive Einrichtung, um einen "Beweis für den reinen Zufall" zu erbringen. Vielleicht sollten sich die Physiker mal ein paar Wochen mit Poesie beschäftigen, um dem "reinen Zufall" mehr Raum zu geben.

Würde ein Photon einsam in eine Messmaschine stürzen?

Es würde wohl gemeinsam im Licht sein Dasein nützen!

Es würde ausstrahlen in die Natur mit Millionen von Photonen.

Doch diese reinen Zufälle kann das Labor nicht klonen.

Poetisch nicht gerade H.C. Artmann, aber philosophisch geht es um die Begriffe und ihre Implikationen. Wir könnten diese Diskussion mit der Aussage "Quantenphysik ist eine spezielle Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung" beenden. Doch Prof. Quantinger, der auf geheimnisvolle Weise mit Prof. Zeilinger verschränkt ist, zieht aus seinen Experimenten auch ontologische und epistemologische Schlüsse. Und diese beziehen sich nicht punktuell auf seine Experimente, sondern universell auf unserer Weltanschauung. Die Welt lässt sich nicht mit einer alles umfassenden Theorie erklären. Die Quantenphysik allerdings lässt sich in drei Sätzen zusammenfassen. Zitat:

1 Keines der miteinander verschränkten Teilchen hat besondere, ganz persönliche Eigenschaften,

2 aber sollten sie doch gemessen werden,

3 stellen sie sich als identisch heraus.

4 Genau das ist das Eigenartige an der Verschränkung,

5 dass die Messung, die Beobachtung, an einem der beiden Teilchen

6 die beobachtete Eigenschaft erst erzeugt.

7 Sie war vorher nicht da.

Es sei dem Leser überlassen, diese Sätze nach Immanuel Kant (Kritik der reinen Vernunft) oder Ludwig Wittgestein (Tractatus) zu interpretieren. Spätere Generationen, die zur Gedankenübertragung fähig sein werden, sehen in den heutigen Grundlegungen der Quantenphysik vielleicht die Grundlagen der künftigen Quantenmystik. Jedenfalls sind solche Sätze nicht geeignet als Grundlage einer Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Das beginnt schon damit, dass nicht alle mysteriösen Phänomene als "Mysterien" bezeichnet werden können.

Alle Zitate aus: Anton Zeilinger

Einsteins Spuk. Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik.

Goldmann, München 2007

WERTVOLLE INFO? Siehe auch Spenden

Ergänzung 9.12.22: über Zeilingers Nobelpreis-Lecturese in Stockholm berichtet ORF.at