Dugin versus Schwab - Alexander Dugin

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Alexander Dugin

ad 1: Politische und philosophische Analysen

Dugin findet die Wurzeln des Liberalismus im mittelalterlichen Universalien-Streit, den die Nominalisten gegen die Realisten gewonnen haben. Der Liberalismus basiert demnach auf den Grundideen der Nominalisten: "Die Wurzeln des liberalen (=kapitalistischen) Systems reichen bis zum Universalienstreit der Scholastiker zurück. Dieser Streit teilte die katholischen Theologen in zwei Lager: Während die einen die Existenz des Gemeinsamen anerkannten (species, genus, universalia), glaubten die anderen nur an bestimmte individuelle Dinge und interpretierten deren generalisierende Namen als rein externe, konventionelle Systeme der Klassifizierung, [...]

Jene, die von der Existenz des Allgemeinen und der Spezies überzeugt waren, bezogen sich auf die klassische Tradition Platons und Aristoteles'. Sie wurden 'Realisten' genannt, sohin jene, welche die 'Realität der Universalien' anerkannten. Der bekannteste Vertreter dieser 'Realisten' war Thomas von Aquin oder, im Allgemeinen, die Tradition der Dominikanermönche. Die Vertreter der Idee, dass nur die individuellen Dinge und Wesen real sind, nannte man 'Nominalisten', ausgehend vom lateinischen Wort nomen. [...] Obwohl die 'Realisten' die erste Runde des Konflikts gewannen und die Lehren der 'Nominalisten' mit dem Anathema belegt wurden, führten die späteren Pfade der westeuropäischen Philosophie - insbesondere in der Neuzeit - auf den Weg von Ockham. Der 'Nominalismus' bereiten den Boden für den zukünftigen Liberalismus, sowohl in ideologischer als auch in ökonomischer Hinsicht. " (7 f)

"Der Great Reset [...] bietet nichts Neues - vielmehr handelt es sich bei ihm um eine Fortsetzung des Hauptvektors der westeuropäischen Zivilisation in Richtung Fortschritt, interpretiert im Geist der liberalen Ideologie und der nominalistischen Philosophie. Nicht viel bleibt davon übrig: Der Plan, die Individuen von den letzten Formen der kollektiven Identität zu befreien - um die Abschaffung der Generidentität und den Schritt hin zum posthumanistischen Paradigma abzuschließen. [...] Alle, die sich dem entgegenstellen, sind in ihren Augen 'Kräfte der Dunkelheit'. Und dieser Logik zu Folge müssen die 'Feinde der Offenen Gesellschaft' mit besonderer Härte bestraft werden. (17)

Was in den 1970er Jahren mit ersten Gender Studies in den USA begann und lange auf die Gleichstellung der Frauen abzielte (Gleichstellung von Wissenschaftern und Wissenschafterinnen), hat sich in den vergangenen zehn Jahren zugespitzt auf das Dogma, dass das Geschlecht keine Festlegung der Natur sei (Englisch: sex), sondern eine Entscheidung, die jeder Mensch individuell als soziales Geschlecht (Englisch: gender) frei treffen sollte, letztlich müsse. "Das Gender muss rein optional und die Konsequenz einer rein individuellen Entscheidung sein." (94) Damit werde, so Dugin, die letzte Bastion kollektiver Identität (neben Familie, Volk, Religion) zerstört und die Durchsetzung von LBTQ+ der letzte "Befreiungsakt" der Menschheit, wie die Ideologie des Liberalismus Zwangsbeglückung nennt. (Am Erscheinungstag dieses Essays, 30.11.2023, meldet Welt.de: "Die Justiz in Russland hat ein Verbot gegen die internationale LGBT-Bewegung verhängt. Sie sei eine 'extremistische Organisation'. Seit Beginn der Offensive in der Ukraine im Februar 2022 gehen die Behörden in Russland verschärft gegen LGBTQ+-Menschen vor.")

"Trump ritt die Protestwelle der Anti-Globalisierung. Aber es ist klar, dass er niemals eine ideologische Figur war, noch heute eine solche ist. [...] Nicht Trump selbst, sondern eher seine Opposition gegen die Globalisten wurde zum Kern es Trumpismus." (24)

Die politische Einordnung Trumps gehört zu den besten Teilen des Buches. Da zu Beginn dieses Jahrhunderts der Liberalismus als Kapitalismus die Welt global erobert hat, Globalismus somit zu einer unipolaren Herrschaft geworden ist, benötigten die Globalisten zur weiteren Zuspitzung ihres Programms einen inneren Feind. "Dieser innere Feind erschien gerade rechtzeitig, [...] Und er hatte einen Namen: Donald Trump. [...] Er verkörperte die Grenze zwischen dem Liberalismus 1.0 und dem Liberalismus 2.0. Dabei wurde er zur Hebamme des Liberalismus 2.0 ..." (85)

"Trump ist und war ein Vertreter des Liberalismus 1.0." Als Vertreter dieser Richtung nennt Dugin Friedrich von Hayek und dessen Konzept des freien Marktes, das jeglichen Versuch der Wirtschaftsplanung als Hybris betrachtet, weil kein Mensch alle Folgewirkungen eines Planes vorhersehen könne. Anstelle der Planung setzt Hayek auf Traditionen (moralische Werte als auch Erfahrungswerte von Managern, die aus Fehlern lernen) als Grundlage organischer Entwicklungen. Liberalismus 1.0 bedeutet demnach das Ideal des freien Marktes basierend auf traditionellen (konservativen) Werten.

Ein Schüler von Hayek ist Karl Popper, dessen Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" Dugin massiv kritisiert: "Der Ton von Poppers Kritik an Platon und Aristoteles, Hegel und Schelling ist nicht nur komplett intolerant und hysterisch, er steht auch im starken Kontrast zu Hayeks ruhigem Zugang auch gegenüber seinen Gegenspielern." (90) Popper steht demnach zwischen Liberalismus 1.0 und 2.0, der seine Vollendung im wohl bekanntesten und einflussreichsten Schüler Poppers findet: George Soros: "Hier haben wir es mit einem voll ausgereiften liberalen Plan (ein Widerspruch in den Augen Hayeks) zu tun, der aggressiver, radikaler und offensiver als jener von Popper ist." (91)

"Das liberale Sein der Zukunft, auch in der Theorie, ist keinesfalls 'Individuum', etwas 'Unteilbares', sondern ein 'Dividuum', also etwas 'Teilbares', das aus austauschbaren Teilen besteht. Genau das ist die Maschine - sie besteht aus einer Kombination von Teilen. [...] Der menschliche Fortschritt endet in der liberalen Interpretation unausweichlich mit der Abschaffung der Menschheit. (28) Der Transhumanismus könnte bereits in zwei Jahrzehnten unsere Welt dominieren.

"Die Ethik des Liberalismus: Jeder hat das Recht, liberal zu sein, aber niemand hat das Recht dazu, etwas anderes als liberal zu sein." (18)

ad 2: Programmschrift und GDU

Laut Dugin kämpften im 20. Jahrhundert zwei politische Theorien (Faschismus und Kommunismus) gegen den Liberalismus als Kapitalismus. Nach Niederschlagung des Faschismus 1945 und des Kommunismus 1989/90 hat der Liberalismus als Globalismus (die erste politische Theorie), den Sieg davon getragen. The Great Reset ist vollzogen, und nur das Große Erwachen kann eine Kehrtwende herbeiführen. Dies ist der nächste Weltkrieg, der nur als Glaubenskrieg möglich ist:

"Es gibt nur zwei Parteien auf der Welt: die globalistische Partei des Great Resets und die antiglobalistische Partei des Großen Erwachens. Und nichts in der Mitte. Dazwischen befindet sich der Abgrund. Er will mit Meeren von Blut gefüllt werden. [...] Der Kampf wird universell. Die Demokratische Partei der USA und ihre globalistischen Stellvertreter - einschließlich aller High-Tech-Industrien und der Großfinanz - sind ab sofort eine klare Verkörpberung des absolut Bösen. Das große Böse hat sich auf amerikanischem Boden eingenistet. Vom Zentrum der Hölle aus beginnt nun die letzte Revolte, das große Erwachen." (54)

Für den Sieg benötigt das Große Erwachen eine Ideologie, und das ist die "vierte politische Theorie", die Dugin in 21. Punkten vorstellt, ohne jedoch ihren Inhalt zu verraten. Er liefert damit keine Anhaltspunkte für eine Verschwörungstheorie (die man, so wie jede andere Theorie überprüfen könnte), sondern nur Andeutungen einer Politik des Ominösen, leider oft sogar des Obskuren: "Das Große Erwachen ist spontan, größtenteils unbewusst, intuitiv und blind. Es ist keineswegs Ausdrucksmöglichkeit für Bewusstsein, für eine Schlussfolgerung, für eine tiefe historische Analyse." (32)

Das Große Erwachen "darf nicht übereilt mit ideologischen Details [...] aufgeladen werden. Das Große Erwachen ist etwas Organischeres, Spontaneres und gleichzeitig Tektonisches. Auf diese Art wird die Menschheit plötzlich vom Bewusstsein von der Nähe ihres baldigen Endes erleuchtet. [...] Da Große Erwachen ist die spontane Antwort der menschlichen Massen auf den Great Reset." (33)

"Die Vierte Politische Theorie ist eine Einladung zur Suche nach einer Alternative zu dem im Zerfall begriffenen Liberalismus." (57) Das klingt nach einem offenen Programm, ist aber nur eine rhetorische Floskel. Ein offenes Forum, wo interessierte Menschen dieser Einladung nachkommen könnten, existiert nicht. "Die Vierte Politische Theorie fordert alle zum Kampf auf." (59) Dieser Aufruf zum Kampf ist das eigentliche Programm Dugins, und ein Großteil seiner "theoretischen Grundlagen" ist die Entlarvung des Feindes. Diese gipfelt - bemerkenswerter im Kapitel "Der innere Feind" in der Selbstentlarvung: "Eine politische Ideologie kann nicht existieren, wenn das Paar Freund/Feind ausgelöscht wird. Sie verliert ihre Identität und kann in Zukunft nicht mehr effektiv sein. Keinen Feind zu haben, bedeutet ideologischen Selbstmord zu begehen." (84) 

Philosophische Beurteilung (Kommentar HTH)

Es ist rein äußerlich, aber vermutlich kein Zufall, dass die Bücher von Schwab und Dugin das gleiche Format haben. Was Dugin seinem Feind Popper vorwirft - er wolle alle Feinde der offenen Gesellschaft vernichten ("Er lehnt die Zweite und Dritte Politische Theorie nicht nur ab, sondern kriminalisiert sie und ruft zu ihrer totalen Auslöschung auf." 90) - das macht Dugin zu seinem eigenen Programm: die Vernichtung des Bösen in Form des Liberalismus, und damit einhergehend der Demokratien, der Menschenrechte, der offenen Gesellschaft und "aller Produkte dieses liberalen Systems". Der Feind, den Dugin in den analytischen Teilen durchaus subtil entlarvt, dient nun als Mittel zum Zweck, um den Endkampf als totalen Krieg auszurufen: "Keinen Feind zu haben, bedeutet ideologischen Selbstmord zu begehen." (84)

Die logische Konsequenz dieser Feindbildideologie ist der Aufruf zum Kampf; direkt - "Die Vierte Politische Theorie fordert alle zum Kampf auf" (59) - oder indirekt, durch ständige Wiederholungen - "Der Name des Feindes ist westliche Moderne", "Warum der Liberalismus das absolute Übel ist". Der unipolare Globalismus soll im bipolaren Endkampf besiegt werden. Mit dieser Ideologe verkommen die in der Analyse gewonnen essenziellen Aussagen (das ist die hohe Kunst philosophischer Betrachtungen des Großen und Ganzen) zu einem oberflächlichen Mantra (das ist die ewige Wiederkehr des Gleichen anstelle neuer Argumente). Der Gipfel von Dugins Nivellierungen ist Punkt 7: "Gegen Kapitalismus, Sklaverei und Aufklärung". 

Es wäre falsch, diese Gleichsetzung von Sklaverei und Aufklärung als Rückfall in das finstere Mittelalter zu diffamieren. Zumal das Mittelalter nicht gar so finster war, wie es aufgrund oberflächlicher Betrachtungen zu einem weit verbreiteten Vorurteil wurde. Egon Friedell hat dieses Vorurteil in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" im Kapitel "Die Seele des Mittelalters" überwunden und in diesem Kapitel auch das Wesen des Universalienstreits (Nominalisten gegen Realisten) skizziert (siehe Kapitel Egon Friedell im Anhang).

Friedell beschreibt das Mittelalter als philosophisches Zeitalter mit kindlicher Denkungsart. Beides passt zusammen, denn Philosophie beginnt mit der Frage "Warum?" und endet immer dann, wenn man den Kindern diese lästige Frage ausgetrieben hat. Nur jene Minderheit der Kinder, die sich diese Frage nicht austreiben und nicht verbieten lässt (aus Starrsinn oder aus Berufung), nur diese wenigen Kinder bleiben Philosophen. Naivität ist somit die ursprüngliche Geisteshaltung jedes Philosophen, die man, wenn man Friedell glauben darf, im Mittelalter noch ausleben durfte. Die Rückkehr ins Mittelalter könnte daher in der Theorie des Erwachens durchaus als Fortschritt interpretiert werden. Dagegen spricht aber die Erkenntnis des aufgeklärten und aufklärenden Philosophen: die Rückkehr in das Mittelalter wäre nur durch künstliche Naivität möglich. Und die ist nicht wahrhaft naiv, somit nicht natürlich und nicht authentisch, so wie die künstliche Intelligenz selten intelligent, sondern meistens nur künstlich ist.

Wenn man Dugins Geisteshaltung nicht als mittelalterlich bezeichnen kann, so doch als finster. Die Erweckung, die er anstrebt, soll ausdrücklich nicht zur Erhellung der Massen beitragen. Ganz im Gegenteil. In einer ziemlich abstrusen "weltbürgerlichen" Positionierung der vierten politischen Theorie ("Wahrer Universalismus basiert auf der Pluralität der Subjekte" 69), fordert er geradezu liberalistisch die Berücksichtigung aller Rechtssysteme, vom islamischen, über das indische bis hin zu konfuzianischen Traditionen und archaischen Systemen (63).  

Insbesondere Dugins Hinwendung zur indischen Philosophie ("Inspiration aus dem Osten") ist oberflächlich und obskur. So will er offenbar das Kastenwesen als Alternative zur liberalen Demokratie etablieren und skizziert der Reihe nach die Programme für die erste Kaste (Brahmanen, Philosophen), die zweite Kaste (Kshatriyas, Krieger, Aktivisten) und die dritte Kaste (Vaishyas, Bauern, Landleute): "Was können wir jenseits dieses elitären Ansatzes [der ersten und zweiten Kaste] vorschlagen? Der Hauptgedanke ist, ein drittes Bildungsniveau für die absolute Mehrheit der Bevölkerung zu organisieren, das mit der Wiederherstellung der traditionellen Familie und der traditionellen Lebensweise mit der Landwirtschaft verbunden sein sollte. Das Bauerntum ist die Antwort. [...] Wir müssen das System der autarken, auf kleinen Dörfern basierenden Agrargesellschaften wiederherstellen." (76)

Es ist durchaus subtil und absolut legitim, die Provokation des Historikers Niall Ferguson ("Der Westen und der Rest der Welt") mit der Aussage "Der Westen ist nur ein Tel des Rests" zu konterkarieren, doch die totale Nivellierung des Ostens (Islamische Länder, Indien, China und dazu noch Afrika), sowie die nicht mehr naive, sondern ganz einfach weltfremde, dümmliche Annahme, diese würden sich gegen den Einen Großen Feind (EGF) vereinen und hunderte, nein tausende divergierende Interessen ganz einfach im Interesse des Endsiegs für alle Zeit begraben und vergessen - das ist der Größte denkbare Unsinn (GDU), der nur noch übertroffen wird von der Idee, man könnte ein System, das vor Jahrtausenden in Indien entstanden ist und sich teilweise bis heute auf dem Subkontinent halten konnte, revitalisieren und sogar als politische Grundlage von Gesellschaften oder Staaten außerhalb Indiens implementieren.

Zusammengefasst: GDU ist nicht die Kraft, die EGF und seine Speerspitze WEF in die Schranken weisen oder gar vernichten könnte.