Alexander Dugin vs Klaus Schwab. Und ein Exkurs zur "Kultur-Geschichte der Neuzeit" von Egon Friedell
The Great Awakening vs The Great Reset
"Covid-19: The Great Reset" (auf Deutsch abweichend davon "Der große Umbruch". Im Vergleich zum punktgenauen "Reset"/Neustart, den jeder Mensch schon mal auf seinem Computer durchgeführt hat, ist "Umbruch" ein ominöser Begriff, der sowohl ein nicht steuerbares Naturereignis, als auch einen maschinellen Prozess bezeichnen kann) hat Klaus Schwab 2020 im Eigenverlag seines Weltwirtschaftsforums WEF heraus gebracht. Das 300 Seiten starke Buch enthält
1. zahlreiche Plattitüden, die in vielen anderen Büchern genauso stehen könnten,
2. zahlreiche Aussagen, die nach Verschwörung klingen und schon allein deshalb als Verschwörungstheorien geprüft werden müssen, weil sich Schwab als Organisator des World Economy Forums rühmt, auf die wichtigsten Herrscher dieser Welt direkt Einfluss zu nehmen; nicht nur als Autor von Zukunftsszenarien, von denen jährlich tausende publiziert werden, sondern als Großmeister des Great Reset.
"Das große Erwachen gegen den Great Reset (2021)" von Alexander Dugin, laut seinem Verlag arktos.com "einer der bekanntesten Schriftsteller und politischen Kommentatoren im postsowjetischen Russland, wo er seit 1980er Jahren in der Politik tätig ist", ist primär als Anti-Schwab konzipiert; das impliziert
1. brillante Analysen des Globalismus (vom Liberalismus 1.0 über Genderismus zu Liberalismus 2.0), aber auch
2. eine Programmschrift, die den Größten denkbaren Unsinn (GDU) verbreitet.
Klaus Schwab
ad 1: Eine Sammlung von Plattitüden
"Wie viele Staats- und Regierungschefs mitten in der Pandemie gesagt haben, befinden wir uns im Krieg, jedoch mit einem unsichtbaren Feind und natürlich im übertragenen Sinne." (17)
"Die Möglichkeiten für Veränderungen und die daraus resultierende neue Ordnung sind jetzt unbegrenzt und nur durch unsere Vorstellungskraft beschränkt, im Guten wie im Schlechten." (20)
"Unser Gehirn lässt uns linear denken, die Welt um uns herum ist jedoch nicht linear, sondern komplex, anpassungsfähig, schnelllebig und mehrdeutig." (23)
"Müsste an das Wesen des 21. Jahrhunderts mit nur einem Schlagwort beschreiben, dann wär dies 'Interdependenz'." (24)
"Die globale Wirtschaftskatastrophe, mit der wir jetzt konfrontiert sind, ist die größte seit 1945; in puncto Geschwindigkeit ist sie beispiellos in der Geschichte." (40)
"Die Vermögensungleichheit ist eine bedeutende Dimension der heutigen Ungleichheitsdynamik und sollte systematischer verfolgt werden." (67)
"Ein stark irreführendes Klischee, das dem Coronavirus anhaftet, ist die Metapher von Covid-19 als 'großer Gleichmacher'. Das Gegenteil trifft zu. Covid-19 hat, wo und wann es zuschlägt, die bestehenden Bedingungen der Ungleichheit verschärft." (90)
"Die wesentlichen Gründe für den Glaubensverlust in unsere Gesellschaftsverträge sind Fragen sozialer Ungleichheit, die Unwirksamkeit der meisten Umverteilungsmaßnahmen, die Wahrnehmung von Ausgeschlossenheit und Ausgrenzung und ein allgemeins Gefühl der Ungerechtigkeit." (111)
"Wohlhabende Länder ignorieren die Tragödie, die sich in schwachen und scheiternden Ländern abspielt, und die dadurch für sie selbst drohende Gefahr." (154)
"Der Moment muss genutzt werden, um diese einzigartige Gelegenheit zur Neugestaltung einer nachhaltigeren Wirtschaft zum Wohle unserer Gesellschaften zu nutzen." (167, vergleiche S .166 ad 2)
ad 2: Verschwörungstheorien oder bloß Szenarien?
"Zum Zeitpunkt der Abfassung (Juni 2020) verschlimmert sich die Pandemie weiterhin weltweit. Viele von uns fragen sich, wann sich die Dinge wieder normalisieren werden. Die kurze Antwort lautet: niemals." (12)
"Seit Jahren warnen uns internationale Organisationen wie die WHO, das WEF, die Koalition für Innovation in der Epidemievorbeugung (CEPI - im Rahmen des Jahrestreffens 2017 in Davos ins Leben gerufen) oder auch Einzelpersonen wie Bill Gates vor dem nächsten Pandemierisiko, ja sie spezifizieren sogar, dass es 1) an einem dicht bevölkerten Ort seinen Ausgang nehmen würde, an an dem Menschen und Wildtiere durch die wirtschaftlichen Entwicklung eng zusammeleben, 2) sich schnell und in aller Stille über die Reise- und Handelsstätigkeit ausbreiten würde und 3) mehrere Länder befallen und somit eine Eindämmung vereiteln würde." (38)
Schwab zitiert drei Szenarien, die alle davon ausgehen, "dass uns die Pandemie bis 2022 erhalten bleibt" (46) und weiß auch schon im Juni 2020, dass es nur einen Ausweg gibt: "Monate nach der Pandemie sieht es so aus, als sei auch nur der Anschein einer Rückkehr zu 'Business as usual' für die meisten Dienstleistungsunternehmen undenkbar, solange Covid-19 eine Bedrohung für unsere Gesundheit darstellt. Dies wiederum legt nahe, dass eine vollständige Rückkehr zur 'Normalität' nicht vorstellbar ist, bevor es einen Impfstoff gibt. [...] Die nächste Hürde ist die politische Herausforderung, weltweit genügend Menschen zu immunisieren." (54) Das Mantra "Dies wird nicht gehen, bevor es einen Impfstoff gibt" durchzieht den "Great Reset" (zB 61, 187)
"Die durch Covid-19 verursachte weltweite tiefe Krise hat der Gesellschaft eine Zwangspause verordnet, um darüber nachzudenken was wirklich von Wert ist. Jetzt, da die wirtschaftlichen Notmaßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie in Kraft getreten sind, kann die Gelegenheit genutzt werden, um institutionelle Veränderungen in die Wege zu leiten und politische Entscheidungen zu treffen, die die Volkswirtschaften auf einen neuen Weg in eine gerechtere, grünere Zukunft führen." (64 f)
"Eine der großen Lehren der letzten fünf Jahrhunderte in Europa und Amerika ist, dass akute Krisen zur Stärkung der Staatsmacht beitragen. Dies war immer der Fall und es gibt keinen Grund, warum es bei der Covid-19-Pandemie anders sein sollte." (102) "Alles, was im Zeitalter nach der Pandemie geschieht, wird uns dazu veranlassen, die Rolle der Regierungen zu überdenken. Statt nur auftretendes Marktversagen zu beheben, sollten diese, nachden Worten der Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato: 'zur aktiven Formung und Schaffung von Märkten übergehen, die für Nachhaltigkeit und integratives Wachstum sorgen'." (105) "Was die internationalen Kapitalströme anbelangt, scheint es bereits offensichtlich, dass ie durch einzelstaatliche Behörden und öffentlichen Widerstand eingeschränkt werden." (129)
"Die kollektive Neudefinition der Bestimmungen unserer Gesellschaftsverträge ist eine epochale Aufgabe, die die wesentlichen Herausforderungen der Gegenwart mit den Hoffnungen für die Zukunft verbindet. ... Kissinger: 'Ein Scheitern könnte die Welt in Brand setzen.'" (117)
"Aktionismus findet unter Jugendlichen weltweit immer mehr Anhänger, [...] und betrifft so unterschiedlichen Themen wie Klimawandel, Wirtschaftsreformen, Geschlechtergleichheit und LGBTQ-Rechte. Die junge Generation ist ein entschlossener Vorreiter des sozialen Wandels. Es bestehen nur wenige Zweifel, dass sie ein Katalysator des Wandels und eine entscheidende Quelle für den großen Umbruch sein wird." (118)
"Das 21. Jahrhundert wird höchstwahrscheinlich ein Zeitalter ohne absoluten Hegemon sein, in dem keine Macht eine absolute Dominanz erreicht. [...] In dieser chaotischen neuen Welt, die durch eine Verlagerung zur Multipolarität und intensive Konkurrenz um Einflussnahme geprägt sein wird, werden Konflikte oder Spannungen nicht mehr durch Ideologien (mit der teilweisen und beschränkten Ausnahme des radikalen Islams), sondern durch Nationalismus und den Wettbewerb um Ressourcen bestimmt werden. [...] Die Krise der Pandemie hat diesen traurigen Zustand sowohl bloßgelegt als auch verschärft. Der zugefügte Schock ist so groß und so folgenreich, dass kein extremes Szenario völlig ausgeschlossen werden kann." (121)
"Es erscheint unvermeidlich, dass in den kommenden Jahren eine gewisse Deglobalisierung stattfinden wird, [...] Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wenn wir die Funktionsweise und Legitimität unserer globalen Institutionen nicht verbessern, wird die Welt bald unkontrollierbar und sehr gefährlich werden. Ohne eine globalen, strategischen ordnungspolitischen Rahmen kann es keine anhaltende Erholung geben." (130 f) "Covid-19 erzählt gerade eine Geschichte des Versagens der globalen Ordnungspolitik." Daraus folgt die Notwendigkeit einer starken WHO, die Schwab mit den Worten von Bill Gates begründet: "Ihre Tätigkeit verlangsamt die Ausbreitung von Covid-19 und wenn diese Tätigkeit gestoppt wird, kann sie von keiner anderen Organisation ersetzt werden. Die Welt braucht die WHO jetzt mehr denn je." (136)
"Die Welt wird ein sehr gefährlicher Ort werden, wenn wir die multilateralen Institutionen nicht gesunden lassen. Eine weltweite Koordination wird in der Folge der epidemiologischen Krise (sic!) sogar noch notwendiger sein, weil es unvorstellbar ist, dass die Weltwirtschaft ohne eine nachhaltige internationale Zusammenarbeit 'neu starten' kann." (137) "Und wir können argumentieren, dass Covid-19 uns bereits einen kleinen Einblick oder Vorgeschmack darau gegeben hat, was eine ausgewachsene Klimakrise und ein Zusammenbruch des Ökosystems wirtschaftlich gesehen für Folgen haben könnte." (155)
"Die Pandemie wird die politische Landschaft mit aller Wahrscheinlichkeit über Jahre hinweg beherrschen, mit der ernsten Gefahr, dass sie Umweltbelange überschatten könnte. [...] Auf der anderen Seite wird die These laut, die besagt, dass die einmalige Chance, die uns die Covid-19-Krise bietet, nicht vertan werden darf und genau jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um nachhaltige Umweltstrategien umzusetzen." (166)
Schwab zitiert Nicholas Stern, Leiter des Grantham Forschungsinstituts für Klimawandel: "Wir müssen erkennen, dass es weitere Pandemien geben wird, und wir müssen dann besser vorbereitet sein [Aber] wir müssen auch erkennen, dass der Klimawandel eine viel tiefgreifendere und größere darstellt, die nicht verschwindet und genauso dringend ist." (170) "Der von der Europäischen Kommission lancierte "Europäische Grüne Deal" ist ein massives Unterfangen und der bisher greifbarste Beweis dafür, dass die Behörden sich entschieden haben, die Covid-19-Krise nicht im Sande verlaufen zu lassen." (174)
Schwab gibt Updates zu seinem Buch "Die Vierte Industrielle Revolution" (erschienen 2016). Er hält die Pandemie für einen Katalysator und Impulsgeber für weitere technische Veränderungen, stellt fest, dass Contact Tracing "außerordentlich effizient arbeitet und sozusagen eine zentrale Rolle im zur Bekämpfung von Coid-19 erforderlichen Instrumentarium spielt" (179) "Während der Lockdowns kam es plötzlich zu einer quasi-globalen Lockerung von Vorschrift, [...] Es gab keine besser oder andere Wahl. [...] Die neuen Rechtsvorschriften werden in Kraft bleiben." (182) Schwab begrüßt und erwartet die Fortsetzung von Social Distancing-Maßnahmen und Contact Tracing mit einer verpflichtenden App, ist überzeugt, dass Robotic Process Automation (RPA) "in der Zeit nah der Pandemie mit Sicherheit auf breiter Front eingeführt und beschleunigt werden" (186)
Philosophische Beurteilung (Kommentar HTH)
Wer glaubt, Schwab plant die Neue Weltordnung, und von Joe Biden bis Xi Jinping setzen alle namhaften Politiker dieser Welt seine Pläne um, dessen Denken verläuft so monoton wie die Schienen der transsibirischen Eisenbahn. Selbst diese bieten mit zahlreichen Weichenstellungen mehr Abwechslung als die geistige Geradlinigkeit manch einfacher Gemüter, die im Zug zwischen Moskau und Wladiwostok nur einen Anfang und ein Ende, nur eine Ursache und eine Wirkung erkennen können.
Schwab verfolgt mit Sicherheit eine Agenda und hat mit dem WEF eine Einflusszone geschaffen, die weit über viele andere Gesellschaften und Gruppierungen (inklusive Geheimbünde) hinaus geht. Dass sich Schwab - im Unterschied zu den Fädenziehern der Bilderberg-Konfernzen - gern und oft in der Öffentlichkeit zeigt und alle Leitmedien dieser Welt über Inhalte und Teilnehmer seiner Konferenzen berichten (im Unterschied zu tausenden anderen Konferenzen), das verleitet zur Überbewertung der Person Schwab und seines Einflusses. Dieser soll hier auch nicht unterbewertet werden, doch klar ist: Schwab ist nicht allmächtig. Sein Lamento, dass die Coronamaßnahmen ursprünglich chaotisch umgesetzt wurden, die Tatsache, dass außerhalb der EU und der USA ganz andere Test- und Impfmaßnahmen umgesetzt wurden, verweisen auf die Grenzen seiner Einflussmöglichkeiten.
Schwab ist auch nicht allwissend, er weiß so wenig wie Otto Normalbürger, was in einem Jahr, geschweige denn, was in zehn Jahren passieren wird. Um die Bedeutung seiner Aussagen einschätzen zu können, muss man im Einzelfall prüfen, ob es sich um Common Sense, gängige oder neue ("disruptive") Theorien, Behauptungen, Forderungen, Prognosen, Spekulationen, Empfehlungen oder um konkrete Pläne handelt. Doch bevor Schwab auch nur Andeutungen zu konkreten Plänen macht, denkt er laut und öffentlich über Szenarien nach. Das Szenario ist der Schlüssel zum Verständnis seiner Ausführungen. So skizziert er im Kapitel über "Die wachsende Rivalität zwischen China und den USA" (137 ff) zunächst das Szenario "China als Gewinner", dann "Die USA als Gewinner" und zuletzt "Kein Gewinner".
Mit dem WEF hat Schwab eine der erfolgreichsten Konferenzorganisationen gegründet und konnte damit Jahr für Jahr expandieren. Unabhängig von allen Intentionen, die ihn antreiben, hat er damit seine Manager-Qualitäten unter Beweis gestellt. Manager (nicht nur CEOs, sondern auch "einfache" Projektmanager) denken in Szenarien, bevor sie sich für eines entscheiden und dieses umsetzen. Das bedeutet aber nicht, dass ein einziges Szenario (eine Agenda) für alle Projekt ausreicht oder gar für einen weltweiten Rollout geeignet ist. Das schließt aber auch nicht aus, dass viele Menschen so denken - sowohl "Schützlinge" von Schwab als auch seine Gegner.
Natürlich kann man nicht von Zufall sprechen, dass viele der heutigen Spitzenpolitiker vormals Gäste des WEF waren und sogar an Eliteschulungen des WEF teilgenommen haben. Es ist demnach kein Zufall, dass diese Kader heute Politik im Geiste und im Interesse der Globalisten betreiben - und damit unsere Grundrechte und die Demokratien zerstören. Doch: noch viel mehr Politiker dieser Welt, die nie in der Nähe des WEF gesichtet wurden, verletzen die Grundrechte und fördern - passiv oder aktiv, aus Dummheit oder mit Plan sei dahingestellt - totalitäre, antidemokratische Entwicklungen. Man sollte jedenfalls genau prüfen, wen Schwab meint, wenn er das scheinbar unverdächtige Pronomen "wir" verwendet: "wir", die Menschheit, oder "wir": ich, George, Bill & Co. Beispiel: "Angesichts der Versäumnisse und Schwachstellen im grausamen Tageslicht der Coronakrisse könnten wir zu schnellerem Handeln gezwungen sein, indem wir gescheiterte Ideen, Institutionen, Prozesse und Regeln durch neue ersetzen, den den gegenwärtigen und künftigen Bedürfnissen besser gerecht werden. Das ist die Essenz des großen Umbruchs." (298)
Schwab hat prognostiziert, dass auf die Corona-Krise die Klima-Krise folgen wird. Man könnte genauso gut sagen: Schwab hat bereits im Great Reset angekündigt (seinen Plan offen gelegt), dass auf die Corona-Agenda die Klima-Agenda folgen wird. Beide Formulierungen sind richtig. Falsch allerdings wäre, die Corona-Agenda und die Klima-Agenda allein Schwab "in die Schuhe" zu schieben. Die Klima-Frage ist zumindest vier Jahrzehnte alt; bereits 1982 hat das Freiburger ÖKO-Institut die Studie "Energieversorgung der Bundesrepublik ohne Kernenergie und Erdöl" vorgelegt. Darauf folgten hunderte Studien hunderter NGOs, die wiederum von hunderten verschiedenen Stiftungen (und teilweise staatlich) finanziert werden. Darunter finden sich Papiere, die man nur noch als "Ökofaschismus" bezeichnen kann. Schwab und sein WEF sind nun natürlich treibende Kräfte dieser Agenda, aber nicht ihre Erfinder und nicht das einzige Treibhaus, in dem alle Blüten und Auswüchse der breit gefächerten Szene wuchern.
Eine treibende Kraft der Klimawandel-Agenda ist unbestritten der Weltklimarat (IPCC), dessen Studien von den Klimaministerinnen und Klimakleberinnen gläubig rezipiert werden, wie von den Katholiken eine Enzyklika des Papstes. Diese Vertreterinnen der Klimareligion und Kreuzritterinnen gegen die "Klimaleugner" sollte man immer wieder daran erinnern, wie IPCC Klima definiert, nämlich als "gekoppeltes, nichtlineares und chaotisches System". Unsere Klimaministerin, die uns noch nicht die Erlösung vom Klimawandel, aber bereits das "Klimaglück" versprochen hat und das "Klima gestalten" möchte, hat diese Definition offenbar noch nicht gelesen - oder gelsen und verdrängt.
Wer die Weltpolitik verstehen will, tut gut daran, Politik nicht als Linie (wie die Transsibirische Eisenbahn) zu begreifen, sondern als "gekoppeltes, nichtlineares und chaotisches System". Mit den Worten Schwabs: "Müsste an das Wesen des 21. Jahrhunderts mit nur einem Schlagwort beschreiben, dann wär dies 'Interdependenz'." Ja, sogar Schwab hat mitunter recht.
Zusammengefasst: Es gibt oft viele Ergebnisse aufgrund einer Ursache, und es gibt genauso oft viele Ursachen für ein Ergebnis. Es ist eine Plattitüde, dass jede Wirkung wieder zur Ursache weiterer Wirkungen werden kann. Doch weniger bekannt ist, dass oft nicht klar ist, was Ursache und was Wirkung ist, insbesondere bei Endlos-Konflikten wie dem zwischen Israel und Palästina.
Alexander Dugin
ad 1: Politische und philosophische Analysen
Dugin findet die Wurzeln des Liberalismus im mittelalterlichen Universalien-Streit, den die Nominalisten gegen die Realisten gewonnen haben. Der Liberalismus basiert demnach auf den Grundideen der Nominalisten: "Die Wurzeln des liberalen (=kapitalistischen) Systems reichen bis zum Universalienstreit der Scholastiker zurück. Dieser Streit teilte die katholischen Theologen in zwei Lager: Während die einen die Existenz des Gemeinsamen anerkannten (species, genus, universalia), glaubten die anderen nur an bestimmte individuelle Dinge und interpretierten deren generalisierende Namen als rein externe, konventionelle Systeme der Klassifizierung, [...]
Jene, die von der Existenz des Allgemeinen und der Spezies überzeugt waren, bezogen sich auf die klassische Tradition Platons und Aristoteles'. Sie wurden 'Realisten' genannt, sohin jene, welche die 'Realität der Universalien' anerkannten. Der bekannteste Vertreter dieser 'Realisten' war Thomas von Aquin oder, im Allgemeinen, die Tradition der Dominikanermönche. Die Vertreter der Idee, dass nur die individuellen Dinge und Wesen real sind, nannte man 'Nominalisten', ausgehend vom lateinischen Wort nomen. [...] Obwohl die 'Realisten' die erste Runde des Konflikts gewannen und die Lehren der 'Nominalisten' mit dem Anathema belegt wurden, führten die späteren Pfade der westeuropäischen Philosophie - insbesondere in der Neuzeit - auf den Weg von Ockham. Der 'Nominalismus' bereiten den Boden für den zukünftigen Liberalismus, sowohl in ideologischer als auch in ökonomischer Hinsicht. " (7 f)
"Der Great Reset [...] bietet nichts Neues - vielmehr handelt es sich bei ihm um eine Fortsetzung des Hauptvektors der westeuropäischen Zivilisation in Richtung Fortschritt, interpretiert im Geist der liberalen Ideologie und der nominalistischen Philosophie. Nicht viel bleibt davon übrig: Der Plan, die Individuen von den letzten Formen der kollektiven Identität zu befreien - um die Abschaffung der Generidentität und den Schritt hin zum posthumanistischen Paradigma abzuschließen. [...] Alle, die sich dem entgegenstellen, sind in ihren Augen 'Kräfte der Dunkelheit'. Und dieser Logik zu Folge müssen die 'Feinde der Offenen Gesellschaft' mit besonderer Härte bestraft werden. (17)
Was in den 1970er Jahren mit ersten Gender Studies in den USA begann und lange auf die Gleichstellung der Frauen abzielte (Gleichstellung von Wissenschaftern und Wissenschafterinnen), hat sich in den vergangenen zehn Jahren zugespitzt auf das Dogma, dass das Geschlecht keine Festlegung der Natur sei (Englisch: sex), sondern eine Entscheidung, die jeder Mensch individuell als soziales Geschlecht (Englisch: gender) frei treffen sollte, letztlich müsse. "Das Gender muss rein optional und die Konsequenz einer rein individuellen Entscheidung sein." (94) Damit werde, so Dugin, die letzte Bastion kollektiver Identität (neben Familie, Volk, Religion) zerstört und die Durchsetzung von LBTQ+ der letzte "Befreiungsakt" der Menschheit, wie die Ideologie des Liberalismus Zwangsbeglückung nennt. (Am Erscheinungstag dieses Essays, 30.11.2023, meldet Welt.de: "Die Justiz in Russland hat ein Verbot gegen die internationale LGBT-Bewegung verhängt. Sie sei eine 'extremistische Organisation'. Seit Beginn der Offensive in der Ukraine im Februar 2022 gehen die Behörden in Russland verschärft gegen LGBTQ+-Menschen vor.")
"Trump ritt die Protestwelle der Anti-Globalisierung. Aber es ist klar, dass er niemals eine ideologische Figur war, noch heute eine solche ist. [...] Nicht Trump selbst, sondern eher seine Opposition gegen die Globalisten wurde zum Kern es Trumpismus." (24)
Die politische Einordnung Trumps gehört zu den besten Teilen des Buches. Da zu Beginn dieses Jahrhunderts der Liberalismus als Kapitalismus die Welt global erobert hat, Globalismus somit zu einer unipolaren Herrschaft geworden ist, benötigten die Globalisten zur weiteren Zuspitzung ihres Programms einen inneren Feind. "Dieser innere Feind erschien gerade rechtzeitig, [...] Und er hatte einen Namen: Donald Trump. [...] Er verkörperte die Grenze zwischen dem Liberalismus 1.0 und dem Liberalismus 2.0. Dabei wurde er zur Hebamme des Liberalismus 2.0 ..." (85)
"Trump ist und war ein Vertreter des Liberalismus 1.0." Als Vertreter dieser Richtung nennt Dugin Friedrich von Hayek und dessen Konzept des freien Marktes, das jeglichen Versuch der Wirtschaftsplanung als Hybris betrachtet, weil kein Mensch alle Folgewirkungen eines Planes vorhersehen könne. Anstelle der Planung setzt Hayek auf Traditionen (moralische Werte als auch Erfahrungswerte von Managern, die aus Fehlern lernen) als Grundlage organischer Entwicklungen. Liberalismus 1.0 bedeutet demnach das Ideal des freien Marktes basierend auf traditionellen (konservativen) Werten.
Ein Schüler von Hayek ist Karl Popper, dessen Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" Dugin massiv kritisiert: "Der Ton von Poppers Kritik an Platon und Aristoteles, Hegel und Schelling ist nicht nur komplett intolerant und hysterisch, er steht auch im starken Kontrast zu Hayeks ruhigem Zugang auch gegenüber seinen Gegenspielern." (90) Popper steht demnach zwischen Liberalismus 1.0 und 2.0, der seine Vollendung im wohl bekanntesten und einflussreichsten Schüler Poppers findet: George Soros: "Hier haben wir es mit einem voll ausgereiften liberalen Plan (ein Widerspruch in den Augen Hayeks) zu tun, der aggressiver, radikaler und offensiver als jener von Popper ist." (91)
"Das liberale Sein der Zukunft, auch in der Theorie, ist keinesfalls 'Individuum', etwas 'Unteilbares', sondern ein 'Dividuum', also etwas 'Teilbares', das aus austauschbaren Teilen besteht. Genau das ist die Maschine - sie besteht aus einer Kombination von Teilen. [...] Der menschliche Fortschritt endet in der liberalen Interpretation unausweichlich mit der Abschaffung der Menschheit. (28) Der Transhumanismus könnte bereits in zwei Jahrzehnten unsere Welt dominieren.
"Die Ethik des Liberalismus: Jeder hat das Recht, liberal zu sein, aber niemand hat das Recht dazu, etwas anderes als liberal zu sein." (18)
ad 2: Programmschrift und GDU
Laut Dugin kämpften im 20. Jahrhundert zwei politische Theorien (Faschismus und Kommunismus) gegen den Liberalismus als Kapitalismus. Nach Niederschlagung des Faschismus 1945 und des Kommunismus 1989/90 hat der Liberalismus als Globalismus (die erste politische Theorie), den Sieg davon getragen. The Great Reset ist vollzogen, und nur das Große Erwachen kann eine Kehrtwende herbeiführen. Dies ist der nächste Weltkrieg, der nur als Glaubenskrieg möglich ist:
"Es gibt nur zwei Parteien auf der Welt: die globalistische Partei des Great Resets und die antiglobalistische Partei des Großen Erwachens. Und nichts in der Mitte. Dazwischen befindet sich der Abgrund. Er will mit Meeren von Blut gefüllt werden. [...] Der Kampf wird universell. Die Demokratische Partei der USA und ihre globalistischen Stellvertreter - einschließlich aller High-Tech-Industrien und der Großfinanz - sind ab sofort eine klare Verkörpberung des absolut Bösen. Das große Böse hat sich auf amerikanischem Boden eingenistet. Vom Zentrum der Hölle aus beginnt nun die letzte Revolte, das große Erwachen." (54)
Für den Sieg benötigt das Große Erwachen eine Ideologie, und das ist die "vierte politische Theorie", die Dugin in 21. Punkten vorstellt, ohne jedoch ihren Inhalt zu verraten. Er liefert damit keine Anhaltspunkte für eine Verschwörungstheorie (die man, so wie jede andere Theorie überprüfen könnte), sondern nur Andeutungen einer Politik des Ominösen, leider oft sogar des Obskuren: "Das Große Erwachen ist spontan, größtenteils unbewusst, intuitiv und blind. Es ist keineswegs Ausdrucksmöglichkeit für Bewusstsein, für eine Schlussfolgerung, für eine tiefe historische Analyse." (32)
Das Große Erwachen "darf nicht übereilt mit ideologischen Details [...] aufgeladen werden. Das Große Erwachen ist etwas Organischeres, Spontaneres und gleichzeitig Tektonisches. Auf diese Art wird die Menschheit plötzlich vom Bewusstsein von der Nähe ihres baldigen Endes erleuchtet. [...] Da Große Erwachen ist die spontane Antwort der menschlichen Massen auf den Great Reset." (33)
"Die Vierte Politische Theorie ist eine Einladung zur Suche nach einer Alternative zu dem im Zerfall begriffenen Liberalismus." (57) Das klingt nach einem offenen Programm, ist aber nur eine rhetorische Floskel. Ein offenes Forum, wo interessierte Menschen dieser Einladung nachkommen könnten, existiert nicht. "Die Vierte Politische Theorie fordert alle zum Kampf auf." (59) Dieser Aufruf zum Kampf ist das eigentliche Programm Dugins, und ein Großteil seiner "theoretischen Grundlagen" ist die Entlarvung des Feindes. Diese gipfelt - bemerkenswerter im Kapitel "Der innere Feind" in der Selbstentlarvung: "Eine politische Ideologie kann nicht existieren, wenn das Paar Freund/Feind ausgelöscht wird. Sie verliert ihre Identität und kann in Zukunft nicht mehr effektiv sein. Keinen Feind zu haben, bedeutet ideologischen Selbstmord zu begehen." (84)
Philosophische Beurteilung (Kommentar HTH)
Es ist rein äußerlich, aber vermutlich kein Zufall, dass die Bücher von Schwab und Dugin das gleiche Format haben. Was Dugin seinem Feind Popper vorwirft - er wolle alle Feinde der offenen Gesellschaft vernichten ("Er lehnt die Zweite und Dritte Politische Theorie nicht nur ab, sondern kriminalisiert sie und ruft zu ihrer totalen Auslöschung auf." 90) - das macht Dugin zu seinem eigenen Programm: die Vernichtung des Bösen in Form des Liberalismus, und damit einhergehend der Demokratien, der Menschenrechte, der offenen Gesellschaft und "aller Produkte dieses liberalen Systems". Der Feind, den Dugin in den analytischen Teilen durchaus subtil entlarvt, dient nun als Mittel zum Zweck, um den Endkampf als totalen Krieg auszurufen: "Keinen Feind zu haben, bedeutet ideologischen Selbstmord zu begehen." (84)
Die logische Konsequenz dieser Feindbildideologie ist der Aufruf zum Kampf; direkt - "Die Vierte Politische Theorie fordert alle zum Kampf auf" (59) - oder indirekt, durch ständige Wiederholungen - "Der Name des Feindes ist westliche Moderne", "Warum der Liberalismus das absolute Übel ist". Der unipolare Globalismus soll im bipolaren Endkampf besiegt werden. Mit dieser Ideologe verkommen die in der Analyse gewonnen essenziellen Aussagen (das ist die hohe Kunst philosophischer Betrachtungen des Großen und Ganzen) zu einem oberflächlichen Mantra (das ist die ewige Wiederkehr des Gleichen anstelle neuer Argumente). Der Gipfel von Dugins Nivellierungen ist Punkt 7: "Gegen Kapitalismus, Sklaverei und Aufklärung".
Es wäre falsch, diese Gleichsetzung von Sklaverei und Aufklärung als Rückfall in das finstere Mittelalter zu diffamieren. Zumal das Mittelalter nicht gar so finster war, wie es aufgrund oberflächlicher Betrachtungen zu einem weit verbreiteten Vorurteil wurde. Egon Friedell hat dieses Vorurteil in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" im Kapitel "Die Seele des Mittelalters" überwunden und in diesem Kapitel auch das Wesen des Universalienstreits (Nominalisten gegen Realisten) skizziert (siehe Kapitel Egon Friedell im Anhang).
Friedell beschreibt das Mittelalter als philosophisches Zeitalter mit kindlicher Denkungsart. Beides passt zusammen, denn Philosophie beginnt mit der Frage "Warum?" und endet immer dann, wenn man den Kindern diese lästige Frage ausgetrieben hat. Nur jene Minderheit der Kinder, die sich diese Frage nicht austreiben und nicht verbieten lässt (aus Starrsinn oder aus Berufung), nur diese wenigen Kinder bleiben Philosophen. Naivität ist somit die ursprüngliche Geisteshaltung jedes Philosophen, die man, wenn man Friedell glauben darf, im Mittelalter noch ausleben durfte. Die Rückkehr ins Mittelalter könnte daher in der Theorie des Erwachens durchaus als Fortschritt interpretiert werden. Dagegen spricht aber die Erkenntnis des aufgeklärten und aufklärenden Philosophen: die Rückkehr in das Mittelalter wäre nur durch künstliche Naivität möglich. Und die ist nicht wahrhaft naiv, somit nicht natürlich und nicht authentisch, so wie die künstliche Intelligenz selten intelligent, sondern meistens nur künstlich ist.
Wenn man Dugins Geisteshaltung nicht als mittelalterlich bezeichnen kann, so doch als finster. Die Erweckung, die er anstrebt, soll ausdrücklich nicht zur Erhellung der Massen beitragen. Ganz im Gegenteil. In einer ziemlich abstrusen "weltbürgerlichen" Positionierung der vierten politischen Theorie ("Wahrer Universalismus basiert auf der Pluralität der Subjekte" 69), fordert er geradezu liberalistisch die Berücksichtigung aller Rechtssysteme, vom islamischen, über das indische bis hin zu konfuzianischen Traditionen und archaischen Systemen (63).
Insbesondere Dugins Hinwendung zur indischen Philosophie ("Inspiration aus dem Osten") ist oberflächlich und obskur. So will er offenbar das Kastenwesen als Alternative zur liberalen Demokratie etablieren und skizziert der Reihe nach die Programme für die erste Kaste (Brahmanen, Philosophen), die zweite Kaste (Kshatriyas, Krieger, Aktivisten) und die dritte Kaste (Vaishyas, Bauern, Landleute): "Was können wir jenseits dieses elitären Ansatzes [der ersten und zweiten Kaste] vorschlagen? Der Hauptgedanke ist, ein drittes Bildungsniveau für die absolute Mehrheit der Bevölkerung zu organisieren, das mit der Wiederherstellung der traditionellen Familie und der traditionellen Lebensweise mit der Landwirtschaft verbunden sein sollte. Das Bauerntum ist die Antwort. [...] Wir müssen das System der autarken, auf kleinen Dörfern basierenden Agrargesellschaften wiederherstellen." (76)
Es ist durchaus subtil und absolut legitim, die Provokation des Historikers Niall Ferguson ("Der Westen und der Rest der Welt") mit der Aussage "Der Westen ist nur ein Tel des Rests" zu konterkarieren, doch die totale Nivellierung des Ostens (Islamische Länder, Indien, China und dazu noch Afrika), sowie die nicht mehr naive, sondern ganz einfach weltfremde, dümmliche Annahme, diese würden sich gegen den Einen Großen Feind (EGF) vereinen und hunderte, nein tausende divergierende Interessen ganz einfach im Interesse des Endsiegs für alle Zeit begraben und vergessen - das ist der Größte denkbare Unsinn (GDU), der nur noch übertroffen wird von der Idee, man könnte ein System, das vor Jahrtausenden in Indien entstanden ist und sich teilweise bis heute auf dem Subkontinent halten konnte, revitalisieren und sogar als politische Grundlage von Gesellschaften oder Staaten außerhalb Indiens implementieren.
Zusammengefasst: GDU ist nicht die Kraft, die EGF und seine Speerspitze WEF in die Schranken weisen oder gar vernichten könnte.
Egon Friedell
Im zweiten Kapitel der Kulturgeschichte der Neuzeit betrachtet Egon Friedell "Die Seele des Mittelalters" und läutet es mit einem Zitat von Johann Nestroy ein: "Wie die Welt noch im Finstern war, war der Himmel so hell, und seit die Welt so im Klaren ist, hat sich der Himmel verfinstert."
Kein Verhältnis zum Geld (vgl den Essay: Gott und Geld)
Einen infantilen Zug können wir auch darin erblicken, daß der mittelalterliche Mensch kein rechtes Verhältnis zum Geld hatte. Sehr liebenswürdig drückt dies Sombart aus, indem er sagt: »Man hat zur wirtschaftlichen Tätigkeit seelisch etwa dieselben Beziehungen wie das Kind zum Schulunterricht.« Dies bedeutet zweierlei: die Arbeit ist bloße Sache des Ehrgeizes; und sie wird überhaupt nur geleistet, wenn es unbedingt sein muß. Dem mittelalterlichen Handwerker war das Wichtigste die Güte und Solidität der Leistung: Begriffe wie Schundware und Massenmanufaktur waren ihm völlig unbekannt; er stand persönlich hinter seinem Werk und trat dafür mit seiner Ehre ein wie ein Künstler. Er konnte es sich aber auch leisten, nicht nur viel gewissenhafter, sondern auch viel fauler zu sein als ein heutiger Arbeiter, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens waren seine Bedürfnisse überhaupt geringer; zweitens waren sie viel leichter zu befriedigen, eventuell auch bei einem völlig arbeitslosen Leben, da das Almosenwesen viel entwickelter war; drittens hätte eine Steigerung über die normale Einkommensstufe hinaus wenig Sinn gehabt, da der Lebensstandard jedes einzelnen ziemlich genau fixiert war und solche Spannungen des wirtschaftlichen Etats, wie sie heutzutage in jedem Provinzstädtchen zu beobachten sind, nicht existierten: jeder Stand hatte sozusagen sein bestimmtes Hohlmaß an Komfort und Genuß zugeteilt; den Stand zu wechseln war aber in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung fast unmöglich, da die Stände als von Gott geschaffene Realitäten angesehen wurden, wie etwa die einzelnen Gattungen des Tierreichs. Die mittelalterliche Wirtschaft ist aus der Agrargenossenschaft hervorgegangen, die auf nahezu kommunistischer Basis ruhte; aber auch in ihrer späteren Entwicklung zeigt sie in den von ihr geschaffenen Organisationen: in den Zünften der Handwerker, in den Gilden der Kaufleute die Tendenz nach einer ökonomischen Gleichstellung oder doch wenigstens einer Angleichung ihrer Mitglieder: man erwirbt, um zu leben, und lebt nicht, um zu erwerben. Außerdem hatte sich durch das ganze Mittelalter, das das Evangelium eben noch ernst nahm, das mehr oder minder stark ausgeprägte Gefühl erhalten, daß der Mammon vom Teufel sei, wie denn auch das Zinsnehmen stets religiöse Bedenken erregte. Und schließlich war diese jugendliche Welt überhaupt noch von der gesunden Empfindung durchdrungen, daß die Arbeit kein Segen, sondern eine Last und ein Fluch sei. Man denke sich aber nun, welchen Unterschied in der gesamten Gefühlslage einer Kultur es ausmachen muß, wenn das Geld nicht die allgemeine Gottheit ist, der jeder willenlos opfert und die alle Schicksale souverän modelt und lenkt.
Universalia sunt realia
Aber wenn diese Menschen Kinder waren, so waren sie jedenfalls sehr kluge, begabte und reife Kinder. Die Ansicht, daß sie in einer dumpfen Gebundenheit gelebt und geschaffen hätten, läßt sich zumindest für das hohe Mittelalter nicht aufrechterhalten. Sie waren äußerst klare Denker, helle Köpfe, Meister des kunstvollen Schließens und Folgerns, Virtuosen der Begriffsdichtung, in ihrer Baukunst voll konstruktiver Kraft und Feinheit des Kalküls, in ihrer Plastik von einer bewundernswerten Pracht und Innigkeit der Wirklichkeitstreue und in ihren gesamten Lebensäußerungen von einem Stilgefühl, das seither nicht wieder erreicht worden ist. Ebensowenig stichhaltig ist die Behauptung, daß die Menschheit des Mittelalters aus lauter Typen bestanden habe. Es fehlte in Staat und Kirche, in Kunst und Wissenschaft keineswegs an scharf profilierten, unverwechselbaren Persönlichkeiten. Die Selbstbekenntnisse eines Augustinus oder Abälard offenbaren eine fast unheimliche Fähigkeit der Introspektion und Selbstanalyse, die eine sehr ausgebildete und nuancierte Individualität zur Voraussetzung hat; die Porträtstatuen zeigen uns Gestalten von machtvollster Eigenart und zugleich die Gabe der Bildhauer, diese Einmaligkeit voll zu erfassen; die Nonne Roswitha hat schon im zehnten Jahrhundert das Drama, die individuellste aller Künste, in fast allen seinen Gattungen: als Historie, als Prosa, als comédie larmoyante, als erotische Tragödie zu hoher Blüte gebracht und Figuren von einer Zartheit und Durchsichtigkeit geschaffen, die geradezu an Maeterlinck erinnert. Das ganze Vorurteil vom »typischen« Menschen des Mittelalters dürfte seinen Grund darin haben, daß es ein eminent philosophisches Zeitalter war. Das bedarf einer kleinen Erläuterung.
Der Zentralgedanke des Mittelalters, gleichsam das unsichtbare Motto, das über ihm schwebt, lautet: universalia sunt realia; nur die Ideen sind wirklich. Der große »Universalienstreit«, der fast das ganze Mittelalter erfüllt, geht niemals um den eigentlichen Grundsatz, sondern nur um dessen Formulierungen. Es gab bekanntlich drei Richtungen, die einander in der Herrschaft ablösten. Der »extreme Realismus« behauptet: universalia sunt ante rem, das heißt: sie gehen den konkreten Dingen vorher, und zwar sowohl dem Range nach wie als Ursache; der »gemäßigte Realismus« erklärt: universalia sunt in re, das heißt: sie sind in den Dingen als deren wahres Wesen enthalten; der »Nominalismus« stellt den Grundsatz auf: universalia sunt post rem: sie sind aus den Dingen abgezogen, also bloße Verstandesschöpfungen, und er bedeutet daher in der Tat eine Auflösung des Realismus: seine Herrschaft gehört aber, wie wir später sehen werden, nicht mehr dem eigentlichen Mittelalter an.
Und nun erwäge man, welche ungeheure Bedeutung es für das allgemeine Weltbild haben muß, wenn überall von der Voraussetzung ausgegangen wird, daß die Universalien, die Begriffe, die Ideen, die Gattungen das eigentlich Reale sind: eine Annahme, die bekanntlich der größte Philosoph des Altertums zum Kernstück seines Systems gemacht hat. Aber Plato hat diese Ansicht nur gelehrt, das Mittelalter hat sie gelebt. Die mittelalterliche Menschheit bildet ein Universalvolk, in dem die klimatischen, nationalen, lokalen Differenzen nur als sehr sekundäre Merkmale zur Geltung kommen; sie steht unter der nominellen Herrschaft eines Universalkönigs, eines Cäsars, der diese Regierung zwar fast immer nur theoretisch ausgeübt, in seinen Ansprüchen aber nie aufgegeben hat, und unter der tatsächlichen Herrschaft einer Universalkirche oder vielmehr zweier Kirchen, die beide behaupten, die universale zu sein: die eine, indem sie sich die allgemeine, die katholische, die andere, indem sie sich die allein wahre, die orthodoxe nennt; sie hat, wie wir bereits sahen, eine Universalwirtschaft, die die Lebenshaltung, Erwerbsgebarung, Produktion und Konsumtion jedes einzelnen möglichst gleichmäßig zu gestalten sucht; sie hat einen Universalstil, der alle Kunstschöpfungen von der Schüssel bis zum Dom, vom Türnagel bis zur Königspfalz durchdringt und gestaltet: die Gotik; sie hat eine Universalsitte, deren Anstandsregeln, Grußformen, Lebensideale überall gelten, wo abendländische Menschen ihren Fuß hinsetzen: die ritterliche Etikette; sie hat eine Universalwissenschaf. Die die oberste Spitze, den Sinn und die Richtschnur alles Denkens bildet: die Theologie; sie hat eine Universalethik: die evangelische, ein Universalrecht: das römische, und eine Universalsprache: das Lateinische. Sie bevorzugt in der Skulptur das Ornamentale, also das Begriffliche, in der Architektur das Abstrakte, das Konstruktive, sie reagiert überhaupt gänzlich unnaturalistisch (und zwar ist der mangelnde Naturalismus keineswegs auf mangelndes Können zurückzuführen: daß er im Bereich der technischen Möglichkeit lag, zeigen die Porträtplastiken; wie ja überhaupt Naturalismus niemals einen künstlerischen Höhepunkt bezeichnet, sondern entweder ein roher Anfang ist oder ein absichtliches, programmatisches Zurückgehen auf frühere Stufen); ja selbst die Natur ist für diese Menschen eine Abstraktion, eine vage, fast unwirkliche Idee, die eigentlich nur ein Leben in der Negation führt: als Gegensatz des Reiches des Geistes und der Gnade.
Die Weltkathedrale
So baut sich die mittelalterliche Welt auf als eine wunderbare Stufenordnung von geglaubten Abstraktionen, gelebten Ideen, in feiner und scharfer Gliederung ansteigend wie eine Kathedrale oder eine jener kunstvollen »Summen« der Scholastiker: auf der einen Seite der weltliche Trakt mit seinen Bauern und Bürgern, Rittern und Lehnsleuten, Grafen und Herzogen, Königen und Kaisern, auf der anderen Seite der geistliche Trakt, von dem breiten Fundament aller Gläubigen emporklimmend zu den Priestern, den Äbten, den Bischöfen, den Päpsten, den Konzilien und darüber hinaus zur Rangleiter der Engel, deren höchste zu Füßen Gottes sitzen: eine große, wohldurchdachte und wohlgeordnete Hierarchie von Universalien. Diese Menschheit konnte in der Tat mit vollem philosophischem Bewußtsein und nicht als bloße dialektische Spielerei und Spitzfindigkeit den Satz aufstellen: universalia sunt realia.
Die Physik des Glaubens
Die Herrschaft dieses wirklichkeitsfremden Grundsatzes war nur deshalb so dauerhaft, ja überhaupt möglich, weil die Welt für den mittelalterlichen Menschen kein wissenschaftliches Phänomen war, sondern eine Tatsache des Glaubens. Die geistige Richtschnur war im wesentlichen immer die von Anselm von Canterbury und schon lange vorher von Augustinus aufgestellte Norm: neque enim quaero intelligere, ut credam, sed credo, ut intelligam: ich will nicht erkennen, um zu glauben, sondern glauben, um zu erkennen; »denn eher wird die menschliche Weisheit sich selbst am Felsen des Glaubens einrennen als diesen Felsen einrennen«. Die damaligen Menschen waren eben noch frei von dem modernen Aberglauben, daß der ausschließliche Zweck menschlichen Denkens und Forschern eine möglichst lückenlose Durchdringung und Beherrschung der Erfahrungswelt sei. Was suchten sie zu wissen? Zwei Dinge: Deum et animam! Deum et animam, sagt Augustinus mit vollkommen unmißverständlicher Bestimmtheit, scire cupio. Nihilne plus? Nihil omnino. Physik ist für ihn vor allem die Lehre von Gott; was sie sonst noch lehren kann, ist entbehrlich, da es nichts zum Heile beiträgt. Und drei Vierteljahrtausende später, auf der Höhe des Mittelalters, erklärt Hugo von Sankt Victor, das Wissen habe nur insofern Wert, als es der Erbauung diene, ein Wissen um des Wissens willen sei heidnisch; und Richard von Sankt Victor fügt hinzu, der Verstand sei kein geeignetes Mittel zur Erforschung der Wahrheit. Dies kann uns nur so lange befremden, als wir uns nicht daran erinnern, daß gerade die höchsten Wahrheiten des Christentums übervernünftig sind, aber darum keineswegs wider vernünftig, wie dies der klassische Philosoph des Katholizismus, Thomas von Aquino, klar präzisiert hat, und daß schon an der Schwelle der Kirchengeschichte der berühmte Satz Tertullians steht: » Crucifixus est dei filius; non pudet, quia pudendum est. Et mortuus est dei filius; prorsus credibile est, quia ineptum est. Et sepultus resurrexit; certum est, quia impossibile est: Gekreuzigt wurde der Gottessohn; das ist keine Schande, weil es eine ist. Und gestorben ist der Gottessohn; das ist glaubwürdig, weil es ungereimt ist. Und begraben ist er auferstanden; das ist ganz sicher, weil es unmöglich ist.« Man kann, wenn man Wert darauflegt, auch hierin wieder einen kindlichen Zug erblicken, denn in der Tat erscheinen den Kindern gerade die ungereimtesten Dinge als die glaubwürdigsten, die unmöglichsten als die gewissesten: sie bringen einem Märchen viel mehr Vertrauen entgegen als einer nüchternen Erzählung und halten überhaupt alle Phänomene, die den Gang der natürlichen Kausalität durchbrechen, nicht nur für die höheren, sondern auch für die realeren. Genau dies war auch die »Physik« des mittelalterlichen Menschen: für ihn war das Wunder das eigentlich Wirkliche, die natürliche Erscheinungswelt nur der blasse Abglanz und wesenlose Schatten einer höheren, lichteren und wahreren Geisteswelt. Kurz: er führte ein magisches Dasein. Und wiederum müssen wir uns fragen, ob ihn hier nicht eine tiefere, obschon dunklere Erkenntnis leitete und er nicht der Wurzel des Geheimnisses näher war als wir.
Alles ist
Jene feinen und gefährlichen Spekulationen wie »Phänomenalismus«, »Skeptizismus«, »Agnostizismus« und dergleichen waren dem Mittelalter durchaus nicht fremd. In den »Selbstgesprächen« des Augustinus finden sich Stellen wie diese: Tu, qui vis te nosse, scis esse te? Scio. Unde scis? Nescio. Simplicem te sentis an multiplicem? Nescio. Moveri te scis? Nescio. Cogitare te scis? Scio. Das ist ganz und gar die Deduktion, mit der Descartes einen neuen Abschnitt des menschlichen Denkens eröffnet hat: Cogito ergo sum. Daß Körper sind, heißt es in den »Konfessionen«, können wir freilich nur glauben; aber dieser Glaube ist notwendig für die Praxis: das ist ganz die Art, wie Berkeley am Beginn des achtzehnten Jahrhunderts seinen idealistischen Dogmatismus begründet hat. Aber, meint Augustinus, auch zur Erkenntnis des Willens anderer Menschen bedürfen wir des Glaubens: diese Feststellung klingt geradezu schopenhauerisch. Mag es auch kein Übel geben, sagt er ein andermal, so gibt es doch unzweifelhaft die Furcht vor dem Übel: das ist allermodernster Psychologismus. Aber der große Unterschied derartiger Spekulationen von den Untersuchungen der neueren Philosophie besteht eben darin, daß sie sich alle auf dem festen und unverrückbaren Grundstein des Glaubens erheben, daß sie vom Glauben ausgehen, während die Erkenntnistheorie der Neuzeit bestenfalls in den Glauben mündet. Die Schöpfung eine einzige große Heilstatsache, die Welt ein Phänomen des Glaubens: an diesem Elementarsatz hat wohl kaum irgendein mittelalterlicher Mensch jemals gezweifelt. Man hatte eben die Lehre Jesu voll begriffen, deren Kern in der ernsten und einfachen Mahnung besteht, zu glauben; nicht daran zu zweifeln, daß diese Welt ist und daß sie ein Werk Gottes ist; daß alles ist, auch das Geringste und Niedrigste: die Ärmsten und Einfältigsten, die Kinder, die Sünder, die Lilien und Sperlinge; daß dies alles ist, wenn man daran glaubt oder, was dasselbe ist, wenn man es hebt.