Egon Friedell
Im zweiten Kapitel der Kulturgeschichte der Neuzeit betrachtet Egon Friedell "Die Seele des Mittelalters" und läutet es mit einem Zitat von Johann Nestroy ein: "Wie die Welt noch im Finstern war, war der Himmel so hell, und seit die Welt so im Klaren ist, hat sich der Himmel verfinstert."
Kein Verhältnis zum Geld (vgl den Essay: Gott und Geld)
Einen infantilen Zug können wir auch darin erblicken, daß der mittelalterliche Mensch kein rechtes Verhältnis zum Geld hatte. Sehr liebenswürdig drückt dies Sombart aus, indem er sagt: »Man hat zur wirtschaftlichen Tätigkeit seelisch etwa dieselben Beziehungen wie das Kind zum Schulunterricht.« Dies bedeutet zweierlei: die Arbeit ist bloße Sache des Ehrgeizes; und sie wird überhaupt nur geleistet, wenn es unbedingt sein muß. Dem mittelalterlichen Handwerker war das Wichtigste die Güte und Solidität der Leistung: Begriffe wie Schundware und Massenmanufaktur waren ihm völlig unbekannt; er stand persönlich hinter seinem Werk und trat dafür mit seiner Ehre ein wie ein Künstler. Er konnte es sich aber auch leisten, nicht nur viel gewissenhafter, sondern auch viel fauler zu sein als ein heutiger Arbeiter, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens waren seine Bedürfnisse überhaupt geringer; zweitens waren sie viel leichter zu befriedigen, eventuell auch bei einem völlig arbeitslosen Leben, da das Almosenwesen viel entwickelter war; drittens hätte eine Steigerung über die normale Einkommensstufe hinaus wenig Sinn gehabt, da der Lebensstandard jedes einzelnen ziemlich genau fixiert war und solche Spannungen des wirtschaftlichen Etats, wie sie heutzutage in jedem Provinzstädtchen zu beobachten sind, nicht existierten: jeder Stand hatte sozusagen sein bestimmtes Hohlmaß an Komfort und Genuß zugeteilt; den Stand zu wechseln war aber in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung fast unmöglich, da die Stände als von Gott geschaffene Realitäten angesehen wurden, wie etwa die einzelnen Gattungen des Tierreichs. Die mittelalterliche Wirtschaft ist aus der Agrargenossenschaft hervorgegangen, die auf nahezu kommunistischer Basis ruhte; aber auch in ihrer späteren Entwicklung zeigt sie in den von ihr geschaffenen Organisationen: in den Zünften der Handwerker, in den Gilden der Kaufleute die Tendenz nach einer ökonomischen Gleichstellung oder doch wenigstens einer Angleichung ihrer Mitglieder: man erwirbt, um zu leben, und lebt nicht, um zu erwerben. Außerdem hatte sich durch das ganze Mittelalter, das das Evangelium eben noch ernst nahm, das mehr oder minder stark ausgeprägte Gefühl erhalten, daß der Mammon vom Teufel sei, wie denn auch das Zinsnehmen stets religiöse Bedenken erregte. Und schließlich war diese jugendliche Welt überhaupt noch von der gesunden Empfindung durchdrungen, daß die Arbeit kein Segen, sondern eine Last und ein Fluch sei. Man denke sich aber nun, welchen Unterschied in der gesamten Gefühlslage einer Kultur es ausmachen muß, wenn das Geld nicht die allgemeine Gottheit ist, der jeder willenlos opfert und die alle Schicksale souverän modelt und lenkt.
Universalia sunt realia
Aber wenn diese Menschen Kinder waren, so waren sie jedenfalls sehr kluge, begabte und reife Kinder. Die Ansicht, daß sie in einer dumpfen Gebundenheit gelebt und geschaffen hätten, läßt sich zumindest für das hohe Mittelalter nicht aufrechterhalten. Sie waren äußerst klare Denker, helle Köpfe, Meister des kunstvollen Schließens und Folgerns, Virtuosen der Begriffsdichtung, in ihrer Baukunst voll konstruktiver Kraft und Feinheit des Kalküls, in ihrer Plastik von einer bewundernswerten Pracht und Innigkeit der Wirklichkeitstreue und in ihren gesamten Lebensäußerungen von einem Stilgefühl, das seither nicht wieder erreicht worden ist. Ebensowenig stichhaltig ist die Behauptung, daß die Menschheit des Mittelalters aus lauter Typen bestanden habe. Es fehlte in Staat und Kirche, in Kunst und Wissenschaft keineswegs an scharf profilierten, unverwechselbaren Persönlichkeiten. Die Selbstbekenntnisse eines Augustinus oder Abälard offenbaren eine fast unheimliche Fähigkeit der Introspektion und Selbstanalyse, die eine sehr ausgebildete und nuancierte Individualität zur Voraussetzung hat; die Porträtstatuen zeigen uns Gestalten von machtvollster Eigenart und zugleich die Gabe der Bildhauer, diese Einmaligkeit voll zu erfassen; die Nonne Roswitha hat schon im zehnten Jahrhundert das Drama, die individuellste aller Künste, in fast allen seinen Gattungen: als Historie, als Prosa, als comédie larmoyante, als erotische Tragödie zu hoher Blüte gebracht und Figuren von einer Zartheit und Durchsichtigkeit geschaffen, die geradezu an Maeterlinck erinnert. Das ganze Vorurteil vom »typischen« Menschen des Mittelalters dürfte seinen Grund darin haben, daß es ein eminent philosophisches Zeitalter war. Das bedarf einer kleinen Erläuterung.
Der Zentralgedanke des Mittelalters, gleichsam das unsichtbare Motto, das über ihm schwebt, lautet: universalia sunt realia; nur die Ideen sind wirklich. Der große »Universalienstreit«, der fast das ganze Mittelalter erfüllt, geht niemals um den eigentlichen Grundsatz, sondern nur um dessen Formulierungen. Es gab bekanntlich drei Richtungen, die einander in der Herrschaft ablösten. Der »extreme Realismus« behauptet: universalia sunt ante rem, das heißt: sie gehen den konkreten Dingen vorher, und zwar sowohl dem Range nach wie als Ursache; der »gemäßigte Realismus« erklärt: universalia sunt in re, das heißt: sie sind in den Dingen als deren wahres Wesen enthalten; der »Nominalismus« stellt den Grundsatz auf: universalia sunt post rem: sie sind aus den Dingen abgezogen, also bloße Verstandesschöpfungen, und er bedeutet daher in der Tat eine Auflösung des Realismus: seine Herrschaft gehört aber, wie wir später sehen werden, nicht mehr dem eigentlichen Mittelalter an.
Und nun erwäge man, welche ungeheure Bedeutung es für das allgemeine Weltbild haben muß, wenn überall von der Voraussetzung ausgegangen wird, daß die Universalien, die Begriffe, die Ideen, die Gattungen das eigentlich Reale sind: eine Annahme, die bekanntlich der größte Philosoph des Altertums zum Kernstück seines Systems gemacht hat. Aber Plato hat diese Ansicht nur gelehrt, das Mittelalter hat sie gelebt. Die mittelalterliche Menschheit bildet ein Universalvolk, in dem die klimatischen, nationalen, lokalen Differenzen nur als sehr sekundäre Merkmale zur Geltung kommen; sie steht unter der nominellen Herrschaft eines Universalkönigs, eines Cäsars, der diese Regierung zwar fast immer nur theoretisch ausgeübt, in seinen Ansprüchen aber nie aufgegeben hat, und unter der tatsächlichen Herrschaft einer Universalkirche oder vielmehr zweier Kirchen, die beide behaupten, die universale zu sein: die eine, indem sie sich die allgemeine, die katholische, die andere, indem sie sich die allein wahre, die orthodoxe nennt; sie hat, wie wir bereits sahen, eine Universalwirtschaft, die die Lebenshaltung, Erwerbsgebarung, Produktion und Konsumtion jedes einzelnen möglichst gleichmäßig zu gestalten sucht; sie hat einen Universalstil, der alle Kunstschöpfungen von der Schüssel bis zum Dom, vom Türnagel bis zur Königspfalz durchdringt und gestaltet: die Gotik; sie hat eine Universalsitte, deren Anstandsregeln, Grußformen, Lebensideale überall gelten, wo abendländische Menschen ihren Fuß hinsetzen: die ritterliche Etikette; sie hat eine Universalwissenschaf. Die die oberste Spitze, den Sinn und die Richtschnur alles Denkens bildet: die Theologie; sie hat eine Universalethik: die evangelische, ein Universalrecht: das römische, und eine Universalsprache: das Lateinische. Sie bevorzugt in der Skulptur das Ornamentale, also das Begriffliche, in der Architektur das Abstrakte, das Konstruktive, sie reagiert überhaupt gänzlich unnaturalistisch (und zwar ist der mangelnde Naturalismus keineswegs auf mangelndes Können zurückzuführen: daß er im Bereich der technischen Möglichkeit lag, zeigen die Porträtplastiken; wie ja überhaupt Naturalismus niemals einen künstlerischen Höhepunkt bezeichnet, sondern entweder ein roher Anfang ist oder ein absichtliches, programmatisches Zurückgehen auf frühere Stufen); ja selbst die Natur ist für diese Menschen eine Abstraktion, eine vage, fast unwirkliche Idee, die eigentlich nur ein Leben in der Negation führt: als Gegensatz des Reiches des Geistes und der Gnade.
Die Weltkathedrale
So baut sich die mittelalterliche Welt auf als eine wunderbare Stufenordnung von geglaubten Abstraktionen, gelebten Ideen, in feiner und scharfer Gliederung ansteigend wie eine Kathedrale oder eine jener kunstvollen »Summen« der Scholastiker: auf der einen Seite der weltliche Trakt mit seinen Bauern und Bürgern, Rittern und Lehnsleuten, Grafen und Herzogen, Königen und Kaisern, auf der anderen Seite der geistliche Trakt, von dem breiten Fundament aller Gläubigen emporklimmend zu den Priestern, den Äbten, den Bischöfen, den Päpsten, den Konzilien und darüber hinaus zur Rangleiter der Engel, deren höchste zu Füßen Gottes sitzen: eine große, wohldurchdachte und wohlgeordnete Hierarchie von Universalien. Diese Menschheit konnte in der Tat mit vollem philosophischem Bewußtsein und nicht als bloße dialektische Spielerei und Spitzfindigkeit den Satz aufstellen: universalia sunt realia.
Die Physik des Glaubens
Die Herrschaft dieses wirklichkeitsfremden Grundsatzes war nur deshalb so dauerhaft, ja überhaupt möglich, weil die Welt für den mittelalterlichen Menschen kein wissenschaftliches Phänomen war, sondern eine Tatsache des Glaubens. Die geistige Richtschnur war im wesentlichen immer die von Anselm von Canterbury und schon lange vorher von Augustinus aufgestellte Norm: neque enim quaero intelligere, ut credam, sed credo, ut intelligam: ich will nicht erkennen, um zu glauben, sondern glauben, um zu erkennen; »denn eher wird die menschliche Weisheit sich selbst am Felsen des Glaubens einrennen als diesen Felsen einrennen«. Die damaligen Menschen waren eben noch frei von dem modernen Aberglauben, daß der ausschließliche Zweck menschlichen Denkens und Forschern eine möglichst lückenlose Durchdringung und Beherrschung der Erfahrungswelt sei. Was suchten sie zu wissen? Zwei Dinge: Deum et animam! Deum et animam, sagt Augustinus mit vollkommen unmißverständlicher Bestimmtheit, scire cupio. Nihilne plus? Nihil omnino. Physik ist für ihn vor allem die Lehre von Gott; was sie sonst noch lehren kann, ist entbehrlich, da es nichts zum Heile beiträgt. Und drei Vierteljahrtausende später, auf der Höhe des Mittelalters, erklärt Hugo von Sankt Victor, das Wissen habe nur insofern Wert, als es der Erbauung diene, ein Wissen um des Wissens willen sei heidnisch; und Richard von Sankt Victor fügt hinzu, der Verstand sei kein geeignetes Mittel zur Erforschung der Wahrheit. Dies kann uns nur so lange befremden, als wir uns nicht daran erinnern, daß gerade die höchsten Wahrheiten des Christentums übervernünftig sind, aber darum keineswegs wider vernünftig, wie dies der klassische Philosoph des Katholizismus, Thomas von Aquino, klar präzisiert hat, und daß schon an der Schwelle der Kirchengeschichte der berühmte Satz Tertullians steht: » Crucifixus est dei filius; non pudet, quia pudendum est. Et mortuus est dei filius; prorsus credibile est, quia ineptum est. Et sepultus resurrexit; certum est, quia impossibile est: Gekreuzigt wurde der Gottessohn; das ist keine Schande, weil es eine ist. Und gestorben ist der Gottessohn; das ist glaubwürdig, weil es ungereimt ist. Und begraben ist er auferstanden; das ist ganz sicher, weil es unmöglich ist.« Man kann, wenn man Wert darauflegt, auch hierin wieder einen kindlichen Zug erblicken, denn in der Tat erscheinen den Kindern gerade die ungereimtesten Dinge als die glaubwürdigsten, die unmöglichsten als die gewissesten: sie bringen einem Märchen viel mehr Vertrauen entgegen als einer nüchternen Erzählung und halten überhaupt alle Phänomene, die den Gang der natürlichen Kausalität durchbrechen, nicht nur für die höheren, sondern auch für die realeren. Genau dies war auch die »Physik« des mittelalterlichen Menschen: für ihn war das Wunder das eigentlich Wirkliche, die natürliche Erscheinungswelt nur der blasse Abglanz und wesenlose Schatten einer höheren, lichteren und wahreren Geisteswelt. Kurz: er führte ein magisches Dasein. Und wiederum müssen wir uns fragen, ob ihn hier nicht eine tiefere, obschon dunklere Erkenntnis leitete und er nicht der Wurzel des Geheimnisses näher war als wir.
Alles ist
Jene feinen und gefährlichen Spekulationen wie »Phänomenalismus«, »Skeptizismus«, »Agnostizismus« und dergleichen waren dem Mittelalter durchaus nicht fremd. In den »Selbstgesprächen« des Augustinus finden sich Stellen wie diese: Tu, qui vis te nosse, scis esse te? Scio. Unde scis? Nescio. Simplicem te sentis an multiplicem? Nescio. Moveri te scis? Nescio. Cogitare te scis? Scio. Das ist ganz und gar die Deduktion, mit der Descartes einen neuen Abschnitt des menschlichen Denkens eröffnet hat: Cogito ergo sum. Daß Körper sind, heißt es in den »Konfessionen«, können wir freilich nur glauben; aber dieser Glaube ist notwendig für die Praxis: das ist ganz die Art, wie Berkeley am Beginn des achtzehnten Jahrhunderts seinen idealistischen Dogmatismus begründet hat. Aber, meint Augustinus, auch zur Erkenntnis des Willens anderer Menschen bedürfen wir des Glaubens: diese Feststellung klingt geradezu schopenhauerisch. Mag es auch kein Übel geben, sagt er ein andermal, so gibt es doch unzweifelhaft die Furcht vor dem Übel: das ist allermodernster Psychologismus. Aber der große Unterschied derartiger Spekulationen von den Untersuchungen der neueren Philosophie besteht eben darin, daß sie sich alle auf dem festen und unverrückbaren Grundstein des Glaubens erheben, daß sie vom Glauben ausgehen, während die Erkenntnistheorie der Neuzeit bestenfalls in den Glauben mündet. Die Schöpfung eine einzige große Heilstatsache, die Welt ein Phänomen des Glaubens: an diesem Elementarsatz hat wohl kaum irgendein mittelalterlicher Mensch jemals gezweifelt. Man hatte eben die Lehre Jesu voll begriffen, deren Kern in der ernsten und einfachen Mahnung besteht, zu glauben; nicht daran zu zweifeln, daß diese Welt ist und daß sie ein Werk Gottes ist; daß alles ist, auch das Geringste und Niedrigste: die Ärmsten und Einfältigsten, die Kinder, die Sünder, die Lilien und Sperlinge; daß dies alles ist, wenn man daran glaubt oder, was dasselbe ist, wenn man es hebt.