2. März 2023 - Über "llegale Abholzung mit grünem Anstrich" berichtet ORF.at (.3.23) ausführlich auf Basis von Dokumenten, die das Recherchenetzwerk International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) vorgelegt hat. "140 Journalisten und Journalistinnen von rund 40 Medienunternehmen, darunter ORF und "profil", untersuchten im Zuge des Rechercheprojekts 'Deforestation Inc.' über neun Monate die Taktiken der vermeintlich nachhaltigen Holzindustrie." Dass "die" Holzindustrie "vermeintlich nachhaltig" sei, unterstellt, dass dies generell, oder auf einen Großteil der Holzindustrie zutreffe.
Das Buch "PELLETS" bemüht sich um eine differenzierte Betrachtungsweise. Ab sofort online das Kapitel 6: Klimawandel, Energiewende und der Wald.
PELLETS - Kapitel 6 + + + Wenn politische Maßnahmen notwendig werden, eine Entwicklung zu stoppen oder zumindest einzubremsen, stützen sich Politiker zur Legitimation ihrer Entscheidungen auf Erkenntnisse "der" Wissenschaft. Wie im Kapitel 7 (Was kann Wissenschaft leisten?) dargelegt, gibt es keine einheitliche Wissenschaft, sondern viele Wissenschaften mit vielen verschiedenen Methoden. Dieser - nach Feyerabend "anarchistische" Ansatz - erleichtert das Verständnis des Wissenschaftsstreites, der um die Nutzung des Waldes zur Energiegewinnung entbrannt ist.
Hier zusammengefasst die Hauptargumente von Wissenschaftern unterschiedlicher Lager, wobei immer zwei Fragen relevant sind: 1. Was behaupten die Wissenschafter und 2. wie versuchen sie, ihre Behauptungen durchzusetzen und die Deutungshoheit zu erlangen? Man muss vorweg festhalten, dass nicht jede Behauptung, die ein Wissenschafter aufstellt oder unterschreibt, automatisch wissenschaftlich ist. Nicht jeder Aussagesatz ist eine These - jede wissenschaftliche Untersuchung enthält auch Axiome, Prämissen, Postulate, willkürliche Behauptungen ebenso wie fundierte Begründungen, Meinungen, Vermutungen, Unterstellungen, nicht zuletzt ebenso viele Vorurteile wie Urteile. Für die sprachkritische Zuordnung einzelner Aussagen ist es nicht erforderlich, Experte in einem speziellen Fachgebiet zu sein.
1. Das Klima-Argument
Verbrennung von Holz zur Energie- und Wärmegewinnung führt zur Kohlenstoff-Schuld und zu einem initialen Anstieg der CO2-Emissionen. Jeder Kahlschlag vernichtet zudem Kohlenstoffspeicher.
EASAC-Wissenschafter Michael Norton, der Erfinder der "Kohlenstoff-Schuld", stellt fest, "dass die derzeitige Politik unfähig ist anzuerkennen, dass die Beseitigung der Kohlenstoffspeicher in Wäldern für die Bioenergienutzung zu einem initialen Anstieg der Emissionen führt." Wer den Politikern mangelnde Erkenntnisfähigkeit unterstellt und sich gleichzeitig bemüht, auf deren Entscheidungen einzuwirken, befindet sich in einer Zwickmühle. Wobei es nicht leichter wird, dieser zu entkommen, wenn man selbst die Anerkennung von Tatsachen verweigert.
Die EU-Verordnungen RED und RED II, die nicht nur Grenzwerte für Treibhausgase festsetzen, sondern auch die Anrechnung des CO2-Ausstoßes von Holz an den Orten, wo die Bäume gefällt werden (LULUCF), sind Tatsachen. Die Behauptung, es sei Etikettenschwindel, wenn die Anrechnung des CO2-Ausstoßes nicht am Ort der Verbrennung geschehe, scheint eine oberflächliche Betrachtung von Großkraftwerken wie Drax zu bestätigen. Bei genauer Betrachtung erweist sich diese Argumentation als Framing, als Eingrenzung auf einen Deutungsrahmen, der nur einen kleinen Ausschnitt einer komplexen Wirklichkeit abbildet.
Aus diesem Rahmen werden folgende Tatsachen ausgeblendet: Der Anteil der Holzbiomasse, der zu Pellets verarbeitet wird, ist minimal im Vergleich zum Gesamtvolumen des Holzes, das hochwertiger Nutzung in der Holzindustrie zugeführt wird. Dass die Zurechnung des CO2-Verbrauchs nur am Ort der Fällung möglich ist, um Mehrfachzählungen zu vermeiden, ist leicht nachvollziehbar, denn Holz wird in sehr vielen Branchen verwertet und natürlich auch exportiert. Ein Großteil des Holzes wird langfristig genutzt. Zwar werden Pellets meist im Jahr der Produktion verbraucht, doch Möbelstücke oder Bauholz bleiben in der Regel viele Jahre im Einsatz, bevor sie ihre letzte Verwendung in einem Fernwärmewerk finden. Sogar Zellstoff bleibt in den meisten Endprodukten länger gebunden, denn Zeitungspapier und Karton werden in den meisten Industrieländern recycelt.
Eine Kohlenstoffschuld würde entstehen, wenn ein lange im dynamischen Gleichgewicht bestehender Wald gerodet und die ehemalige Waldfläche nicht mehr aufgeforstet würde, wie es beispielsweise im heutigen kroatischen Karst während der Römerzeit geschehen ist. Ein nachhaltig bewirtschafteter Wald ist nicht nur nach-wachsend sondern auch vor-wachsend. Bei einem Kreislauf ist es müßig, darüber zu streiten, zu welchem Zeitpunkt die Kreislaufwirtschaft beginnt. Wo immer ein Baum gefällt wird, bleiben tausende Bäume stehen, die weiterhin Jahr für Jahr einen Ring zulegen, der zusätzliches CO2 speichert.
Ein einzelner Baum oder eine Waldfläche sind keine relevanten Bilanzierungselemente. Forstwirtschaft beschäftigt sich nicht mit einem einzelnen Baum, sondern mit dem Wald, wo alle Schritte von Naturverjüngung, Jungwaldpflege, Durchforstung, Reifung und Ernte simultan ablaufen - und damit auch die Kohlenstoffaufnahme aus der Atmosphäre und Kohlenstoffrückgabe an die Atmosphäre.
Sogar im Südosten der USA – der wichtigsten Quelle für Pelletsimporte von Drax und einer Handvoll europäischer Kraftwerke - ist die produktive bewaldete Fläche (timberland) seit den 1950er Jahren konstant geblieben, obwohl die Holzernte auf dieser Fläche im gleichen Zeitraum um 57 Prozent zugenommen hat. "Holzbioenergie macht 2,7 Prozent des im Süden der USA geernteten Holzes aus und ergänzt die Primärwald-Produkte wie Sägeholz, Papier und die weiterverarbeitende Industrien für Baustoffe, Möbel und Papier", schreibt Blake Hudson. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass diese Zahl frei erfunden wurde, selbst wenn Professor Hudson in einem Naheverhältnis zur U.S. Industrial Pellet Association steht.
Trotz dieser Tatsachen behauptet Professor Norton unablässig: "Das Konzept der 'Kohlenstoffneutralität' ist eine grobe Falschdarstellung der CO2-Bilanz der Atmosphäre." Er weist darauf hin, dass darauf schon wiederholt hingewiesen wurde - eine Art Kreislaufwissenschaft mit geringer Lösungskompetenz für die eigentlichen Probleme des Waldes und des Klimas. Eine Variation des Themas ist die Aussage: "Holzbiomasse enthält weniger Energie als Kohle, so dass die CO2-Emissionen für die gleiche Energieleistung höher sind".
Diese Aussage ist natürlich richtig, wenn man lediglich die Energiedichte vergleicht. Die Aussage ignoriert jedoch, dass fossile Energieträger über Millionen Jahre gebundenes CO2 frei setzen, während Biomasse aus einer Kreislaufwirtschaft stammt, in der laufend Kohlenstoff abgegeben und aufgenommen wird. Damit macht sich Professor Norton - bewusst oder unbewusst - zum Anwalt der Kohleindustrie und zum Vorreiter der Kampagne #stopfakerenewables, die behauptet: "Ein Bericht der Europäischen Kommission kommt zu dem Schluss, dass ein Großteil der Waldbiomasse mehr Treibhausgasemissionen verursacht als Kohle, Öl und Gas."
Sogar das Umbeweltbundesamt UBA hält fest, es werde "vereinfacht angenommen", die energetische Nutzung von Holz sei "CO2-neutral": "Für eine vollständige Betrachtung müssen z. B. auch Emissionen berücksichtigt werden, die bei Holzernte, Transport und Herstellung der Holzbrennstoffe (z. B. Hackschnitzel oder Pellets) entstehen. Auch sollte bei der energetischen Nutzung von Frischholz der nicht mehr zur Verfügung stehende Kohlenstoffspeicher im Wald in die Betrachtung mit einbezogen werden."
"Nach derzeitigen internationalen Abkommen wird zurzeit nur der Produktspeicher als Beitrag des Forst- und Holzsektors zum Klimaschutz angerechnet. Die Produktsubstitution wird als Abnahme im Verbrauch fossiler Brennstoffe registriert, aber nicht als solche ausgewiesen, oder gar zugunsten der Forst- und Holzwirtschaft angerechnet", so die Autoren des Artikels.
Abgesehen davon, dass die Gewinnung aller Rohstoffe zur Energiegewinnung wiederum Energie für Förderung, Produktion und Transport benötigt, wird der Verlust des "nicht mehr zur Verfügung stehende Kohlenstoffspeicher" vollständig im Kapitel LULUCF eingerechnet. Umgekehrt findet sich aber in keiner CO2-Bilanz, wie viel die Nutzung von Holz an anderer Stelle einspart, wie Professor Schulze bemerkt: "Nach derzeitigen internationalen Abkommen wird zurzeit nur der Produktspeicher als Beitrag des Forst- und Holzsektors zum Klimaschutz angerechnet. Die Produktsubstitution wird als Abnahme im Verbrauch fossiler Brennstoffe registriert, aber nicht als solche ausgewiesen, oder gar zugunsten der Forst- und Holzwirtschaft angerechnet".
Auch wenn man mit komplexen buchhalterischen Methoden eine Abgrenzung des CO2-Ausstoßes nach Ort und Zeit vornehmen würde, selbst wenn man davon ausgeht, dass der Anteil der Holzbiomasse zur Energiegewinnung in den nächsten Jahren zunehmen wird, so wird auch mittelfristig nur ein geringer Teil des Gesamtvolumens des wirtschaftlich verwerteten Holzes davon betroffen sein.
2. Das Naturschutz-Argument
Pelletproduktion gefährdet Biodiversität, die nur durch unberührten Wald geschützt werden kann.
Man muss Vogelschützern zugestehen, dass sie gefährdete Arten bewahren wollen, die nur in einem Urwald überleben können. So ist es verständlich, wenn BirdLife, Robin Wood und WWF gemeinsam an den Vizepräsidenten der EU-Kommission, Frans Timmermans, schreiben: "Solange die EU ihre Politik im Bereich der Bioenergie nicht ernsthaft reformiert, wird diese Politik unsere Klima- und Biodiversitäts-Ziele sowie unser Engagement für nachhaltige Entwicklungsziele weiterhin untergraben und dem internationalen Ruf der EU schweren Schaden zufügen."
In einem Brief an EU-Kommissions-Präsidentin von der Leyen verschärfen die Umweltschutzorganisationen ihre Argumente: "Die billigste und effektivste Klima-Lösung besteht darin, Wälder älter werden zu lassen und den Holzeinschlag insgesamt zu reduzieren. Natürliche Wälder, die altern dürfen, wirken wie eine Kohlenstoffbank, während die Verbrennung von Waldbiomasse zur Energiegewinnung die Wälder effektiv in 'neue Kohle' verwandelt." Diese Darstellungen sind zwar einseitig und zuweilen aggressiv - aber das entspricht den gängigen Methoden von NGOs zur Erreichung ihrer Ziele.
Dass jedoch hunderte internationale Wissenschafter einen Brief verfassen, um mit den gleichen vereinfachenden Argumenten auf Spitzenpolitiker von den USA über Europa bis Asien einzuwirken, ist ernsthaft zu hinterfragen. Um die Kohlenstoffneutralität bis 2050 zu erreichen, empfehlen die Wissenschafter einleitend: "Die Erhaltung und Wiederherstellung von Wäldern sollten Schlüssel-Instrumente sein, um dieses Ziel zu erreichen und gleichzeitig unsere globale Biodiversitätskrise zu bewältigen. Wir fordern Sie dringend auf, sowohl die Klimaziele als auch die biologische Vielfalt der Welt nicht zu unterminieren, indem Sie dazu übergehen, statt fossiler Brennstoffe Bäume zu verheizen, um Energie zu gewinnen." Am Ende appellieren sie an die Machthaber: "Bäume sind wertvoller lebendig als tot, sowohl für das Klima als auch für die Biodiversität. Um die zukünftigen Null-Emissions-Ziele zu erreichen, sollten Ihre Regierungen daran arbeiten, Wälder zu erhalten und wiederherzustellen anstatt sie zu verbrennen."
Unter diesen Wissenschaftern sind nur wenige Forstexperten zu finden. Der Feuerteufel, den sie an die Wand malen, tritt jeden Sommer bei zahlreichen Waldbränden rund um den Globus in Erscheinung. Nachhaltige Forstwirtschaft, die leicht entflammbares Totholz entfernt und zu Biomasse verarbeitet, kann dazu beitragen, solch sinnlosen Flammenmeere zu vermeiden. Naturschutz ist nicht nur das, was "Forest Defenders" und "BirdLife" darunter verstehen. Diversität braucht auch der Wald selbst. Der Forstwirt Martin Bentele betont, dass auch die Wälder stärkere Vielfalt brauchen, um den Herausforderungen des Klimawandels gewachsen zu sein. Während über viele Jahrhunderte Monokulturen dominierten, muss Aufforstung heute für mehr Vielfalt des Waldes sorgen.
Die im Kapitel 7 ausführlich zitierte JRC-Studie bringt viele Gründe für die intensive Nutzung der Holzbiomasse, die "an der Schnittstelle von zwei der wichtigsten Umweltkrisen des 21. Jahrhunderts steht: Biodiversität und Klimakatastrophen. Holzbasierte Bioenergie hat das Potenzial, einen Teil der Lösung für beide Krisen zu liefern, aber nur, wenn Biomasse nachhaltig erzeugt (und effizient genutzt) wird." Die nachhaltige Nutzung des Waldes als conditio sine qua non wird den Waldbesitzern wohl niemand absprechen. Zum besseren Verständnis von Nachhaltigkeit wäre aber notwendig, wenn die Wissenschafter des JRC auch jene Bereiche in ihrer Forschung berücksichtigen würden, die sie bislang ausgeblendet haben.
Ausgeblendet werden nach eigenen Angaben der Studien-Autoren Aspekte, "die eine umfassendere Nachhaltigkeit der Bioenergie charakterisieren, wie die Rolle der Bioenergie bei der Stabilisierung des Stromnetzes; Energiesicherheit; Entwicklung des ländlichen Raums, Einkommen und Beschäftigung; andere Umweltauswirkungen wie Luftverschmutzung; andere Klimaverschärfer, die nicht relevant für die Treibhausgase sind." Diese Liste ließe sich fortsetzen, würden die Wissenschafter einen Blick auf die Seite der CEPF (Confederation of European Forest Owners) werfen.
Rund 16 Millionen Waldbesitzer bewirtschaften in der Europäischen Union 60 Prozent der Wälder, das sind etwa 106 Millionen Hektar. Bis heute sind das meist Familienbetriebe oder Kooperativen. Diese Menschen sichern nicht nur ihren eigenen Arbeitsplatz, sondern bieten anderen Menschen kostenlosen Erholungsraum inklusive privater Versorgung mit Pilzen und Beeren, sorgen für sauberes Trinkwasser, das oft in Großstädte geleitet wird, kämpfen gegen Borkenkäfer, beseitigen Waldschäden und liefern den Rohstoff für die vielfältige Holzwirtschaft. Und nicht zuletzt leisten sie einen Beitrag zur Produktion von Wärme und Energie.
AGDW, Deutschlands Vertretung in der CEPF, verweist auf ein interessantes Detail: "Die EU hat keine Rechtskompetenz in der Forstpolitik, daher gibt es keine gemeinsame EU-Forstpolitik. Angesichts der Tatsache, dass die Waldökosysteme, ihre Bewirtschaftung und die forstbasierte Industrie in ganz Europa so unterschiedlich sind, fällt die Forstpolitik in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Doch eine breite und zunehmende Anzahl von Entscheidungen aus anderen Politikbereichen, wie beispielsweise Umwelt, Klima, Energie, Landwirtschaft oder Handel, wirkt sich mittlerweile direkt auf die deutschen und europäischen Waldbesitzer aus. Diese Entscheidungen sind häufig inkonsistent oder sogar widersprüchlich, daher können sie die Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit des Forstsektors beeinträchtigen."
JRC-Wissenschafter definieren ihren Auftrag so: "Wissen schaffen, managen und erklären um die Politik mit unabhängiger Evidenz zu versorgen". Das klingt nach "Fakten schaffen", die dazu geeignet sind, auf die Waldbesitzer und ihre unabhängigen Betriebe über den Umweg der Energiepolitik Einfluss zu nehmen. Sie sind damit keine "reinen Wissenschafter", sondern auch Interessenvertreter. Die Interessen der Autoren liegen offensichtlich auf Seiten der EU-Administration und nicht auf Seiten von 16 Millionen kleinen Waldbesitzern. Die JRC-Studie hat den transparenten Nachweis erbracht, dass sich "die gesamte Waldfläche der EU seit 1990 stetig ausgedehnt" hat, um dann die nebulöse Warnung auszusprechen, die Zahlen könnten auf ungenauen Statistiken basieren. Es ist nicht evident, wie so eine Empfehlung zu einer "unabhängigen Evidenz" beitragen kann.
3. Das ästhetische Argument
Waldrodungen sind schlecht, weil sie hässlich sind; der beste Weg, die schönen Wälder zu schützen, liegt darin, diese der Natur zu überlassen.
Es ist skurril, wenn WWF und Co. ihrem Brief an Frans Timmermans acht Fotos beilegen, davon zwei gerodete Waldflächen, die gerade mal ein paar Hektar zeigen und aus der Froschperspektive aufgenommen wurden. Würde man nämlich die Vogelperspektive wählen, wäre leicht erkennbar, dass sich dahinter tausende Hektar gesunden Waldes befinden. Ein anders Bild zeigt laut Bildunterschrift: "LKW mit Rundholz beladen vor der Einfahrt zur Enviva-Biomasseanlage in Ashokie, die Holzpellets herstellt und in die EU exportiert. North Carolina, 2017". Sogar ein Laie kann erkennen, dass es sich dabei um krumme Stämme unterschiedlicher Stärke und zum Teil sogar mit verfaultem Kern handelt. Das ist offenbar weder dem investigativen Fotografen, noch irgend einem Schreibtischtäter von WWF und Co. aufgefallen.
Fotos gerodeter Waldflächen, wo schwere Fahrzeuge ihre Spuren hinterlassen haben, stehen exemplarisch dafür, was Framing bedeutet und wie einfach es funktioniert. Man braucht solche Fotos nicht einmal zu fälschen, was dank Photoshop bereits zum Kinderspiel geworden ist. Man braucht nur den richtigen Ausschnitt zu wählen, der die gewünschten Emotionen weckt. Ein Frame kann letztlich gleichgesetzt werden mit dem Ausschnitt, der sich innerhalb des Bilderrahmens befindet. Im Bilderrahmen kann natürlich auch ein Film spielen, oder ein Narrativ, das auf ein ganz bestimmtes Thema lenkt (und von einem anderen ablenkt). Der Inhalt des Framings ergibt sich somit aus der Wirkung, die man erzielen will.
Diese Methode kann auch zum Verständnis beitragen, was Ludwig Wittgenstein mit der Formulierung "Ethik und Ästhetik sind Eins" (Tractatus logico-philosophicus, 6.421) gemeint haben könnte. Das hässliche Bild einer gerodeten Waldfläche muss moralische Entrüstung auslösen. Naturwissenschafter könnten ihre moralische Entrüstung für ein ethisches Urteil halten - mangels differenziertem Verständnis von Moral und Ethik. Es gibt viele Moralen, aber nur eine Ethik. Die Entrüstung kann ein moralisches Verhalten sein, als ethisch kann man nur ein Urteil bezeichnen, das imstande ist zu erklären, warum ein Bild den Betrachter entrüstet und warum es ausgewählt wurde, diesen Zweck zu erfüllen. Wittgenstein formuliert in diesem Sinne: "Die Ethik ist transzendental" (im Sinne Kants: metaphysisch). Ob im politischen oder im wissenschaftlichen Diskurs: Entrüstung kann selten zur Abrüstung beitragen, eher trägt sie zur Aufrüstung bei.
Die Autoren der JRC-Studie "The use of woody biomass for energy production" sind keine Philosophen, sondern Naturwissenschafter. Sie sind somit Theoretiker; der Begriff "Naturwissenschaft" impliziert "Theorie" bzw. "Theoriebildung" - das ist evident. Dass die Wissenschafter - tätig im Auftrag der EU - auch Interessenvertreter sind, ist empirisch in vielen Fällen nachweisbar, aber nicht evident. Evident kann nur sein, was in einem Begriff bereits inkludiert ist, und Interessenvertretung ist bislang kein impliziter Teil des Begriffes "Wissenschafter", auch wenn die Interessenvertretung immer häufiger von Auftraggebern wissenschaftlicher Studien verlangt wird. Noch schlimmer, wenn diese nicht explizit verlangt, sondern implizit vorausgesetzt wird. Das ethische Grundproblem ist die Intransparenz. Die Ethik muss die Frage beantworten, wie intransparente Praktiken in den Wissenschaften möglich sind und warum sie von Wissenschaftern nicht abgelehnt werden.
Abgesehen von den ethischen Fragen steht auch die wissenschaftliche Exaktheit auf dem Prüfstein. Primärholz wird in der JRC-Studie zunächst definiert als "Holzbiomasse, die direkt aus Wäldern oder außerhalb von Wäldern entnommen wird, ohne weitere Behandlungen oder Umwandlungen"; zum anderen als Synonym für Rundholz verwendet: "Holz, inklusive Äste, Wurzeln, Stümpfe und Rinde, das gespalten als Brennholz oder zur Herstellung von Holzkohle verwendet wird". Sekundärholz sind "Nebenprodukte der Holzverarbeitung wie Sägespäne, Hackschnitzel oder Schwarzlauge, die bei der Erzeugung von Zellulose entsteht, sowie Rinde und Post-Consumer-Holz". Einschlag (fellings) ist das Volumen aller gefällten, lebenden oder toten Bäume aller Durchmesser, inklusive Rinde, während einer vorgegebenen Periode. Entnahmen (removals) - das Volumen aller lebenden oder toten Bäume, die aus dem Wald entfernt wurden, inklusive Nicht-Stammholz wie Stümpfe und Äste, Schadholz und natürliche Verluste (Feuer, Sturm, Insekten).
Die Grafik der Waldentwicklung in den EU-Ländern zeigt den jährlichen Bruttozuwachs von 1.099 Millionen m3. Abzüglich Einschlag und natürlicher Mortalität verbleibt eine jährliche Nettodifferenz von 355 Millionen Kubikmeter. Wie die Grafik zeigt, wird der Einschlag jedoch nur vom lebenden Zuwachs abgerechnet, während die Definition von "Einschlag" das Volumen aller gefällten, lebenden oder toten Bäume inkludiert und "Entnahmen" ebenso lebende und tote Bäume betreffen. Der Balken "Fellings" müsste daher deutlich weiter nach links rücken, unter das Feld "Natural Mortality", womit die Nettodifferenz entsprechend höher ausfallen würde. Anders gesagt: Totholz als Bestandteil der Holzbiomasse fehlt in der Betrachtung der JRC-Studie. Das ist keine Ausblendung von "nebensächlichen" Themen wie wirtschaftliche Nachhaltigkeit, das ist ein essenzielles wissenschaftliches Manko: Mangel an Genauigkeit.
Die Autoren der JRC-Studie über ihre Intention: "Dieser Bericht und die künftigen Forschungsrichtlinien verweisen auf den Fokus zur Erweiterung der Evidenzbasis, die den Entscheidungsträgern zur Verfügung stehen soll." Wenn man den Begriff "evident" umgangssprachlich mit "offenkundig" oder "unmittelbar einsichtig" übersetzt, so ergibt es keinen Sinn, wenn ein rieisger Apparat von JRC-Wissenschaftern seine Arbeit auf die "Erweiterung der Evidenzbasis" ausrichtet. Wenn man den Begriff philosophisch betrachtet, gilt das umso mehr. Evident im philosophischen Sinne sind Begriffe a priori oder analytische Urteile. Solche Aussagen und Urteile sind niemals empirisch sondern metaphysisch: die Bedingung der Möglichkeit jeder (empirischen) Erkenntnis. Einfacher gesagt: evident können nur Voraussetzungen (Prämissen, Axiome) von Forschungshypothesen sein, niemals ihre Schlussfolgerungen.
Abschließend heißt es: "Unterschiede in ethischen Werten in Bezug auf die Interaktion zwischen Mensch und Natur spielen eindeutig eine Rolle bei der Definition dessen, was 'nachhaltig' bedeutet. Wir sind der Meinung, dass diese Werteunterschiede auch innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft ausdrücklich anerkannt und diskutiert werden sollten, um die Debatte über die Nachhaltigkeit der holzbasierten Bioenergie zu entgiften." Es ist erfreulich, dass unterschiedliche Werte diskutiert werden sollen, doch unerfreulich ist, dass exakte Wissenschafter umgehend nebulöse Sätze formulieren, wenn sie den Boden der Ethik betreten. "Unterschiede in ethischen Werten [...] spielen eindeutig eine Rolle bei der Definition von 'nachhaltig'."
Wenn diese Unterschiede eine so eindeutige Rolle spielen, warum werden sie von den Autoren der JRC-Studie nicht offengelegt? Hier ein Versuch, die Unterschiede zu benennen: "Forest-Defenders" betrachten den Wald als Naturlandschaft. Dies trifft auf kleine Teile der Wälder dieser Welt zu, die als Naturschutzgebiete ausgezeichnet sind. Als höchster Wert für diese Wälder gilt ihre Unberührtheit. Die Forst- und Holzwirtschaft betrachtet den Wald jedoch als Kulturlandschaft. Ihr höchster Wert ist die Nachhaltigkeit im Sinne von Hans Carl von Carlowitz. Dank der Vielfalt der Wälder können beide Werte gut miteinander, nebeneinander und ineinander leben.
Abschließend eine "ästhetische Anekdote", die zeigt, wie praxisfern JRC-Wissenschafter tatsächlich sind. In der180-Seiten umfassenden Studie sucht man nach den in der Wirtschaft üblichen Begriffen "timber" und "lumber" vergeblich. Im Glossar der Untersuchung wird lediglich der sperrige Begriff "sawnwood" definiert: "Holz mit einer Dicke von mehr als 6 mm, das aus Rundholz hergestellt wurde."
Paradigma Klimawandel
Das Thema Pellets war der ursprüngliche Rahmen dieses Buches, der nach ersten Recherchen erweitert wurde auf das Thema Holz-Biomasse als Teil des Kreislaufsytems Wald. Biomasse als Teil der Energiegewinnung, wovon Wärmeenergie ein Segment darstellt, fand sich als nächst größerer Frame. Mit dem Thema Energiewende hat insbesondere in Deutschland ein Reframing stattgefunden; in Deutschland ist das Thema Energie außerhalb des Frames der Energiewende nicht mehr denkbar. Doch über all dem steht der Mainframe Klimawandel, ein Paradigma, das heute weitgehend außer Zweifel steht.
Das Paradigma des Klimawandels laut wikipedia: "Die gegenwärtige globale Erwärmung oder Erderwärmung (umgangssprachlich auch "der Klimawandel") ist der Anstieg der Durchschnittstemperatur der erdnahen Atmosphäre und der Meere seit Beginn der Industrialisierung. Es handelt sich um einen anthropogenen (= menschengemachten) Klimawandel, da er hauptsächlich auf Aktivitäten der Energie-, Land- und Forstwirtschaft, Industrie, im Verkehrs- und Gebäudesektor zurückzuführen ist, die Treibhausgase emittieren."
"Land Bindestrich Forstwirtschaft" ist in Hinsicht auf die Treibhausgase nur dann eine zulässige Gleichung, wenn man Brandrodung zur Gewinnung landwirtschaftlicher Nutzflächen als "Forstwirtschaft" bezeichnet. Abgesehen von schwer belehrbaren aber leicht bestechlichen Machthabern von Brasilien bis Indonesien versteht man in großen Teilen der Welt unter "Forstwirtschaft" eine Form der Bewirtschaftung, bei der Fällungen durch Aufforstung ausgeglichen oder mehr als ausgeglichen werden. Darüber hinaus unternimmt nachhaltige Forstwirtschaft alles, um die Wälder vor Schädlingen zu schützen und die Folgen von Naturkatastrophen so schnell wie möglich zu beseitigen.
Das Paradigma des Klimawandels könnte auch als "wiceked problem" (bösartiges Problem) bezeichnet werden. Die Stadtplaner Melvin Webber und Horst Rittel prägten Mitte der 1960er Jahre diesen Begriff. Damit beschrieben sie Probleme, deren Lösung nicht in linearen Schritten von der Planung bis zur Umsetzung erfolgen kann, weil jeder Lösungsansatz wieder neue Fragen aufwirft und jede Umsetzung eines Vorschlages wieder neue Probleme verursacht. Der Klimawandel ist in diesem Sinne ein "super wicked problem".
Super wicked problem
Zum besseren Verständnis dieses super wicked problems könnte beitragen, das Paradigma in drei Hauptthesen aufzuschlüsseln:
These 1: Der Klimawandel wurde verursacht durch die Verbrennung fossiler Rohstoffe in den vergangenen zwei Jahrhunderten.
These 2: Der Ausstoß von jährlich 51 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalenten kann durch neue Technologien, insbesondere Erneuerbare Energie und Carbon Capture and Storage (CCS) auf null reduziert werden.
These 3: Die Politik muss durch die richtigen Rahmenbedingungen (Gesetze und Förderungen) sicherstellen, dass diese Ziele erreicht werden.
Wer heute These 1 in Frage stellt, wird als "Klimaleugner" abgestempelt. Diese Form der Diffamierung ist üblich, aber nicht wissenschaftlich. In jeder Wissenschaft muss es möglich sein, jede These in Frage zu stellen. "Alternativlos" kann niemals zu Kategorie einer These werden, auch wenn eine These von "hoher Evidenz" ist. Es ist aber auch nicht konstruktiv, ständig jede These in Frage zu stellen, insbesondere wenn dies zur Taktik oder sogar zur Strategie wird.
David Michaels hat in "Doubt is Their Product" aufgedeckt, wie US-Konzerne bewährte Thesen oder Methoden als "junk science" verunglimpfen. "Der Zweifel ist unser Produkt, da es das beste Mittel ist, um mit dem 'Körper der Tatsachen' zu konkurrieren, der im Kopf der Öffentlichkeit existiert", war bereits Ende der 1960er Unternehmensphilosophie und Marketingkonzept von R. J. Reynolds Tobacco. "In den letzten Jahren haben viele andere Branchen diese Strategie eifrig übernommen. Unternehmen haben Kampagnen aufgezogen, um Studien in Frage zu stellen, die die nachteiligen gesundheitlichen Auswirkungen bei der Anwendung von Beryllium, Blei, Quecksilber, Vinylchlorid, Chrom, Benzol, Benzidin, Nickel und einer langen Liste anderer giftiger Chemikalien und Medikamente dokumentieren", schreibt Michaels.
Während der Präsidentschaft von George W. Bush wurden die Möglichkeiten der Konzerne, auf politische Entscheidungen und Gesetze Einfluss zu nehmen, durch den scheinbar harmlosen Data Quality Act (DQA) massiv erweitert. DQA wurde in einer Nacht- und Nebelaktion 2001 ohne Debatte im Kongress eingeführt. Damit sollen Richtlinien zur "Gewährleistung und Maximierung der Qualität, Objektivität, Nützlichkeit und Integrität von Informationen" entwickelt werden - was durchaus vernünftig klingt. "In der Praxis nutzen Industriegruppen die DQA jedoch, um Regulierungsversuche zu verlangsamen oder zu stoppen, indem sie wissenschaftliche Berichte untergraben. Es wurde von Lobbys der Ölindustrie benutzt, um den Bundesbericht über die globale Erwärmung zu diskreditieren; von Interessensgruppen der Lebensmittelindustrie, um die Ernährungsrichtlinien der Weltgesundheitsorganisation anzugreifen, die eine geringere Zuckeraufnahme empfehlen, um Fettleibigkeit zu verhindern; und vom Salt Institute, um die Empfehlung der National Institutes of Health in Frage zu stellen, dass Amerikaner ihren Salzkonsum reduzieren sollten", schreibt Michaels.
Jede wissenschaftliche These ist eine Setzung. Eine weitere Fest-Setzung ist es, diese außer Streit zu stellen. Dies aber ist kein wissenschaftlicher, sondern ein politischer oder moralischer Akt. Diese Fest-Setzung ist nicht mit "richtig oder falsch", sondern mit "gut oder schlecht" zu begründen. Es kann gut und oft sogar politisch notwendig sein, eine These außer Streit zu stellen, wenn sich ein Sachverhalt in eine Richtung entwickelt, die schädliche Auswirkungen auf die Menschheit und die Umwelt hat. Der Klimawandel ist so ein Sacherhalt.
These 2 impliziert die technische Machbarkeit, These 3 die politische Machbarkeit. Machbarkeit hat mit Macht zu tun, das Machbare auch zu verwirklichen. Macht ist die Bedingung der Möglichkeit das Machbare zu verwirklichen.
Technische Machbarkeit wird heute üblicher Weise in Machbarkeitsstudien untersucht, die zwischen Idee, Planung und Verwirklichung stehen. Ob Produkte gut oder schlecht sind, entscheidet der Markt - sofern das Ideal einer freien Marktwirtschaft tatsächlich existiert. Politische Machbarkeit ergründen Meinungsforscher im Auftrag von Parteien; Interessenverbände wie NGOS und Lobbyisten versuchen darauf Einfluss zu nehmen. Am Ende nimmt jede Entscheidung über die Machbarkeit die Form eines Gesetzes an und die Wähler verifizieren oder falsifizieren die Gesetze durch Bestätigung oder Abwahl der verantwortlichen Parteien - sofern diese Prozesse in einer echten Demokratie stattfinden.
These 2 und 3 in Frage zu stellen, bedeutet demnach nicht, hunderte einzelne Projekte und Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels in Frage zu stellen, oder gar gegen eine Klimaschutzmaßnahme massive Kampagnen zu inszenieren. Die beiden Thesen in Frage zu stellen, bedeutet, den Glauben an die Machbarkeit und Planbarkeit in Frage zu stellen. Neben Wissenschaftsgläubigkeit und Technnologiegläubigkeit - die für die Fortschritte der Menschheit im 20. Jahrhundert verantwortlich waren - tritt nun im 21. Jahrhundert eine neue Form der Politikgläubigkeit.
Politikgläubigkeit manifestierte sich bis ins 19. Jahrhundert als Glaube an die absolute Macht der Monarchen und den Glauben, dass das Schicksal jedem Menschen seinen unverrückbaren Platz in der Gesellschaft zugeschrieben hat. Politikgläubigkeit im 20. Jahrhundert definierte sich positiv im Glauben an demokratische Entscheidungsfindungen, die auch als Streit um die besten Ideen und Programme ausgetragen wurden; innerhalb der demokratischen Staaten zwischen den Parteien, oder zwischen Unternehmern und Gewerkschaften; international zwischen den Systemen Kommunismus und Kapitalismus. Politikgläubigkeit im 21. Jahrhundert definiert sich ex negativo als Politikverdrossenheit der Wähler, die glauben, man könne auf die Politik keinen Einfluss mehr nehmen; Kehrseite dieser Medaille sind die demokratisch nicht legitimierten, aber kapitalkräftigen "Philanthropen", die sich sicher sein können, dass sie mit ihren nahezu grenzenlosen Mitteln jeden gewählten Repräsentanten dieser Welt beeinflussen können.
Dass Wissenschaft und Technik imstande sind, die Technologien zu schaffen, mit denen alle Produkte und Wirtschaftsprozesse künftig CO2-neutral hergestellt und umgesetzt werden können, darf außer Streit gestellt werden. Wenn nicht bis 2050, dann vielleicht bis 2100.
"Die Politik"
Dass "die Politik" die Rahmenbedingen für die CO2-Reduktionen schaffen soll, darf aber bezweifelt werden. Die Frage muss erlaubt sein ob "die Politik" das überhaupt kann, und wenn sie es kann, ob sie es darf, auch wenn damit Grundrechte gefährdet und verletzt werden. Die Annahme, dass "die Politik" Rahmenbedingungen setzen kann, die Planziele mit 10, 15 oder sogar 30 Jahren ins Auge fassen, übersteigert die Methoden der Planwirtschaft, wie sie in der Sowjetunion praktiziert wurden und letztlich gescheitert sind. Der Duktus vieler Studien über die Maßnahmen gegen den Klimawandel lässt wenig Spielraum für demokratische Abstimmungen über die vorgegebenen Ziele. Diese Studien lassen auch wenig Zweifel daran, dass die Klimaprobleme global gelöst werden müssen. Da ist kein Platz für eigene Entscheidungen einzelner Länder.
"Die Politik" ist aus Sicht jener, die sich der Agenda des Klimawandels mit Schlagworten wie "Zero Carbon" und "Green Deal" verschrieben haben, eine globale Agenda, die über den demokratisch gewählten Regierungen dieser Welt steht. Demokratisch wäre ein gemeinsames Projekt als Ergebnis autonomer Entscheidungsprozesse in 200 Staaten dieser Welt. Die laufende Agenda, die wenig Rücksicht auf die spezifischen politischen Probleme der einzelnen Länder nimmt, wird von vielen Idealisten unterstützt, die dazu neigen, jegliche Möglichkeit negativer Folgewirkungen auszublenden. Für diese Idealisten ist der Mainframe Kllimawandel weltumspannend und als Weltbild allumfassend.
So sehr jeder vernünftige Mensch für den Klimaschutz sein muss, so wichtig ist es, nicht auf alle anderen Probleme unserer Zeit zu vergessen. Darunter auch wicked problems wie Hunger und Armut, die Schuldenkrise oder die zunehmende Tendenz zur Monopolbildung unter Ausnutzung des Systems der liberalen Marktwirtschaft; aber auch lösbare Probleme wie die Verschmutzung der Weltmeere ("Plastik Planet") - im Vergleich zum Klimawandel ein überschaubares und schneller lösbares Problem. Doch an der Spitze der Probleme dieses Jahrzehnts steht die massive Untergrabung der Fundamente unserer Demokratien. Die Gefahr, dass die Demokratien dieser Welt dieses Jahrzehnt nicht überleben, ist bedrohlicher, als die Gefahr, dass ein paar Länder dieser Welt Zero Carbon ein oder zwei Jahrzehnte später als geplant erreichen werden.
In Glasgow findet Anfang November 2021 der 26. UN-Klimagipfel statt. Schon bei der virtuellen Klimakonferenz der 40 wichtigsten Regierungschefs im April wurde klar, dass die Positionen weit auseinander liegen. Während die EU-Administration von ihren Mitgliedern "fit for 55" verlangt, d.h. der CO2-Ausstoß muss bis 2030 um 55 Prozent unter dem Wert des Jahres 1990 liegen, erklärt Chinas Staatschef Xi Jinping, sein Land werde 2030 mit der Reduktion der Schadstoffemissionen beginnen. China emittiert weltweit am meisten CO2. Mit Präsident Joe Biden ist die USA, hinter China der zweitgrößte CO2-Sünder, wieder "zurück in der Klima-Politik". Sein Vorgänger Trump ist bekanntlich aus der Pariser Vereinbarung ausgestiegen.
Der Klima-Wandel ist ein gigantisches Problem, vielleicht sogar ein "bösartiges" Problem. Aber auch die Lösungsansätze, die auf der Agenda von Glasgow stehen, könnten sich als "bösartig" entlarven. Wird der Fahrplan bis 2050 ohne Rücksicht auf demokratiepolitische Verluste durchgezogen, so könnte sich auch das Ergebnis als "bösartig" erweisen. In hundert Jahren werden Historiker vielleicht über den Ausbruch einer Ökodiktatur schreiben, wenn sie über die 2020er Jahre berichten. Diesen Wandel kann sich niemand wünschen. Diese Folge des Klimawandels kann nur verhindert werden, wenn es weiterhin demokratische Alternativen gibt!
SIEHE AUCH: Ausstellung „Into The Woods. Annäherungen an das Ökosystem Wald“ im Kunst Haus Wien untersucht, was an der These vom „Wood Wide Web“ dran ist. (ORF.at 18.4.2024)